Gilbert Louis Duprez als Gaston in Giuseppe Verdis Oper Jérusalem an der Oper Le Peletier in Paris, 1847 gezeichnet und koloriert von Alexandre Lacauchie (Foto: © Bibliothèque nationale de France, veröffentlicht in Paris von Maison Martinet-Hatecoeur als N° 401 in der Reihe Galerie Dramatique, Académie Royale de Musique)

Das hohe C des Tenors

Das Wunder Stimme und der Mythos vom hohen C

von Ute Elena Hamm

11. Juli 2021

Das hohe C des Tenors – Es scheint fern von allem Menschenmöglichen. Wie macht er das nur? Zum Glück mit weit geöffnetem Mund – eine Gelegenheit, einen Blick in dessen Innerstes zu werfen.

Er war der aller­erste „Ritter vom hohen C“: Gilbert-Louis Duprez. Mit diesem Spit­zenton läutete 1837 der Fran­zose in Rossinis Oper Wilhelm Tell eine neue Ära ein. Fortan war nicht nur dem hohen C, sondern auch dem Tenor eine erstaun­liche Karriere beschieden, die sowohl Ton als auch Mensch in den musi­ka­li­schen Olymp beför­derte. Ein Mythos war geboren. 

Ein Verschnitt aus Tenören und dem hohen C

Nicht nur der Tenor­stimme, sondern dem Gesang über­haupt haftet seit jeher etwas Geheim­nis­volles an. Gesang war schon immer nicht nur Kultur, sondern Kult und Kultus. Die Wissen­schaft aller­dings schreckt auch vor der Kunst nicht zurück, und die Stimm­phy­sio­logie hat sich daran gemacht, das Phänomen Gesang zu entzau­bern. Nach umfang­rei­chen Forschungen in Anatomie und Physio­logie, also in Bau- und Funk­ti­ons­weise des Stimm­ap­pa­rats, lautet die ernüch­ternde Fest­stel­lung: Tenöre sind durchaus von dieser Welt. Denn ihre Stimme funk­tio­niert zunächst einmal nicht anders als bei jeder Sängerin und jedem Sänger, noch nicht einmal anders als über­haupt bei jedem Menschen. Egal, ob Profis oder Laien singen oder spre­chen, Stimme entsteht dabei immer gleich.

Die Physio­logie beschreibt diesen Vorgang, die Phona­tion, im bewährten Drei­schritt-Modell: Erstens, die Atem­luft bestimmt Tonstärke und Tonlänge. Zwei­tens, sie versetzt zudem die Stimm­lippen im Kehl­kopf in Schwin­gung, deren Geschwin­dig­keit über die Tonhöhe entscheidet. Drit­tens, seine endgül­tige Gestalt bekommt der Ton erst ober­halb der Stimm­lippen in der Nasen‑, der Rachen- und der Mund­höhle, im Reso­nanz­raum. Damit hört sich der Ton nach mensch­li­cher Stimme bezie­hungs­weise nach einer bestimmten Stimme an. Hier entsteht das Timbre, und hier bekommt jeder einzelne Klang seinen Charakter.

Hoch, laut, hero­isch – ein hohes C versetzt das Publikum in Ekstase

Was eine Sprech­stimme von der Sing­stimme unter­scheidet, ist keine Frage der Physio­logie, sondern der Absicht – ob man singen, spre­chen oder sogar beides gleich­zeitig will. Das Wunder „Stimme“ macht es möglich. Aber wie wird aus ihr ein Stimm­wunder? Und mehr: Ein Tenor, der sogar einer Prima­donna den Rang ablaufen kann? Hoch, laut, hero­isch – so versetzt sein hohes C das Publikum in Ekstase und reißt es zu frene­ti­schen Begeis­te­rungs­stürmen hin. Was dahinter steckt ist Kunst und Können.

Das zwei­ge­stri­chene C ist, wenn der Tonum­fang von Tenören ange­geben wird, in der Regel der höchste Ton. Akus­tisch gesehen, hat es eine Frequenz von 523 Hertz. Zum Vergleich: Beim Spre­chen bewegen sich Männer stimm­lich etwa bei 100 bis 150 Hertz. Ein Tenor singt also nicht nur höher als seine männ­li­chen Sänger­kol­legen, sondern auch gene­rell in der Regel höher, als „Mann“ spricht. Und spätes­tens mit dem hohen C begibt er sich gänz­lich in andere Sphären. Wie er und wie gut er dahin kommt, ist eine Frage der Atmung und der Vorstel­lungs­kraft. Denn das komplexe Kehl­kopf­system aus Gelenken, Knor­peln und Muskeln, das über die Tonhöhe entscheidet, lässt sich nur indi­rekt steuern. Was beim Spre­chen im Alltag auto­ma­tisch und mühelos gelingt, erfor­dert beim hohen C viel Geschick und noch mehr Übung.

