Boris Giltburg
Die Obesession kommt in Wellen
8. März 2023
Multi-Tasking ist nicht seine Stärke. Aber der russische Pianist Boris Giltburg kann mehr als nur fabelhaft Klavier spielen. Sensationelle Fotos schießen zum Beispiel. In und aus sechs Sprachen übersetzen. Und, und, und...
CRESCENDO: Herr Giltburg, darf ich mit einer politischen Frage beginnen: Sie sind in Israel aufgewachsen, aber in Moskau geboren, Russisch ist Ihre Muttersprache: Wie geht es Ihnen in Zeiten von Putins Krieg?
Boris Giltburg: Es ist eine Tragödie. Der Tag der Invasion war einer der dunkelsten Tage, die ich erinnern kann. Ich war gerade auf Tour in den Vereinigten Staaten. An dem Abend spielte ich ausgerechnet die Sechste Sonate von Prokofjew, die er zwischen 1940 und 1943 geschrieben hat. Man kann hören, wie Soldaten mit leeren Augen vor einem aufmarschieren. Es war mir unmöglich, meine Gefühle zu sortieren. Aber auf meine Gefühle kommt es natürlich in diesem Zusammenhang nicht an.
Da bin ich anderer Ansicht!
Ich meine im Kontrast zu dem, was in der Wirklichkeit passiert. Ich lebe in den Niederlanden, im Moment sind wir hier noch sicher.
»Rachmaninow bringt das Klavier auf überirdische Weise zum Klingen«
Was halten Sie davon, russische Komponisten von den Konzertprogrammen zu streichen?
Ich bin absolut dagegen. Autoren wie Dostojewski zu canceln, hat etwas von einer Hexenjagd. Wenn das Ziel ist, den Krieg aufzuhalten, wie soll es nützen, Rachmaninow nicht mehr zu spielen?
…Ihren Lieblingskomponisten. Zu seinem 150. Geburtstag bringen Sie ein Album mit dem Vierten und Ersten Klavierkonzert heraus. Was lieben Sie an ihm?
An Rachmaninow haftet das Klischee, er würde große romantische Gefühlswellen schlagen. Dabei ist jedes Stück exquisit konstruiert, klarsichtig und voller präziser Details. Diese Kombination von Intellekt und Empfindung ist unglaublich. Er bringt das Klavier auf schier überirdische Weise zum Klingen.
Gibt es vielleicht eine besondere Verbindung, weil Sie dieselbe Sprache sprechen?
Ich liebe seine Briefe. Seine Persönlichkeit scheint hindurch. Er war nobel und warmherzig. Das spürt man auch in der Musik, ähnlich wie bei Beethoven. Ich habe inzwischen zwei Lieblinge: Während der Pandemie war Beethoven mein Begleiter, ich habe alle Sonaten und Klavierkonzerte eingespielt. Er war der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Und außerdem liebe ich Schostakowitsch…
…Sie haben ein weites Herz.
Von allen Figuren des 20. Jahrhunderts ist er für mich die interessanteste. Seine konstante Konfrontation mit dem Régime, erst offen, dann verdeckt in der Musik. Wie soll ein Künstler sich in Zeiten der Repression verhalten? Die Frage ist kaum zu beantworten. Ich spiele nicht nur sein Klavierwerk, ich arrangiere seine Streichquartette für Klavier. Wir machen gerade ein Video mit dem dritten Streichquartett.
2015 haben Sie gesagt, Ihr Repertoire ende bei Schostakowitsch und Britten. Haben Sie die Grenzen seitdem weiter in Richtung zeitgenössischer Musik verschoben?
Nein… Aber gestern habe ich Taylor Swift angehört. Sehr interessant! Und die letzten Alben von Beyoncé habe ich geliebt.
Die arrangieren Sie aber noch nicht?
Nein. Interessante Idee übrigens! Die Singer-Songwriter sind doch eigentlich die Komponisten unserer Zeit. Was Beyoncé macht, ist komplex und vielschichtig. Wir können viel davon lernen.
»Das ist der Luxus, ein Amateur zu sein. Ich muss nichts abliefern«
Sind Sie ein Allesfresser, was die Kunst betrifft? Sie sprechen sechs Sprachen, Sie schreiben, übersetzen, lieben Literatur und Fotografie.
Das ist ein Teil meines Lebens, den ich wirklich liebe. Ich habe lange keine Dichtung übersetzt. Aber vor zwei Wochen habe ich angefangen, einen Gedichtzyklus von Lea Goldberg aus dem Hebräischen ins Englische zu übersetzen. Hebräische Lyrik ist noch kaum übersetzt worden. Wir haben da einen verborgenen Schatz.
Wie muss ich mir das vorstellen: Sie lesen so etwas, und dann können Sie nicht anders, als damit zu arbeiten?
Meine Reaktion ist, ich muss etwas damit tun.
Und wie gehen Sie beim Fotografieren mit spontanen Eingebungen um? Dafür braucht man Vorbereitung. Sind Sie auch mit Koffern und Stativen unterwegs wie die Fotoreporter?
