Asmik Grigorian
„Ich will nackt in meinem Herzen sein.“
von Margarete Zander
1. August 2021
Pure Emotion und Ehrlichkeit: Stimmlich ist Asmik Grigorian fraglos in der Oberliga. Dabei spielt die Sopranistin ihre Rollen mit einer atemberaubenden Hingabe. Weil sie jede mit ganzem Herzen lebt.
Asmik Grigorian ist Gründungsmitglied der Städtischen Oper von Vilnius. Ihre internationale Karriere begann sie mit einem triumphalen Erfolg an der Königlichen Oper in Stockholm in Puccinis Madama Butterfly. Seither befindet sie sich auf dem Weg nach oben. 2018 stand sie als Salome in Romeo Castelluccis Inszenierung von Richard Strauss« Oper bei den Salzburger Festspielen auf der Bühne. In Dmitri Tcherniakovs Inszenierung des Fliegenden Holländer bei den Bayreuther Festspielen 2021 singt sie die Partei der Senta. Und ihre Verkörperung der Chrysothemis in Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Strauss« Oper Elektra bei den Salzburger Festspielen 2020 liegt auf DVD und Blu-ray Disc vor. Im Gespräch erzählt sie, welche Energie in der Musik von Richard Strauss liegt, wie sie Zugang zu einer Rolle findet und was sie von einem Regisseur erwartet.
CRESCENDO: Frau Grigorian, wie haben Sie aus der „Miss Emotion“, wie Sie sich selbst manchmal ironisch nennen, und der „Miss Intelligence“, die meines Erachtens eine andere starke Seite der Figuren prägt, diese fantastischen Opernfiguren entwickelt?
Asmik Grigorian: Da bin ich mir nicht sicher, dass das wirklich Intelligenz ist.
Sie singen die Senta in Richard Wagners Fliegendem Holländer in Bayreuth, die Chrysothemis in Richard Strauss« Elektra, Sie haben Ihre Debüts an der New Yorker Met, in Covent Garden in London und an der Mailänder Scala gefeiert. Seit wann ist es Ihr Traum, das internationale Parkett zu betreten?
Ich bin generell kein Träumer – das hat sich so entwickelt. Ich habe viel gearbeitet. Und darüber hinaus hatte ich immer Spaß am Leben und an der Arbeit und habe immer, wenn ich auf die Bühne ging, das Beste gegeben. Gefühlt oder davon geträumt, eines Tages ein internationaler Star zu werden, habe ich nie. Doch habe ich meinen Beruf mit ganzem Herzen gelebt, und Schritt für Schritt bin ich dahin gelangt, wo ich jetzt bin.
Ein Blick auf die Wurzeln: Zweifellos ging ein Grundimpuls für Ihre Ausbildung zur Opernsängerin von Ihren Eltern aus. Beide waren Opernsänger. Ihre Mutter war Ihre erste und lange Zeit die einzige Lehrerin. Sie haben Sie sogar als Kind mit auf die Bühne genommen, als sie Madame Butterfly gesungen haben: Ihre Mutter Irena Milkevičiūtė, Koloratursopranistin aus Litauen, als Cio-Cio San, Ihr Vater Gegam Grigorjan, armenischer Tenor, als Pinkerton.
Ich war bereits auf der Bühne, als sie mit mir schwanger war.
Wie war das für Sie als Kind?
Ehrlich gesagt, ich weiß das nicht mehr, das ist zu lange her. Keiner hat mich gezwungen, also vermutlich war ich neugierig und interessiert daran.
Hätten Sie sich vorstellen können, Astronautin zu werden oder irgendetwas anderes als Opernsängerin?
Astronautin – absolut. Deshalb fällt mir das Schauspielern so leicht, weil ich mir für mich vorstellen kann, einfach alles zu sein: Astronautin, obdachlos oder was auch immer. Meine Vorstellungskraft ist wirklich sehr gut.
