KlassikWoche 30/2019
Vom Testosteron der Alpha-Dirigenten und einem Wettbewerbs-Skandal
von Axel Brüggemann
22. Juli 2019
Heute dreht sich vieles um Dirigenten – und um DirigentINNEN, um die Emanzipation am Pult und um bekannte Alphatiere, um Feindschaften und Freundschaften und um die Gefahr der Giga-Gagen.
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute dreht sich vieles um Dirigenten – und um DirigentINNEN, um die Emanzipation am Pult und um bekannte Alphatiere, um Feindschaften und Freundschaften und um die Gefahr der Giga-Gagen. Außerdem: Wie der Musikschulen-Verband junge Komponisten abzockt und ein kleiner Rekurs zu den großen Opernskandalen.
WAS IST
„Wandel in der Klassik“ – so ist der Text von Frederik Hanssen im Tagesspiegel überschrieben, der sich mit dem Phänomen weiblicher Chefdirigentinnen auseinandersetzt und darüber staunt, dass ausgerechnet in Sachsen-Anhalt an der Quote gearbeitet wird. Mit Anna Skryleva in Magdeburg und Ariane Matiakh in Halle kommen hier gleich zwei Frauen in Führungspositionen – in Dessau ist Elisa Gogou bereits 1. Kapellmeisterin. Aber wirklich geschafft ist die Emanzipation wohl erst, wenn wir nicht mehr darüber staunen, dass der Dirigent eine Frau ist.
… UND ETWAS ÜBER DIRIGENTEN
Die Abendzeitung listet den Sommer-Plan von Dirigent Valery Gergiev auf: Neben dem Tannhäuser in Bayreuth jettet der Russe während der Proben und zwischen den Aufführungen durch die ganze Welt – von Österreich bis Asien. Sein Pensum ist atemberaubend! Dass er zu spät zu den Proben erscheint – einkalkuliert. All das wirft die Frage auf, ob das Wort „Workaholic“ an sich schon ein guter Grund sein kann, Gergiev zu verpflichten – einen Großteil seiner Aufführungen studieren schließlich seine Assistenten ein. Robert Braunmüller kommt zum Schluss, dass Gergiev seine Wagner-Begeisterung und seine Freude auf Bayreuth durchaus abzunehmen sei, schreibt aber auch: „…warum die Salzburger Festspiele ihrem Publikum eine wohl überwiegend von Assistenten einstudierte Première antun und dem Klassik-Junkie Gergiev auf diese Weise mit zusätzlichem Speed versorgen, das darf man sich schon fragen.“
Derweil parkt Christian Thielemanns Porsche wieder in Bayreuth. Einer der wenigen Orte, an denen der Dirigent derzeit etwas entspannen kann. Ansonsten kämpft er gerade an vielen Fronten: Die Abwanderungswelle in Dresden reißt nicht ab, nach Jan Nast gehen nun auch der Chordirektor, die Personalchefin, der Leiter der Bühnenmusik und der Konzert-Programm-Redakteur. Die Kapelle zerfällt in ihre Einzelteile. Außerdem ist die Baustelle mit Nikolaus Bachler bei den Salzburger Osterfestspielen noch immer nicht beackert, und das ZDF scheint sich ebenfalls von Thielemann abzuwenden. Mein Kommentar dazu: hier. Gleichzeitig werden versöhnliche Töne angestimmt: Andris Nelsons sagt in einem Interview mit Marco Frei in der NZZ, dass die alte Feindschaft mit Thielemann beendet sei – die beiden hatten sich 2016 in Bayreuth überworfen. „Ich respektiere Christian Thielemann enorm“, sagt Nelsons nun, „wir haben eine sehr gute, kollegiale Beziehung.“ Angeblich planen die beiden, beim Orchester des jeweils anderen aufzutreten. Etwas offener bleibt Katharina Wagner. Ob sie mit Thielemann als Musikdirektor in Bayreuth weiterplane, will die dpa von ihr wissen. Ihre diplomatische Antwort: „Ich gehe fest davon aus, dass er weiterhin hier dirigieren wird. Wir sind in intensiven Gesprächen über das nächste Projekt.“ Und dann ist da noch Kirill Petrenko – der große Schweiger. Julia Spinola kommt ihm in einem großen und großartigen Porträt für die NZZ näher, spricht mit Berliner Philharmonikern, die seinen Humor und seine ernsthafte Arbeitsweise schätzen – aber sie fragt auch, ob die großen Erwartungen vor dem offiziellen Amtsantritt überhaupt eingelöst werden können. Der Luzerner Intendant Michael Haefliger thematisiert derweil ein ganz anderes Dirigenten-Problem: von privaten Sponsoren unterstützte Festivals würden Dirigenten Abendgagen von über 40 000 Franken zahlen – das sei für alle anderen Konzertveranstalter eine Zumutung.
MUSIKSCHULEN-VERBAND IN DER KRITIK
Auf der Seite Bad Blog of Musick kritisiert Alexander Strauch einen Kompositionswettbewerb, den der Verband deutscher Musikschulen unter dem Motto „Beethoven – zurück in die Zukunft“ ausgeschrieben hat. In einem ersten Wutausbruch hat Strauch die Art der Ausschreibung kritisiert (inzwischen aber seinen Kommentar überarbeitet) : Die eingereichten Werke werden nicht nur mit einem bloß ungefähr angegebenen Preisgeld bedacht und müssen in verschiedenen Ausfertigungen geliefert werden, sondern darüber hinaus fallen alle Rechte automatisch dem Verband zu. Das sei ein Buy-Out nach US-Manier, schimpft Strauch, und dem Musikschulen-Verband unwürdig! Dabei hat er nicht unrecht: Unter dem Deckmäntelchen, Komponisten zu fördern, beutet der Musikschulen-Verband ihre Arbeit aus. Strauch fordert den Verband nun auf, die Ausschreibung in die Tonne zu treten und noch einmal nachzudenken.
