András Schiff & Jörg Widmann
Alte Liebe rostet nicht
1. November 2020
András Schiff und Jörg Widmann kehren mit einem gemeinsamen Album zurück zu ihrer ersten Liebe: Johannes Brahms. Sie widmen sich den späten Klarinettensonaten und fünf Intermezzi für Klavier, mit denen Widmann der großen Liebe eine Hommage darbringt.
Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann und der Pianist András Schiff (Titelfoto des Beitrags: © Fritz Ethold / ECM Records) waren beide schon sehr früh für Johannes Brahms entflammt. Widmann erinnert sich daran, wie sich Schulfreunde und er auf dem Pausenhof gegenseitig Werke wie das Klarinetten-Quintett vorgespielt haben, jeder einen Kopfhörer-Stöpsel im Ohr: „Diese Musik hat uns berauscht im schönsten Sinne.“ In der Folge ist es nie wirklich zum Bruch gekommen. Aber mit Robert Schumann trat irgendwann ein neuer Schwarm in sein Leben und löste den alten ab.
Auch Schiff erzählt, dass ihm mit 14, 15 Jahren kein Musiker näher war als Brahms, sein absoluter Lieblingskomponist. Während seiner Ausbildungszeit in Budapest studierte er unter anderem die Klarinetten-Sonaten mit seinem Lehrer György Kurtág ein, „etwa ein halbes Jahrhundert her, schwer zu glauben“. Aber auch Schiff gelangte an den Punkt, an dem er zu dieser engen Beziehung Distanz aufbauen musste: „Es war zu intensiv.“
Schockhaft und beglückend
Zum Glück haben die beiden als längst erwachsene und etablierte Künstler ihren Brahms wiederentdeckt. Und zu einer neuen Form von Liebe gefunden, die nicht mehr von jugendlichem Enthusiasmus befeuert, aber deswegen nicht weniger intensiv ist – im Gegenteil. „Ich sehe ihn jetzt viel reifer nach so vielen Jahrzehnten“, sagt Schiff. Und auch Widmann beschreibt, dass sich ihm – mit einigem Abstand – ein noch umfassenderer Brahms-Kosmos erschlossen hat: „Als würde man auf die Oberfläche eines Sees schauen und auf einmal realisieren, welche Tiefen darunterliegen.“ Als „schockhaft und beglückend“ zugleich bezeichnet er dieses Gefühl.
András Schiff: »Der späte Brahms braucht nicht mehr so viel Zeit, nicht mehr so viele Noten.«
Vor allem die beiden späten Klarinettensonaten op. 120 haben Schiff und Widmann in den vergangenen Jahren oft auf Konzerten gespielt, hörbar die Musik eines Komponisten mit gelebtem Leben. „Ein junger Mensch übertreibt, nicht wahr?“, so der ungarische Pianist. „Das ist auch wunderbar, denn davon ausgehend kann man später reduzieren.“ Für ihn liegen Welten zwischen der frühen Klaviersonate op. fünf – ein kluger Mensch habe diesen Künstler am Beginn seiner Karriere mal den „Brahms ohne Bart“ genannt – und den „viel ökonomischeren, konzentrierteren“ Klarinettensonaten. „Er braucht nicht mehr so viel Zeit, nicht mehr so viele Noten.“
Hommage – Mit dunkler Glut
Nun ist ein Album erschienen, auf der Widmann und Schiff die Sonaten in Es-Dur und f‑Moll zu einem herbstlichen, farbenreichen Leuchten bringen – verschränkt mit fünf Intermezzi für Klavier, die Widmann schon 2010 eigens für den hochgeschätzten Kollegen und dessen „erstaunliches Differenzierungsvermögen“ komponiert hat. Anlass war damals ein gemeinsamer Auftritt bei den Salzburger Festspielen.
Widmanns Stücke verneigen sich vor Brahms, aber eher aus der Ferne. Als Hommage, die nie den Eigensinn verliert. Im dritten Satz zum Beispiel schreibt er sich in eine Ekstase, die eigentlich die Form des Intermezzos sprengt – und spielt dabei auf die Brahms‘sche Vorliebe an, für Orchester und Klavier eine Quinte oder Sexte tiefer zu komponieren als die Zeitgenossen. „Das tiefe A – wer verwendet das schon im 19. Jahrhundert?“, fragt Widmann. Daher auch der Titel, den er gewählt hat: „Mit dunkler Glut“.