»Wir sind alle Menschen und kämpfen mit den gleichen Problemen.«
2020 sangen Sie an der Wiener Staatsoper die Partie der Cio-Cio San. Es ist beeindruckend, wie Sie den Stoff in unsere Zeit übersetzen: nicht in erster Linie als Kampf zwischen zwei Kulturen, zwischen einer japanischen Frau und einem amerikanischen Mann als ein Kampf zwischen Menschen, die in der gleichen Stadt, nur unter unterschiedlichen Bedingungen leben. Sehen Sie die Geschichten der Opern, als würden sie heute passieren und Sie sind mittendrin? Haben Sie sich das von Ihren Eltern abgeschaut?
Ich glaube nicht. Ich persönlich, als Asmik, spreche nicht gern über etwas, wovon ich keine Ahnung habe. Ich rette die Welt nicht, indem ich die Welt rette. Wenn ich sie retten will, dann verändere ich etwas an mir – es ist das Einzige, was ich in dieser Welt wirklich genau kenne. Es ist ein Teil meiner Persönlichkeit, ich denke nicht, dass meine Eltern mir das beigebracht haben.
»Ich habe eine große Leidenschaft für das Leben – ich möchte so viel lernen, so viel sehen.«
Gibt es etwas, das Sie als Erbe Ihrer Eltern betrachten? Vielleicht etwas aus der armenischen Kultur? Ein Sprichwort oder eine Haltung, die Sie übernommen haben für die Bühne?
Ich weiß nicht, ob es typisch ist für die Armenier oder für meinen Vater, aber von ihm habe ich gelernt, das Leben zu lieben. Das Leben anzunehmen. Der Sonnenschein, das Glück, die Freude, die Leidenschaft fürs Leben, das alles kam von meinem Vater. Ich habe so eine große Leidenschaft für das Leben, ich möchte so viel lernen, so viele Dinge sehen. Von meiner Mutter habe ich vermutlich die Empathie und auch diese enorme Disziplin – in einer guten Bedeutung des Wortes. Die Disziplin, die mir meine Mutter beigebracht hat, hilft mir, mich zu organisieren. Ich bin Mutter zweier Kinder, da gibt es so viel zu organisieren. Mein Leben hat weniger mit Kunst zu tun als vor allem mit Organisation und Planung. Die Fähigkeit, diszipliniert zu handeln, hilft mir wirklich viel für mein Leben.
Ihr Sohn wird jetzt 19 – werden wir ihn auch irgendwann auf der Bühne sehen?
Er beendet jetzt erst mal seine Schule und dann… Mal sehen, wohin sein Weg ihn führt. Er wird sicher viel ausprobieren, aber er ist kein professioneller Musiker.
Und Ihre fünfjährige Tochter, geht sie gerne mit Ihnen ins Opernhaus? Auf die Bühne?
Nein. Weder mein Sohn noch meine Tochter sind im Opernhaus aufgewachsen. Es gibt so viele Sachen im Leben, an denen sie Spaß haben können. Als mein Sohn sich dafür interessierte, habe ich ihn mitgenommen. Aber wenn die Kinder immer dabei sind, haben sie später nicht wirklich eine Wahl. Und die wollte ich ihnen immer lassen.
Mit der Salome in Salzburg 2018 feierte die Presse Ihren internationalen Durchbruch. Sie hatten sich optimal vorbereitet und dann? Wie war es dort? Die Proben, das Team…
Ich hatte vor den Salzburger Festspielen bereits Verträge mit Covent Garden und der Met, dazu Auftritte in Paris. Ich würde also nicht sagen, dass meine internationale Karriere in Salzburg begann. Aber Salzburg hat mir eine völlig andere Position gegeben, ein anderes Level. Das ist das Geschenk aus Salzburg. Aber zu sagen, man wäre dort erst auf mich aufmerksam worden, wäre nicht wahr.
Sie haben in Salzburg ein Interview gegeben, in dem Sie von dem Team der Festspiele schwärmen und ein bisschen sentimental werden, wenn Sie sagen, das sei eine Freundschaft fürs Leben. Was war so besonders an Salzburg?
