András Schiff & Jörg Widmann

Alte Liebe rostet nicht

von Patrick Wildermann

1. November 2020

András Schiff und Jörg Widmann kehren mit einem gemeinsamen Album zurück zu ihrer ersten Liebe: Johannes Brahms. Sie widmen sich den späten Klarinettensonaten und fünf Intermezzi für Klavier, mit denen Widmann der großen Liebe eine Hommage darbringt.

Der Klari­net­tist und Kompo­nist und der Pianist (Titel­foto des Beitrags: © Fritz Ethold / ECM Records) waren beide schon sehr früh für entflammt. Widmann erin­nert sich daran, wie sich Schul­freunde und er auf dem Pausenhof gegen­seitig Werke wie das Klari­netten-Quin­tett vorge­spielt haben, jeder einen Kopf­hörer-Stöpsel im Ohr: „Diese Musik hat uns berauscht im schönsten Sinne.“ In der Folge ist es nie wirk­lich zum Bruch gekommen. Aber mit trat irgend­wann ein neuer Schwarm in sein Leben und löste den alten ab.

Auch Schiff erzählt, dass ihm mit 14, 15 Jahren kein Musiker näher war als Brahms, sein abso­luter Lieb­lings­kom­po­nist. Während seiner Ausbil­dungs­zeit in studierte er unter anderem die Klari­netten-Sonaten mit seinem Lehrer ein, „etwa ein halbes Jahr­hun­dert her, schwer zu glauben“. Aber auch Schiff gelangte an den Punkt, an dem er zu dieser engen Bezie­hung Distanz aufbauen musste: „Es war zu intensiv.“ 

Schock­haft und beglü­ckend

Zum Glück haben die beiden als längst erwach­sene und etablierte Künstler ihren Brahms wieder­ent­deckt. Und zu einer neuen Form von Liebe gefunden, die nicht mehr von jugend­li­chem Enthu­si­asmus befeuert, aber deswegen nicht weniger intensiv ist – im Gegen­teil. „Ich sehe ihn jetzt viel reifer nach so vielen Jahr­zehnten“, sagt Schiff. Und auch Widmann beschreibt, dass sich ihm – mit einigem Abstand – ein noch umfas­sen­derer Brahms-Kosmos erschlossen hat: „Als würde man auf die Ober­fläche eines Sees schauen und auf einmal reali­sieren, welche Tiefen darun­ter­liegen.“ Als „schock­haft und beglü­ckend“ zugleich bezeichnet er dieses Gefühl.

András Schiff: »Der späte Brahms braucht nicht mehr so viel Zeit, nicht mehr so viele Noten.«

Vor allem die beiden späten Klari­net­ten­so­naten op. 120 haben Schiff und Widmann in den vergan­genen Jahren oft auf Konzerten gespielt, hörbar die Musik eines Kompo­nisten mit gelebtem Leben. „Ein junger Mensch über­treibt, nicht wahr?“, so der unga­ri­sche Pianist. „Das ist auch wunderbar, denn davon ausge­hend kann man später redu­zieren.“ Für ihn liegen Welten zwischen der frühen Klavier­so­nate op. fünf – ein kluger Mensch habe diesen Künstler am Beginn seiner Karriere mal den „Brahms ohne Bart“ genannt – und den „viel ökono­mi­scheren, konzen­trier­teren“ Klari­net­ten­so­naten. „Er braucht nicht mehr so viel Zeit, nicht mehr so viele Noten.“

Hommage – Mit dunkler Glut

Nun ist ein Album erschienen, auf der Widmann und Schiff die Sonaten in Es-Dur und f‑Moll zu einem herbst­li­chen, farben­rei­chen Leuchten bringen – verschränkt mit fünf Inter­mezzi für Klavier, die Widmann schon 2010 eigens für den hoch­ge­schätzten Kollegen und dessen „erstaun­li­ches Diffe­ren­zie­rungs­ver­mögen“ kompo­niert hat. Anlass war damals ein gemein­samer Auftritt bei den Salz­burger Fest­spielen.

Widmanns Stücke verneigen sich vor Brahms, aber eher aus der Ferne. Als Hommage, die nie den Eigen­sinn verliert. Im dritten Satz zum Beispiel schreibt er sich in eine Ekstase, die eigent­lich die Form des Inter­mezzos sprengt – und spielt dabei auf die Brahms‘sche Vorliebe an, für Orchester und Klavier eine Quinte oder Sexte tiefer zu kompo­nieren als die Zeit­ge­nossen. „Das tiefe A – wer verwendet das schon im 19. Jahr­hun­dert?“, fragt Widmann. Daher auch der Titel, den er gewählt hat: „Mit dunkler Glut“.