András Schiff: »Da ist eine Nostalgie in mir wie in einem Roman von Joseph Roth.«
„Viel Wehmut“, hört Schiff in diesen Kompositionen, „auch etwas Wienerisches, das ich sehr schätze. Ich bin ja in Budapest geboren und fühle mich sehr als Kind der K.-u.-k.-Monarchie, da ist eine Nostalgie in mir wie in einem Roman von Joseph Roth.“ Natürlich, der Klarinettist und der Pianist hätten diese Brahms-Einspielung nebst Intermezzi schon viel früher herausbringen können. Aber Schiff findet es wichtig, „dass man ein großes Werk einstudiert, damit lebt und es immer wieder aufführt – dann ist die Zeit gekommen, es zu dokumentieren, nicht umgekehrt“.
Brahms – der Fortschrittliche
Das Grandiose an ihrer Aufnahme ist, dass sie den Menschen Brahms hörbar macht. Den Musiker, der seinem Verleger Fritz August Simrock sein Streichquintett op. 111 mit der Notiz geschickt hatte: „Hiermit übersende ich Ihnen mein letztes Stück“, was, so Widmann, „keine Koketterie war“. Der aber durch die Begegnung mit dem Klarinettisten Richard Mühlfeld in Meiningen so aufgewühlt und für das Instrument entzündet wurde, dass er doch noch einmal zu komponieren anfing. Apropos neu entflammte Liebe.
András Schiff: »Was wir von Brahms kennen, ist nur ein Bruchteil seiner Kompositionen.«
Man trifft auch den versöhnten Zauderer. Brahms, das weiß man ja, war ein gnadenlos selbstkritischer Künstler. „Was wir von ihm kennen, ist nur ein Bruchteil seiner Kompositionen, so viel landete im Papierkorb“, so Schiff. In den späten Werken aber zeigt sich ein anderer, kühnerer Musiker. Einer, der so zukunftsweisende Harmoniefolgen schrieb, dass sie „Jazz- oder Debussy-Assoziationen wecken“, findet Widmann. Nicht von ungefähr habe Schönberg den berühmten Aufsatz geschrieben „Brahms, the Progressive“ – Brahms, der Fortschrittliche.
Sicher, auch gegen Ende seines Schaffens habe Brahms nicht alle Zweifel an sich selbst beseitigt, aber zum Beispiel die f‑Moll-Sonate: Die beginne als eines dieser charakteristischen Schmerzenswerke: „O Welt, wenn ich einmal soll scheiden.“ – „Und dann endet sie so heiter. Nicht schenkelklopfend, sondern Brahms-heiter“, beschreibt Widmann. „Ich habe den Eindruck, er lächelt am Schluss.“
Die Erfahrungstiefe zweier Virtuosen
Solche Feinheiten herauszustellen, das braucht die Erfahrungstiefe zweier Virtuosen. Der liebevolle Respekt, den Schiff und Widmann Brahms entgegenbringen – er ist auch im Gespräch jederzeit spürbar. Wenn der Klarinettist etwa die Anekdote vom jungen Schüler erzählt, der in der riesigen Brahms’schen Bibliothek eine Tannhäuser-Partitur voller akribischer Anmerkungen auf jeder Seite fand und den Komponisten schüchtern fragte: „Ich dachte, Sie mögen Wagner überhaupt nicht?“ Woraufhin der entgegnet habe: „Aber man muss doch sehr genau kennen, was man nicht mag.“ Oder wenn Schiff eher beiläufig die Postkarte erwähnt, die auf seinem Schreitisch steht, ein Original von Brahms, gerichtet an seinen Verleger: „Da schwärmt er von der Erstaufführung der Siebten Sinfonie d‑Moll von Dvořák und schlägt ihn Simrock vor.“ Bis heute nicht selbstverständlich, so viel Kollegialität in der Musikbranche.
Widmann führt das Gespräch auf gepackten Koffern, er reist zu einem Auftritt nach Schottland, noch finden ja Konzerte statt. Schiff lebt in Budapest, wo er, der Sohn von Holocaust-Überlebenden, seit zehn Jahren aus Protest gegen die Politik der Orbán-Regierung nicht mehr aufgetreten ist. Auch er konnte zuletzt international noch relativ viel Konzerte spielen, Alben aufnehmen, „aber ehrlich gesagt: ich hasse diese Zeit“, bekennt er. Wenn man überhaupt etwas Gutes an der Gegenwart finden will, dann vielleicht das: Sie macht die Menschen, nach beider Erfahrung auf Konzerten, empfänglicher „für große Musik, und dazu gehört zweifellos Brahms“. Fest steht: Es ist nie die falsche Zeit, sich zu verlieben.