Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann

András Schiff

Wie Klang Geschichte schreibt

von Axel Brüggemann

2. September 2019

Der Pianist András Schiff hat sich mit der Schubertiade verkracht. Anlass war die Marke eines Flügels – tatsächlich aber geht es um viel mehr.

Für viele war der Streit, der in den letzten Wochen auf ausge­suchten Seiten des deut­schen Feuil­le­tons tobte, so etwas wie eine Freak­show der Klassik oder „ein abge­fah­renes Paral­lel­uni­versum“, wie ein Leser der „Frank­furter Allge­meinen Zeitung“ die Debatten in einem Kommentar beschrieb. Es ging um Folgendes: Der Pianist hatte sich mit den Machern der Schu­ber­tiade in Vorarl­berg über­worfen: mit ihrem Inten­danten Gerd Nach­bauer, zahl­rei­chen Musi­ker­kol­legen und nicht zuletzt mit dem Publikum. Schiff holte zu einem wütenden Rund­um­schlag aus, der Inten­dant Nach­bauer wiederum veran­lasste, Stel­lung zu beziehen: Der Pianist hätte „die Beur­tei­lungs­kom­pe­tenz des Schu­ber­tiade-Publi­kums infrage“ gestellt, erklärte Nach­bauer, und „sich abschlie­ßend noch sehr negativ über eine ganze Gruppe von bei uns regel­mäßig auf[1]tretenden Künst­lern“ geäu­ßert. Der Anlass für Schiffs Wut: Die anderen Künstler spielten auf Steinway-Flügeln und lobten auch noch dessen Klang. Schiff hingegen führt seit Jahren einen erbit­terten Feldzug gegen Steinway und wirbt offensiv für die Konkur­renz: das Haus Bösen­dorfer in Wien. Nur bei Bösen­dorfer sei seiner Meinung nach der wahre Geist der Wiener Hammer­flügel aus der Zeit Beet­ho­vens und Schu­berts zu hören. Andere Meinungen lässt er nicht zu. Basta.

Nun mag es Außen­ste­henden merk­würdig vorkommen, dass über derar­tige Details ein hand­fester Streit eska­liert, an dessen Ende eine jahre­lange, sehr frucht­bare musi­ka­li­sche Zusam­men­ar­beit zerbricht. Tatsäch­lich aber geht es bei diesem „Flügel-Streit“ um viel mehr, wie FAZ-Kritiker Jan Brach­mann neulich in einem Kommentar darlegte, in dem er Schiff kurzer­hand zum Schul­digen erklärte. „Immer deut­li­cher wird nun“, schrieb der Feuil­le­to­nist, „dass András Schiff sich mit alter­na­tiven Fakten in einen Wahn von der Rein­heit der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Kultur des Klavier­spiels hinein­stei­gert, der nichts mit der geschicht­li­chen Wirk­lich­keit zu tun hat. Auch seine Behaup­tungen über den Klavierbau werden durch groß­ar­tige Pianisten täglich wider­legt. Die Schu­ber­tiade tut gut daran, einem derart ressen­ti­ment­be­ses­senen Künstler keine Träne nach­zu­weinen.“

Eine Debatte über Welt­bilder

Viel­leicht ist es sinn­voll, an dieser Stelle zunächst einmal fest zustellen, dass ich András Schiff mag – als Musiker und als Mensch. Ich schätze seinen Humor und seine Ernst­haf­tig­keit, vor allen Din[1]gen aber seine unglaub­liche Uner­schro­cken­heit und Offen­heit, die von seinen Kriti­kern zuweilen mit Arro­ganz verwech­selt wird. Schiff sagt, was er denkt – ohne Rück­sicht auf Verluste. Er hat kein Problem damit, zu erklären, dass er für einen fürch­ter­li­chen Pianisten und auf keinen Fall für ein Genie hält („Wie würden Sie denn dann Mozart nennen?“). Und es lohnt auch sonst, die aktu­elle Debatte ein wenig aufzu­drö­seln, um zu erkennen, dass der Flügel-Krach in Wahr­heit eine Debatte über Welt­bilder ist, die sich hier ledig­lich in einem Streit um eine Klavier­firma mani­fes­tieren.

