Vladimir Jurowski
Die Suche nach den inneren Feinden
von Ruth Renée Reif
13. November 2022
Der Dirigent Vladimir Jurowski war zu Gast im Rahmen der Tagung »Deutschland und Osteuropa – auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Ostpolitik«, die von 11. bis 13. November 2022 von der Evangelischen Akademie Tutzing veranstaltet wurde.
„In der heutigen Welt können wir nicht sagen: Wir sind einfach nur Musiker und spielen Musik“, lautete das Motto, unter dem der Dirigent Vladimir Jurowski in einem Podiumsgespräch mit Sybille Giel vom Bayerischen Rundfunk aus seinem Leben erzählte und von seinen Erfahrungen berichtete. Die Evangelische Akademie Tutzing hatte zu einer Tagung zum Thema „Deutschland und Osteuropa“ an den Starnberger See geladen.
Nach Deutschland zu kommen, sei für ihn wie eine zweite Geburt gewesen, schwärmt Vladimir Jurowski. 18 Jahre sei er alt gewesen und zwölf Jahre lang habe er wegen seiner Wehrpflicht fortan nicht zurückgedurft. Die Armee der Russischen Föderation sei damals in Afghanistan stationiert gewesen, und er habe nicht zur Armee gewollt. Nach diesen zwölf Jahren sei er häufig nach Russland gereist und habe wichtige künstlerische Freundschaften geschlossen. Diese seien dann allerdings hinter dem „neuen Eisernen Vorhang“ verschwunden.
Als einen „Bruch“ empfinde Jurowski den Beginn des Krieges zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine. Für ihn beginne damit die zweite Hälfte des Lebens, erläuterte er in Anlehnung an Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens. Nach allem, was er seit dem 24. Februar 2022 über den Krieg gesagt habe, könne er nicht mehr nach Russland reisen. Bis dahin hatte Jurowski als Künstlerisches Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchester Russlands immer wieder in Moskau gastiert. Doch wie er betont, gelte, wer die „spezielle Militäroperation“, wie die offizielle russische Bezeichnung für den Angriffskrieg lautet, nicht unterstütze, als Feind.
Zudem verbreite die Mobilmachung der Männer Angst, wie Jurowski berichtet. Er wisse von einigen, die direkt von ihrem Arbeitsplatz an die Front geschickt worden seien. Jurowski vergleicht ihre Situation mit der der Soldaten in Afghanistan. Sie hätten gar nicht gewusst, wer ihre Feinde seien. Wie viele russische Soldaten in der Ukraine gefallen seien, könne niemand beantworten. Denn die Propagandamaschinerie fahre auf Hochtouren.
Die Musik habe der Krieg und seine Propaganda von allen Künsten als letzte getroffen, führt Jurowski aus. Und er erzählt, wie es einem heute ergehe, wenn man ein Werk von Valentin Silvestrov aufs Programm setze. Die Lage erinnere ihn fatal an die 1930er-Jahre in der Sowjetunion und an die 1950er-Jahre in den USA, als der Senator Joseph McCarthy seine antikommunistische Kampagne durchgeführt habe. Man suche nach den inneren Feinden. Was Jurowski dabei so erschrecke, sei die Wiederholung der Geschichte. Er habe gedacht, all diese Themen seien vom Tisch.
Als Udo Hahn, der Direktor der Akademie, Jurowski nach seiner Einschätzung von einem Ende des Krieges fragte, verwies dieser auf seine Fehleinschätzung vom Beginn des Krieges. Er sei naiv gewesen und habe Anfang des Jahres nicht an einen Krieg geglaubt. Aber diese Naivität sei ihm für immer genommen. An ein schnelles Ende glaube er nicht, und er verwies auf den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Die Evangelische Akademie Tutzing, die in der Saison 2022/2023 ihr 75-jähriges Bestehen feiert, hat das Ziel, durch den Diskurs die Suche nach Lösungen in der Zivilgesellschaft zu fördern. Unter dem Motto „Vorausdenken“ stehen mehr als 70 Veranstaltungen auf dem Programm. Sie sollen das Zeitgeschehen spiegeln, Ursachen und Wirkungen analysieren und Menschen ins Gespräch bringen.
Veranstaltungen und weitere Informationen zur Evangelischen Akademie Tutzing auf: www.ev-akademie-tutzing.de