Fünf Formanten formen den Klang der Stimme

Den nötigen „Wums“ bekommt das hohe C mit der Laut­stärke. Vorher tief Luft zu holen, reicht bei weitem nicht. Was wir als laut empfinden, ist vor allem der Durch­schlag­kraft der Stimme geschuldet, mit der sie sich erfolg­reich gegen ein großes Orchester in einem noch viel größeren Saal behaupten kann. Trag­fähig wird ein Ton im Reso­nanz­raum, und tatsäch­lich hat diese Eigen­schaft auch viel mit seinem Klang zu tun. Je nach Stel­lung von Lippen, Zunge, Gaumen­segel, Kiefer und Kehl­kopf hört sich der Ton mal warm, mal metal­lisch, mal dunkel, mal hell an. Das hängt damit zusammen, dass der Reso­nanz­raum je nach Form und Größe andere Teil­be­reiche des Klangs verstärkt. Diese Bereiche werden Formanten genannt und insge­samt fünf machen die mensch­liche Stimme klang­lich zu dem, was sie ist. Das Geheimnis hinter ihrer Trag­fä­hig­keit liegt bei den Formanten Nummer drei bis fünf. Auf deren Wirkung greift ein Tenor, bezie­hungs­weise jeder männ­liche Sänger, nicht nur zurück, sondern verviel­facht sie. Denn je geschickter er den Reso­nanz­raum von den Lippen bis zum Kehl­kopf formt, desto näher rücken diese drei Formanten zusammen und poten­zieren so die Strahl­kraft des Tons, der dann mit durch­schla­gendem Erfolg auch den Zuhörer in der letzten Reihe umwirft.

Stimm­tech­ni­sche Sensa­tion oder Schrei eines ster­benden Kapauns?

Fehlt nur noch eins: das Heroi­sche beim hohen C. Die Geburts­stunde dieses sagen­um­wo­benen Tons fällt nicht zufällig ins 19. Jahr­hun­dert. Während bis dahin ein leichtes Klang­ideal bei der Stimme vorherrscht, wird nun zuneh­mend nach einem neuen volu­mi­nö­seren Stimm­typus verlangt. Von nun an wird bis heute – auch wenn das nicht mehr ganz state of the art ist – vor allem zwischen lyri­schen und drama­ti­schen Stimmen unter­schieden. Auch beim Tenor – und das hat die alles entschei­dende Auswir­kung auf das hohe C. Wer schon einmal versucht hat, eine Tonleiter von unten nach oben zu singen, hat wahr­schein­lich den „Bruch“ bemerkt – schon lange vor dem hohen C. Hier geht natür­li­cher­weise die schwe­rere Brust- in die leich­tere Kopf­stimme über, was der geübte Sänger unmerk­lich mit dem soge­nannten Passagio ausgleicht.

Für einen lyri­schen Tenor ist deshalb das hohe C (fast) kaum der Rede wert, weil er es „natür­lich“ mit einem hohen Kopf­stim­men­an­teil singt. Das klingt zwei­fels­ohne toll – aller­dings ganz und gar nicht helden­haft. Was Gilbert-Louis Duprez in Paris präsen­tiert hatte, ist bis heute eine stimm­tech­ni­sche Sensa­tion und Maßstab für jeden Helden­tenor: ein hohes C in der Brust­stimme. Wem das gelingt, der wird mitsamt Ritter­schlag schnur­stracks in den Sänger­himmel kata­pul­tiert. Drama­ti­scher Klang und exor­bi­tante Höhe – wir verstehen: Hier wird die Stimm­phy­sio­logie auf mythi­sche Weise (fast) außer Kraft gesetzt.

Ob Können auch Kunst ist, ist aber manchmal doch Ansichts­sache. Denn was dem einen die Stimme entgrenzt, sprengt dem anderen das Ohr. Duprez’ stimm­li­cher Exkurs erin­nerte Rossini damals an den „Schrei eines Kapauns, dem die Kehle durch­ge­schnitten wird“ – nicht unbe­dingt das, was „Mann“ von sich in der Zeitung lesen will.

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Ein Porträt von Enrico Caruso unter: CRESCENDO.DE

Ein Gespräch mit Klaus Florian Vogt unter: CRESCENDO.DE

Fotos: Bibliothèque nationale de France, veröffentlicht in Paris von Maison Martinet-Hatecoeur als N° 401 in der Reihe Galerie Dramatique, Académie Royale de Musique