András Schiff: »Da ist eine Nost­algie in mir wie in einem Roman von Joseph Roth.«

„Viel Wehmut“, hört Schiff in diesen Kompo­si­tionen, „auch etwas Wiene­ri­sches, das ich sehr schätze. Ich bin ja in Buda­pest geboren und fühle mich sehr als Kind der K.-u.-k.-Monarchie, da ist eine Nost­algie in mir wie in einem Roman von Joseph Roth.“ Natür­lich, der Klari­net­tist und der Pianist hätten diese Brahms-Einspie­lung nebst Inter­mezzi schon viel früher heraus­bringen können. Aber Schiff findet es wichtig, „dass man ein großes Werk einstu­diert, damit lebt und es immer wieder aufführt – dann ist die Zeit gekommen, es zu doku­men­tieren, nicht umge­kehrt“.

Brahms – der Fort­schritt­liche

Das Gran­diose an ihrer Aufnahme ist, dass sie den Menschen Brahms hörbar macht. Den Musiker, der seinem Verleger Fritz August Simrock sein Streich­quin­tett op. 111 mit der Notiz geschickt hatte: „Hiermit über­sende ich Ihnen mein letztes Stück“, was, so Widmann, „keine Koket­terie war“. Der aber durch die Begeg­nung mit dem Klari­net­tisten Richard Mühl­feld in so aufge­wühlt und für das Instru­ment entzündet wurde, dass er doch noch einmal zu kompo­nieren anfing. Apropos neu entflammte Liebe.

András Schiff: »Was wir von Brahms kennen, ist nur ein Bruch­teil seiner Kompo­si­tionen

Man trifft auch den versöhnten Zauderer. Brahms, das weiß man ja, war ein gnadenlos selbst­kri­ti­scher Künstler. „Was wir von ihm kennen, ist nur ein Bruch­teil seiner Kompo­si­tionen, so viel landete im Papier­korb“, so Schiff. In den späten Werken aber zeigt sich ein anderer, kühnerer Musiker. Einer, der so zukunfts­wei­sende Harmo­nie­folgen schrieb, dass sie „Jazz- oder Debussy-Asso­zia­tionen wecken“, findet Widmann. Nicht von ungefä habe Schön­berg den berühmten Aufsatz geschrieben „Brahms, the Progres­sive“ – Brahms, der Fort­schritt­liche.

Sicher, auch gegen Ende seines Schaf­fens habe Brahms nicht alle Zweifel an sich selbst besei­tigt, aber zum Beispiel die f‑Moll-Sonate: Die beginne als eines dieser charak­te­ris­ti­schen Schmer­zens­werke: „O Welt, wenn ich einmal soll scheiden.“ – „Und dann endet sie so heiter. Nicht schen­kel­klop­fend, sondern Brahms-heiter“, beschreibt Widmann. „Ich habe den Eindruck, er lächelt am Schluss.“

Die Erfah­rungs­tiefe zweier Virtuosen

Solche Fein­heiten heraus­zu­stellen, das braucht die Erfah­rungs­tiefe zweier Virtuosen. Der liebe­volle Respekt, den Schiff und Widmann Brahms entge­gen­bringen – er ist auch im Gespräch jeder­zeit spürbar. Wenn der Klari­net­tist etwa die Anek­dote vom jungen Schüler erzählt, der in der riesigen Brahms’schen Biblio­thek eine Tann­häuser-Partitur voller akri­bi­scher Anmer­kungen auf jeder Seite fand und den Kompo­nisten schüch­tern fragte: „Ich dachte, Sie mögen Wagner über­haupt nicht?“ Woraufhin der entgegnet habe: „Aber man muss doch sehr genau kennen, was man nicht mag.“ Oder wenn Schiff eher beiläufig die Post­karte erwähnt, die auf seinem Schrei­tisch steht, ein Original von Brahms, gerichtet an seinen Verleger: „Da schwärmt er von der Erst­auf­füh­rung der Siebten Sinfonie d‑Moll von Dvořák und schlägt ihn Simrock vor.“ Bis heute nicht selbst­ver­ständ­lich, so viel Kolle­gia­lität in der Musik­branche.

Widmann führt das Gespräch auf gepackten Koffern, er reist zu einem Auftritt nach , noch finden ja Konzerte statt. Schiff lebt in Buda­pest, wo er, der Sohn von Holo­caust-Über­le­benden, seit zehn Jahren aus Protest gegen die Politik der Orbán-Regie­rung nicht mehr aufge­treten ist. Auch er konnte zuletzt inter­na­tional noch relativ viel Konzerte spielen, Alben aufnehmen, „aber ehrlich gesagt: ich hasse diese Zeit“, bekennt er. Wenn man über­haupt etwas Gutes an der Gegen­wart finden will, dann viel­leicht das: Sie macht die Menschen, nach beider Erfah­rung auf Konzerten, empfäng­li­cher „für große Musik, und dazu gehört zwei­fellos Brahms“. Fest steht: Es ist nie die falsche Zeit, sich zu verlieben.