Uraufführung "nimmersatt" im ehemaligen Ausflugsdampfer

Münchner Biennale 2024 zeigt "Rüber" und "nimmersatt"

Musik­theater an unge­wöhn­li­chen Orten

von Antoinette Schmelter-Kaiser

10. Juni 2024

2024 begibt sich die Münchner Biennale experimentierfreudig in den Stadtraum und sorgt für Überraschungen.

Zwei Beispiele sind die Urauf­füh­rungen von „Rüber“ und „nimmer­satt“ – beide mit einem unge­wöhn­li­chen Setting, beide mit immersiven Erfah­rungen für ein limi­tiertes Publikum.

Mit expe­ri­men­tellen, unge­wöhn­li­chen Formen der Kultur ein viel­fäl­ti­geres Publikum anspre­chen: Dieser Idee hat sich die Münchner Bien­nale seit einer Dekade verschrieben. 2024 geht sie noch einen Schritt weiter: Unter dem Motto „On the way“ begibt sie sich in den Stadt­raum, um zeit­ge­nös­si­sches Musik­theater an unge­wöhn­li­chen Orten erfahrbar zu machen.
Dieses Konzept weitet „Rüber“ auf ein ganzes Viertel aus: In dieser Urauf­füh­rung von Nico Sauer kreuzt das Publikum an Bord einer Luxus­li­mou­sine durch Haid­hausen. Weil auf ihrer Rück­bank nur drei Personen Platz haben, passiert das ausschließ­lich nach vorhe­riger Buchung halb­stün­diger Times­lots. Nach dem Einche­cken in der Glas­halle des ehema­ligen Gasteigs folgt das Trio einem Anzug­träger mit gelbem Base­ball Cap in die Tief­ga­rage und steigt dort in ein Fahr­zeug, das mit groben Pinsel­stri­chen eben­falls gelb bemalt ist. Unter­wegs durch Straßen und über Plätze in der Umge­bung tauchen unver­mit­telt weitere Akteure auf, die an gelben Outfits und/​oder Acces­soires erkennbar sind: ein E‑Gitarrist, ein Percus­sio­nist, eine Saxo­phon-Spie­lerin, eine roller­fah­render Essens­lie­fe­rant, eine Frau mit Mikro­phon, eine andere mit Mini-Keyboard, ein Park­our­läufer. Mal agieren sie allein, mal mitein­ander in Verfol­gungs­jagden, mal steigen sie für einen Teil der Strecke zu, um im Auto Musik zu machen, zu singen oder zu spre­chen. So ergeben sich im Vorüber­fahren skur­rile, wech­selnde Szenen und eine Klang­col­lage. Denn ins Wagen­in­nere werden auch Sound­ele­mente von draußen über­tragen, die sich mit fiktiven Radio­bei­trägen mischen. Eine Über­ra­schung folgt der anderen, so dass alle Sinne ständig auf Empfang sind – und das nicht nur bei den drei Mitfah­renden, sondern auch bei Passanten, die zwischen Irri­ta­tion, Staunen und Schmun­zeln schwanken.

Dieser Mix aus Gefühlen begleitet eben­falls die Auffüh­rung „nimmer­satt“ auf der Alten Utting: Sie beginnt damit, dass sich das Ensemble mit Hühner-Bewe­gungen und ‑Geräu­schen im Maschi­nen­raum des ehema­ligen Ausflugs­damp­fers, der seit 2017 auf einer Brücke in Send­ling vor Anker liegt, unter das auf 25 Personen beschränkte Publikum mischt. Als die später ihre Virtual-Reality-Brillen aufsetzen können, erscheint darin das Video eines neugie­rigen Huhns, das die menschen­leere Alte Utting erkundet. Diese Bilder begleitet Live-Musik von fünf Instru­men­ta­lis­tInnen und vier Sänge­rInnen. Letz­tere tauchen in Gestalt von herum­schwe­benden Astro­nauten, Fotos und gezeich­neten Figuren auch in weiteren VR-Videos auf, die im Weltall, in einer Wüste und einem Raum spielen, der sich allmäh­lich bis oben hin mit Getrei­de­kör­nern füllt. Mit diesem multi­me­dialen Erlebnis möchte die Kopro­duk­tion der Hoch­schule für Musik und Theater München mit der Münchner Bien­nale in die viel­schich­tige Welt der Nahrung eindringen, neue Perspek­tiven auf den menschen­ge­machten Nahrungs­kreis­lauf eröffnen.
Wie auch bei „Rüber“ lässt sich die Insze­nie­rung von „nimmer­satt“ nicht bis ins Letzte schlüssig erschließen. Sich auf immersive Erfah­rungen einzu­lassen macht aber Spaß und Lust auf eine span­nende Reise, die spie­le­risch inno­va­tive Möglich­keiten des Musik­thea­ters auspro­biert.

Fotos: Judith_Buss