Tatsäch­lich hatte Schiff bereits in einem Inter­view 2007 erklärt, die „ursprüng­liche Kultur Ungarns“ wurzele in der „Wiener Tradi­tion“ und komme aus der Habs­burger-Welt, die russi­sche Schule dagegen spiele seiner Meinung nach so gut wie gar keine Rolle im alten Ungarn. So sei hier kein Ton Rach­ma­ninow gespielt worden. Das ist so sicher­lich nicht richtig, denn die russi­sche Schule hatte – wie auch Jan Brach­mann zeigt – durchaus Prot­ago­nisten in Schiffs Heimat. Das aber hielt Schiff nicht davon ab, sein Steinway-Bashing zu wieder­holen, wie er es auch im Booklet zu seinen Diabelli-Varia­tionen betrieb, in denen er die Theorie des typisch öster­rei­chi­schen Klang­ideals, das allein Bösen­dorfer abbilde, bereits episch ausbrei­tete.

Die gespens­ti­sche Haltung Wilhelm Furtwäng­lers gegen­über den Nazis

Doch man muss Schiffs Argu­men­ta­tion viel­leicht auch aus anderen Perspek­tiven heraus verstehen. Dazu ist ein Verständnis seiner Biografie nicht ganz unwe­sent­lich. Schiff wurde 1953 in Buda­pest als Sohn eines musik­be­geis­terten jüdi­schen Gynä­ko­logen geboren und begann sein Musik­stu­dium bereits mit 14 Jahren an der Franz-Liszt-Musik­aka­demie in Buda­pest. Er erlebte die poli­ti­schen Repres­sionen Russ­lands, fühlte sich später beson­ders in England zu Hause und erhielt 2001 schließ­lich die öster­rei­chi­sche Staats­bür­ger­schaft – 2014 wurde er sogar in den engli­schen Ritter­stand erhoben. Immer wieder äußerte Schiff poli­ti­schen Protest, unter anderem, als er der Schu­ber­tiade im Jahre 2000 schon einmal den Rücken gekehrt hatte, um gegen die Politik der regie­renden Rechts­partei FPÖ unter ihrem dama­ligen Chef Jörg Haider zu protes­tieren. Auch verzich­tete Schiff auf Auftritte in Ungarn, um seinem Protest gegen die Politik Viktor Orbáns Ausdruck zu verleihen.

„Natür­lich bin ich als jüdi­scher Musiker in diesem Punkt ganz beson­ders sensibel und nicht objektiv“, erklärte Schiff bereits im Jahre 2007 der öster­rei­chi­schen Zeit­schrift profil. Es sei ihm wichtig, dass Musiker die gespens­ti­sche Haltung Wilhelm Furtwäng­lers gegen­über den Nazis kennen und disku­tieren. „Furtwängler hat viele Leben gerettet, aber sein affir­ma­tives Verhalten gegen­über den Natio­nal­so­zia­listen war nicht richtig“, sagte Schiff. Ihn hätte schon in der ersten Rechts-rechts-Regie­rung in Öster­reich verwun­dert, dass damals aus der Pop- und Thea­ter­szene sehr mutige Stimmen gegen Jörg Haider zu hören waren, dass sogar gegen ihn protes­tiert hätte. Und er hätte sich damals gefragt: „Wenn der das kann: warum nicht auch klas­si­sche Musiker?“ Schiff erklärte das Schweigen im poli­ti­schen Klassik-Wald damit, dass „viele glauben, die Klassik würde einem gewissen Teil der Gesell­schaft gehören, die man nicht unnötig provo­zieren möchte. Aber Musik gehört nicht nur dem Bürgertum. Ich betrachte mich ja auch als Linken.“