WAGNER SIEHT ROT
Die Bayreuther wollen neue Ampelmännchen: das Porträt Richard Wagners soll in Zukunft den Verkehr in der Festspielstadt regeln. Der Antrag ist bereits unterwegs, muss nur noch durch die Verwaltung gehen. Was wird Angela Merkel denken, wenn Wagner in Rot-Grün den Verkehr in ihrer Sommerpausenstadt regelt? Für sie und viele andere Wagner-Pilger steht Bayreuth schließlich noch immer für einen Spiegel der Nation. Den verortet Andreas Maier in einem spannenden Text für die FAZ inzwischen allerdings nicht mehr in der Oper, sondern in der Musik der Gruppe Rammstein. Sie spiegele den „deutschen Klang der Merkel-Jahre“. Lesenswert!
WAS WAR
In der NZZ beschäftigt sich Hannelore Schlaffer in einem spannenden Essay mit dem neuen Trend, dass Musik nicht mehr nur gehört wird, sondern immer öfter auch das Auge zum Ohr erhebt. Egal, ob in den showhaften Bewegungen des Dirigenten Teodor Currentzis, in opulenten Konzerthäusern wie der Elbphilharmonie oder auf den Bildschirmen. Das Konzert würde immer mehr zur Performance, schreibt Schlaffer und resümiert überraschend positiv, dass dieser neue Trend auch gute Seiten habe: „Musik macht man für das Auge, das, vielbeschäftigt, heute so demokratisch ist, wie das Ohr es nie war.“
PERSONALIEN DER WOCHE
Der Gießener Generalmusikdirektor Michael Hofstetter verlässt das Haus vorzeitig im Dezember. Wohin, ist noch unklar. +++ „Claudio Abbado wollte überzeugen, nicht befehlen“ – das ist der Schlüsselsatz einer neuen Biografie über den Dirigenten, die Wolfgang Schreiber nun im C.H. Beck Verlag vorgelegt hat – sie trägt den Titel: „Der stille Revolutionär“. +++ Die Semperoper trauert um den Tenor Tom Martinsen, der überraschend verstorben ist.
AUF UNSEREN BÜHNEN
Während die meisten Kritiker Philipp Stölzls „Rigoletto“-Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen als Zirkus verrissen haben, der dem Ernst der Oper nicht gerecht werde, jubelt Werner M. Grimmel in der FAZ über „Ein tolles Spektakel, ganz ohne Kitsch“. +++ Lange war die Schlüsselfrage in Ulm: Schulsanierung oder Theateranbau – nun hat der Stadtrat den Anbau für 27 Millionen Euro beschlossen. +++ Lesenswert das Musikprogramm, das der Autor Haruki Murakami zu seinem 30. Buchjubiläum auf die Beine gestellt hat. Murakamis Literatur ist voll von musikalischen Anspielungen: Von Rossini-Opern bis zum Jazz. Nun hatte er eine Carte blanche und Shinya Machida war begeistert über den musikalischen Swing der Veranstaltung. Eine Playlist mit Titeln, die in Murakami-Büchern vorkommen, gibt es übrigens hier. +++ Volker Blech spricht mit Georg Quander über dessen Inszenierung von Domenico Cimarosas „Gli Orazi e i Curiazi“ im Schloss Rheinsberg.
WAS LOHNT
Wagners Uraufführung des Tannhäuser war ein Skandal am Pariser Opernhaus.
Große Skandale zeichnen sich diesen Festspielsommer nicht ab. Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth wird die Wagner-Pilger sicherlich ein bisschen herausfordern, auch, weil bereits durchgesickert ist, dass ein Teil der Aufführung jenseits des Festspielhauses stattfinden wird – aber ein Skandal à la Christoph Schlingensief wird es wohl nicht geben. Und auch in Salzburg zeichnen sich eher Routine-Vorstellungen ab. Um so schöner, Mal wieder Deutschlandradio zu hören. „Eine Lange Nacht über Opernskandale“ von Robert Sollich ist in der Mediathek noch immer online. Im Zentrum: Die Opernskandale rund um Richard Wagner und die Bayreuther Festspiele.
Und dann ist da noch die Nachlese zum letzten Newsletter. Heinz Peller hat mir geschrieben und erklärt, dass er den von mir beschriebenen Einbruch der Klassik im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht beobachten könne: „Einen signifikanten Einbruch der Klassiksendungen im öffentlich-rechtlichen TV kann ich nicht feststellen. Es gibt Schwankungen, auch bei den Sendern. Im Schnitt sind es in den letzten Monaten um die 20 Sendungen pro Woche. Soll nicht heißen, dass es nicht mehr sein könnte.“ Herr Peller organisiert die Seite klassikkalender.de, auf der er alle frei empfänglichen Musiksendungen auflistet – außerdem versendet er einen Newsletter, eine sehr hilfreiche Dienstleistung, um die Musik ins Wohnzimmer zu holen.
In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann
brueggemann@crescendo.de