Ich habe die besten Möglichkeiten und das beste Team bekommen, um zu werden, was ich bin. Ich fühle so, so, so viel Liebe vom Team dieses Festivals! Sie geben einem das Gefühl, man ist eine Königin, und das kann manchmal so wichtig sein! Vor allem für Menschen wie mich, deren Selbstbewusstsein nicht immer so stark ist. Noch wichtiger ist, immer wieder gefragt zu werden, was man braucht. Eine erstaunliche Art, miteinander umzugehen. Ich bin nicht sehr abhängig von Orten, an denen ich bin, aber von den Menschen. Und die Menschen, die das Festival jetzt leiten, das ganze Team, sie sind meine Familie. Sie werden Teil meines Lebens bleiben.
Nun wird die Elektra auf DVD veröffentlicht. Konnten Sie bei der Aufführung in Salzburg Ihre ganze Stärke ausspielen, weil die zwei anderen Hauptdarstellerinnen, Tanja Ariane Baumgartner als Klytämnestra und Aušrinė Stundytė als Elektra, auch so stark waren?
Das sind einfach drei starke, sehr unterschiedliche Frauen. Ich war voll in meiner Rolle und habe mich gar nicht gefragt, was passiert wäre, wären sie nicht so stark gewesen.
»Mit Krzysztof Warlikowski zu arbeiten, war die reinste Freude.«
Was erwarten Sie vom Regisseur? Muss er Sie in gewisser Weise „zwingen“, Ihre Komfortzone zu verlassen?
Wir leben nicht mehr in den Zeiten, in denen man gezwungen werden kann, etwas Bestimmtes zu tun. Ein guter Regisseur weiß, wie er manipulieren und einen in eine Situation bringen kann, in der man den Charakter entwickelt, den er will. Mit Krzysztof Warlikowski zu arbeiten, war die reinste Freude. Aber wir haben miteinander gesprochen und diskutiert. Niemand zwingt mich zu irgendetwas!
Und dann kommt es auch mal zu Momenten wie am Ende der Salome-Première, wenn Romeo Castellucci vor Ihnen auf die Knie fällt. Einfach eine schöne Geschichte für das Erinnerungsalbum oder Kraft für die Zukunft, falls es mal nicht so gut läuft?
Ach nein, das erfüllt mich einfach mit ganz viel Liebe für diesen Menschen! Ich könnte das Gleiche tun und vor ihm auf die Knie fallen! Romeo ist einfach eine unglaubliche Persönlichkeit! Und die Zeit mit ihm war unglaublich. Und es war eine unglaubliche Emotion, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde.
»Meine Stimme fühlt sich wohl bei Strauss. Ich mag die Energie dieser Musik.«
Sie haben ein sehr inniges Verhältnis zur Musik von Richard Strauss und scheinen sich wohlzufühlen im großen Orchester!
Das liegt mit in der Verantwortung des Dirigenten. Ich möchte hier vor allem Franz Welser-Möst erwähnen: Seine Unterstützung hat es mir unfassbar leicht und überhaupt möglich gemacht. Ich habe ja keine riesige Stimme. Aber ich habe diese starke Vorstellungskraft und kann das singen. Wäre der Dirigent unfreundlich und nicht einfühlsam genug, würde man mich vermutlich gar nicht hören. Aber meine Stimme fühlt sich wohl bei Strauss. Ich mag die Energie dieser Musik. Strauss macht das wunderbar. Stimme und Orchester sind nicht getrennt, sondern weben zusammen einen wunderschönen Teppich.
Sie sprechen beeindruckend gut Deutsch. Hatten Sie einen guten Coach, oder könnten wir das Interview auch auf Deutsch führen?
Nein, für das Interview reicht es keinesfalls. Ich verstehe viel, doch ich habe es nie gesprochen. Eines Tages aber… Umso glücklicher bin ich, dass ich einen Deutsch-Coach gefunden habe, Peggy Marmuth. Ich habe sie in der Komischen Oper in Berlin getroffen. Sie war mein erster Deutsch-Coach, und ich arbeite bis heute mit ihr an jeder Oper. Eine sehr intensive Arbeit. Es geht ja nicht nur um Worte, sondern um jede einzelne Silbe.
»Mein wahrer Verstand bildet sich in meinem Herzen und in meinem Bauch.«
Noch mal zurück zu „Miss Emotion“ und „Miss Intelligence“. Richard Strauss schrieb seine Opern ja unter dem Eindruck der Psychoanalyse von Sigmund Freud. Und Sie müssen in Elektra als Chrysothemis nicht nur eine mythologische Geschichte spielen, sondern die menschlichen Abgründe dahinter verstehen und hineinlegen, also das, was Freud gesehen hätte. Wie dringen Sie auf diese Ebene vor? Lesen Sie viel über diese Zeit?
Nein, ganz und gar nicht. Wir besitzen ja alle eine unterschiedliche Art von Intelligenz. Die eine ist von unserem Verstand gesteuert, da geht es ums einfache Verstehen und Wissen. Und das andere, das sind unsere Intuition und unsere Werte – eine andere Art von Wissen also. Ich gehöre zu denen, die die Dinge aus der triebhaften Perspektive betrachten. Mein wahrer Verstand bildet sich in meinem Herzen und in meinem Bauch. Natürlich nutze ich auch den, der in meinem Kopf ist, aber der ist für die Planung, niemals für Entscheidungen! Und niemals dafür, die Dinge zu analysieren.
Sie haben nie gedacht: Was wollte Strauss oder Freud sagen?
Nein! Weil ich keine Ahnung habe! Ich will auch nicht so tun, als hätte ich sie. Ich könnte 20 Bücher lesen und darüber spekulieren, was sie wollten. Doch es interessiert mich nicht wirklich. Natürlich lese ich Bücher. Aber es ist nicht mein Zugang zu den Dingen. Für mich ist das Wichtigste, meine Geschichte zu erzählen, zu sagen, was ich hier fühle. Zudem gehe ich nie mit etwas auf die Bühne, was ich dem Publikum mitteilen will. Ich möchte niemanden beeinflussen. Ich möchte in meinem Herzen nackt sein, zeigen, was ich bin und was ich über die Geschichte denke. Diese pure Emotion und Ehrlichkeit gibt jedem Einzelnen im Publikum die Möglichkeit auszuwählen, was er sehen und aus der Geschichte lernen will. Das ist mir sehr wichtig. Will man manipulieren, nehmen 50 Prozent der Leute das nicht an. Lässt man die Tür aber offen, dann nimmt einfach jeder das aus der Rolle, was er will und im Moment braucht.
Also sind alle Ihre 60 Rollen ein bisschen ein Teil von Ihnen.
Nicht nur ein bisschen. Sie alle sind ein Teil von mir: ein Teil meiner Vorstellungen, ein Teil meines Lebens. Ich lerne sehr viel von ihnen. Sie beeinflussen mich und die Art, wie ich lebe.
Sie haben einmal gesagt, man müsse perfekt sein. Gilt das noch?
Nein, nicht perfekt, aber das Maximum dessen geben, was man geben kann. Ich versuche immer, alles zu geben. Mein Leben lang werde ich schon von Panikattacken begleitet. Hege ich auch nur den geringsten Zweifel, dass ich an einer Stelle nicht tausend Prozent sicher bin, packt meinen Körper die Angst. Es gibt nicht viel, was hilft. Außer bestens vorbereitet zu sein und allergrößtes Vertrauen in sich selbst zu haben.
Wir haben über Erfolg gesprochen. Viele sagen, Misserfolge gehören dazu, um Erfolge zu genießen. Wie sehen Sie das?
Es gibt keine Fehler, nur Lektionen. Wenn mich jemand fragt, was ich ändern würde, könnte ich 20 Jahre zurückgehen, dann würde ich sagen: nichts! Obwohl mein Leben wirklich nicht perfekt war. Aber es hat aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin.
Und was tun Sie, um Ihre Stimme gesund zu halten?
Das Wichtigste ist das Üben. Richtig üben, mit den richtigen Menschen. Wenn man richtig denkt und richtig spricht, dann wird die Stimme nicht müde. Die Stimme ist Teil unseres Körpers, und der ändert sich jeden Tag. Das gilt für unser ganzes Leben. Ich betrachte das Leben wie einen Fahrstuhl, der nach unten fährt. Will man also auf der gleichen Höhe bleiben, muss man sich bewegen. Das gilt auch für die Stimme.