Eine Stimme der Viel­falt gegen musi­ka­li­sche Globa­li­sie­rung

Was das alles nun mit der aktu­ellen Flügel-Debatte der Schu­ber­tiade zu tun hat? Natür­lich ist Schiffs Kampf gegen Steinway verbohrt (was übri­gens nicht immer so war, denn ausge­wählte Beet­hoven-Sonaten spielte er einst durchaus an einem Flügel dieser Firma). Aber sein Plädoyer für Bösen­dorfer hat unter­schied­liche, emotional nach­voll­zieh­bare Gründe: Zum einen will Schiff dem Main­stream Paroli bieten. Er selber besitzt zehn oder zwölf Flügel aus der Beet­hoven-Zeit in Wien. „Es gab damals allein in Wien über 100 Baumeister“, erklärt Schiff gern, „deren Instru­mente sehr unter­schied­lich waren. Die Einför­mig­keit war damals noch keine Tugend.“ Dann stellt er seine Stan­dard­frage: „Warum müssen heute alle Instru­mente schwarz sein und aussehen wie Särge?“ In der alten Zeit seien die Klaviere doch auch aus wunder­schönem Rosen­holz gefer­tigt gewesen. Es geht Schiff also um eine Stimme der Viel­falt gegen das, was er musi­ka­li­sche Globa­li­sie­rung nennt.

Noch wesent­li­cher aber scheint ihm die Vertei­di­gung einer histo­ri­schen Hoff­nung seiner Heimat Ungarn zu sein, die sich für ihn ausge­rechnet im diffe­ren­zierten, eigen­wil­ligen und indi­vi­du­ellen Klang der Bösen­dorfer-Instru­mente wider­spie­gelt. Es geht um sein – ja, wohl etwas verklärtes – Welt­bild der aufge­klärten Wiener Gesell­schaft zur Zeit der k. u. k Monar­chie, der sowohl der Frei­geist Mozart als auch der Quer­kopf Beet­hoven entsprungen war. Aus diesem Kosmos heraus würde Schiff so gern die eigent­liche Kultur Ungarns ableiten, die „ursprüng­liche“ Kultur seiner Heimat, wie er es selber formu­liert, die sich einst aus eben dieser „Wiener Tradi­tion“ speiste.

Der Klang des Flügels als akus­ti­sche Flagge im Kampf

Das ist gerade in Zeiten des wach­senden Orbán-Natio­na­lismus und mit Blick auf die eins­tige russi­sche Beset­zung Ungarns ein verständ­li­cher Wunsch – gerade, was auch die Abgren­zung von der russi­schen Schule betrifft. Schiffs Geschichts­bild ist nach den kommu­nis­ti­schen Repres­sionen und unter der neuen natio­na­lis­ti­schen Rechts­re­gie­rung mit ihrem latenten Anti­se­mi­tismus allzu verständ­lich. Er sehnt sich danach, den von Viktor Orbán besetzten Mythos der Nation zu einem Mythos der Mensch­lich­keit und Viel­falt umzu­schreiben. Der Klang seines Flügels ist dabei die akus­ti­sche Flagge, mit der er in den Kampf ziehen will. Man mag, so wie Jan Brach­mann, András Schiff „Ressen­ti­ment­be­ses­sen­heit“ vorwerfen – dann wäre es aber nur fair zu sagen, dass seine Ressen­ti­ments ihre Wurzeln in der Kultur des Huma­nismus suchen.

Dass Schiffs zutiefst persön­li­cher und emotio­naler Blick auf die Geschichte sich mit einem radi­kalen, ja, meinet­wegen auch verbohrten Blick auf einen Instru­men­ten­her­steller verbindet, ist proble­ma­tisch. Wirk­lich span­nend an dieser Debatte aber ist, dass der Klang in ihr mehr darstellt als ledig­lich einen akus­ti­schen Ausdruck. Der Klang, den Schiff beschreibt, ist ein Klang, der für ihn die Ordnung der Dinge – vor allen Dingen aber die Umschrei­bung der Geschichte – beinhaltet. Der Streit über den Klang – das ist, was wir hier lernen – bedeutet immer auch, das Ohr auf die Tradi­tion zu legen und ihr ein Bewusst­sein über die Defi­ni­tion des Vergan­genen abzu­lau­schen. Allein für diese Bewusst­wer­dung lohnt sich die Flügel-Debatte um András Schiff.

Fotos: Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann