Uneins mit der Jury
12. September 2022
Die Preisträger des 71. Internationalen Musikwettbewerbs der ARD in den Fächern Klavier, Flöte, Streichquartett und Posaune stehen fest. Das Publikum zeigt sich nicht mit allen Entscheidungen der Jury einverstanden.
Es war schon öfters in den letzten Jahren etwas gestört: das Verhältnis des Publikums zur jeweiligen, stets mit sieben hochkarätigen Mitgliedern besetzten Jury bei einzelnen Fächern des ARD-Musikwettbewerbs. Das ist vor allem bei den beliebten und schon in den ersten beiden Vorrunden rege besuchten und ebenso heftig diskutierten Fächern wie Klavier, Streichquartett oder Gesang der Fall, bei denen natürlich auch jeder Hörer und Konzertbesucher vielfache Vergleichsmöglichkeiten hat. Und im Gegensatz zum Repertoire in den Fächern Posaune oder Flöte, das dem „normalen“ Konzertbesucher eher wenig geläufig ist, hat der interessierte Hörer Mozart- oder Beethoven-Quartette, aber auch Mendelssohn, Schumann oder Brahms schon oft gehört.
Dieses Jahr gab es bereits nach der ersten Runde Streichquartett richtig Ärger, oder wie Bernd Edelmann, einst Lehrer am musikwissenschaftlichen Institut der LMU, der den ganzen ersten Durchgang verfolgen konnte und selbst Bratscher ist, mir stellvertretend für etliche aus dem Publikum schrieb: „Überzeugt haben mich von den 17 Quartetten bei Joseph Haydn nur das Barbican Quartet, das beim Quartett C‑Dur op. 20 Nr. 2 die barocken Strukturen mit barocker Tongebung und Spielweise unterstrich, und das französische Quatuor Tchalik, das eine völlig in sich stimmige Interpretation von op. 64 Nr. 5 bot. Eben dieses Quartett spielte auch das Ravel-Quartett am besten von fünf Ensembles. Das Publikum quittierte das mit Bravo-Rufen und anhaltendem Getrampel am Saalboden.“ Doch das französische Quartett schaffte es nicht mal in die zweite Runde, dabei ist von ihnen ein vor drei Jahren großartig lebendig gespielter Reynaldo Hahn immer noch in bester Erinnerung.
Beim zweiten Durchgang in der Musikhochschule war ich dann wie viele Zuhörer bass erstaunt, um nicht zu sagen: entsetzt, dass das wunderbare Quatuor Confluence, das unter anderem traumhaft schön Brahms (op. 51 Nr. 2) spielte, es nicht ins Semifinale schaffte. Da waren dann unter anderem das Chaos String Quartet, das Quartet Integra und das wahrlich preisverdächtige Barbican Quartet zu erleben mit sechs verschiedenen der letzten zehn Quartette von Wolfgang Amadé Mozart. Was für ein schönes Spektrum, das der normale Konzertbetrieb in dieser Konzentration nicht bieten kann! Wie Barbican Mozarts KV 575 spielte, begeisterte in jeder Hinsicht. Schöner, präziser und charaktervoller, homogener und zugleich aufregender kann man Mozart nicht spielen, raffiniert auch im sparsamen, doch dann umso entschiedeneren Gebrauch des Vibrato. Da meint man klar ihre Lehrer vom Quatuor Ébène herauszuhören!
Auch die Uraufführung von The Ear of Grain – Die Kornähre von Dobrinka Tabakova (*1980) musizierten die vier schlicht überragend – und bekamen dafür den Sonderpreis für die beste Aufführung des Auftragswerks. Es ist inspiriert vom gleichnamigen Bild Joan Mirós aus dem Jahr 1923, vor allem aber vom kurzen Märchen der Brüder Grimm, das davon erzählt, wie einst ein Halm von oben bis unten Körner trug und durch eine Unachtsamkeit der Menschen nur noch die Körner am oberen Rand überblieben. Die Komponistin schreibt am Ende des Vorworts der Partitur: „Einige der Akkord-Cluster und das chromatische Material sind abgeleitet aus imaginären vertikalen oder horizontalen Spiegelachsen, die kornähnliche Akkorde und chromatische Linien erzeugen, inspiriert von der Struktur eines Korns.“ Das mag man aus dem akkordischen Beginn mit seinen Doppelgriffen herauslesen, auch später klingt es so illustrativ, wie die Vortragsbezeichnungen lauten, so „wie flüssiges Silber“ zu spielende chromatische Linien oder eine intensiv flirrende Vierstimmigkeit „wie ein Schwarm Bienen“, bevor die Aggregatzustände in den kontrastierenden Abschnitte zwischen zart fragil und intensiv („sehr warmer Klang“) immer schneller wechseln. Hier den Klang der Dissonanzen genau auszuforschen, sinnfällig zu phrasieren, mit dynamischen Schattierungen den Spannungsverlauf subtil zu wölben und zwischen den Teilen einen zwingenden Zusammenhang herzustellen, gelang überragend.
Diese Haltung prägte auch die beiden Stücke im Finale, das das Barbican Quartet dann mit einem ersten Preis krönen konnten: zuerst Béla Bartóks 1915 bis 1917 komponiertes, vom Entsetzen des ungarischen Pazifisten über den Ersten Weltkrieg geprägtes und bei aller perfekten Konstruktion von Schmerz und Wut zerklüftetes Werk. Bei diesem Ensemble haben die Einsprengsel volksmusikalischer Elemente keinerlei Trost, so unerbittlich streng klingt das in der Tongebung, im Nonvibrato oft schneidend scharf geschnitten. Auch das Allegro molto capriccioso hatte nichts von Heiterkeit, sondern strotzte nur so vor grimmigem und gegen Ende gespenstischem Humor. Vollkommen illusionslos, aber faszinierend fahl dann das Lento-Finale! Ludwig van Beethovens op. 59 Nr. 2 spielten Amarins Wierdsma, Kate Maloney (Geigen) und Yoanna Prodanova (Cello) neben Christoph Slenczka (Bratsche) mit ähnlicher Konsequenz und Strenge, die dem Quartett alle Wärme, aber auch allen Charme austrieb. Das war bewundernswert in seiner Konsequenz, aber doch auch wenig abwechslungsreich und insgesamt etwas monochrom.
Genau das kann man vom Quartet Integra aus Japan wahrlich nicht behaupten. Auch wenn es am Anfang von op. 131 mit der Genauigkeit der Intonation gefährlich haperte, spielten sich Kyoka Misawa und Anri Tsukiji (erste Geige und Cello) sowie Rintaro Kikuno und Itsuki Yamamoto in den Mittelstimmen schnell frei und gestalteten die mehrfach wechselnden Tempi, Tonfälle und Charaktere im gleichsam durchkomponierten cis-Moll-Quartett bei farbiger Tongebung mit einem schönen Wechsel wunderbar vitaler Abschnitte mit solchen großer Ruhe. Beim letzten Bartók-Quartett, zu Beginn eines Weltkriegs komponiert, nun des zweiten, übertraf das Quartet Integra alles zuvor Gehörte. Die mehrfach wiederkehrende Trauermusik ging herb unter die Haut, das vermeintlich Ausgelassene, in Wirklichkeit die Parodie eines Militärmarsches und eine nicht wirklich lustige Burletta, klang geradezu janusköpfig und vermocht doch etwa dem Bratscher ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Dafür gab es zu Recht den zweiten und den Publikumspreis.
Schon im Semifinale fiel das Chaos String Quartet leider gegenüber diesen beiden Quartetten ab, jetzt waren sie schon mit ihrer Wahl des op. 130 von Ludwig van Beethoven samt gewaltiger „Großer Fuge“ geradezu tollkühn. Aber nach einem wenig konturierten Bartók – dem vierten Quartett – war der Weg bis zum gewaltigen Finale steinig, der großen Cavatina ging jegliche Expressivität ab, und die Intonation war oft grenzwertig. Trotzdem gab es dafür den dritten Preis.
Die Vorspiele alles Teilnehmer des 71. Musikwettbewerbs der ARD in den Fächern Flöte, Posaune, Streichquartett und Klavier von der zweiten Runde bis zu den Finali gibt es als Video on demand – sowie ab 14. September 2022 die drei Preisträgerkonzerte im Livestream auf: www.br.de