Das ist der Luxus, ein Amateur zu sein. Ich muss nichts abliefern. Profifotografen brauchen Ersatz für den Fall, dass die Kamera ausfällt. Sie haben Schirme und Lampen dabei. Das ist bei mir völlig egal. Ich kann spontan sein. Ich packe eine Kamera in meinen Rucksack, ein Weitwinkel- und ein Teleobjektiv. Ich benutze eine Olympus-Kamera, die schon etwas kleiner und leichter ist.
Passt sie in eine Hosentasche?
Nicht ganz. Ich habe eine schöne Ricoh-Kamera, die in die Hosentasche passt. Aber die hat ein festes 28 mm-Objektiv. Da gibt mir die Olympus mehr Flexibilität. Wenn ich Tierbilder schießen will, brauche ich ein großes Teleobjektiv. Man kann nicht erwarten, dass die Tiere für einen stillhalten.
Auf Ihren Bildern sind oft starke Schattenwürfe zu sehen. Inszenieren Sie Ihre Bilder?
Das meiste nehme ich, wie es ist. Grafische Motive ziehen mich an, Geometrie, die Linien, Schatten. Auch bei Gemälden übrigens.
Wenn Sie auf dem Weg zu einer Probe etwas sehen, das Ihr Fotografenauge reizt, können Sie sich dann von Klavier auf Foto umschalten?
Ich mache nicht alles jederzeit. Die Obsession kommt in Wellen. Mal habe ich eine Fotophase, dann eine Übersetzungsphase. Oder eine Phase, in der ich Computerspiele spiele! Dann verbringe ich 40 Stunden damit.
Eines Tages werden Sie eines entwickeln.
Nein, nein, das macht mein Mann. Der ist Wissenschaftler, er schreibt Codes. Ich habe ein bisschen programmieren gelernt, aber nicht auf einem besonders hohen Niveau.
Sie haben ja noch einen klitzekleinen Hauptberuf und müssen vermutlich jeden Tag Klavier üben.
Allerdings.
Sind diese verschiedenen Künste für Sie einfach unterschiedliche Mittel, sich auszudrücken?
Vielleicht träume ich ja zu viel? Ich habe irgendwann akzeptiert, dass ich so bin.
»Was wir auf der Bühne empfinden, hat keinerlei Bezug dazu, wie das Konzert gelaufen ist«
Wie hängt das denn alles zusammen?
Die Lyrik hängt natürlich eng mit der Musik zusammen. Es gibt Rhythmus, es gibt Sprachfluss. Aber Fotografieren ist etwas völlig anderes, Getrenntes. Vielleicht wollte mein Hirn das so. Es gibt nur eine Parallele: Gute Fotos machen und die Freude am Fotografieren sind zweierlei. Man kann ein Fotoshooting sehr genießen und ganz schlechte Bilder dabei herausbekommen – oder auch umgekehrt. Und diesen Unterschied gibt es in der Musik auch.
Das Auseinanderfallen von subjektivem Erleben und dem, was man von außen hört?
Was wir auf der Bühne empfinden, hat keinerlei Bezug dazu, wie das Konzert gelaufen ist. Man kann eine schreckliche Zeit auf der Bühne haben, aber das Konzert war gut, und man kann die beste Zeit seines Lebens auf der Bühne haben, aber es war kein großartiges Konzert.
Verunsichert Sie das nicht?
Das habe ich gelernt zu akzeptieren. Auf der Bühne konzentrieren wir uns auf andere Dinge. Wir sind im Moment. Eine unsaubere Note kann das Ende der Welt bedeuten. Aber es ist viel schwieriger, die Gesamtstruktur zu beurteilen oder die Beziehungen zwischen verschiedenen Abschnitten. Die Zeit fließt anders. Ich nehme an, das ist das Adrenalin. Es ist unmöglich, die Konzertsituation zu Hause zu simulieren. Man kann dem Gehirn den Ernstfall nicht vorgaukeln.
Haben Sie Lampenfieber?
Seit vier Jahren nicht mehr. Da habe ich angefangen, vom iPad zu spielen, und gemerkt, dass meine Nervosität fast ausschließlich darauf beruhte, auswendig spielen zu müssen.
Lange Zeit ist es doch vollkommen undenkbar gewesen, von Noten zu spielen.
Inzwischen machen es einige. Mitsuko Uchida zum Beispiel, Yuja Wang, Angela Hewitt. Damals war ich einer der ersten. Anfangs hatte ich Bedenken, dass Agenturen und Publikum sich daran stören könnten, aber niemand hat darauf geachtet. Sie achten aber sehr darauf, wenn man nervös ist. Dann fühlt sich das Publikum nicht in sicheren Händen.
Sie haben das Stück doch ohnehin in Kopf, Herz und Händen.
Natürlich spiele ich immer noch meistens auswendig. Aber wenn man ohne Noten spielt, dann muss man das gesamte Stück so im Kopf haben, dass man sich hinsetzen und es aufschreiben könnte. Dieses stumpfe Auswendiglernen hat mit der Musik nichts zu tun. Ich habe so viele Jahre damit zugebracht – es war eine Erleichterung, mich davon zu lösen! Ich hatte plötzlich viel mehr Zeit, um mich mit der Interpretation zu befassen. Und dafür spiele ich doch schließlich Klavier.
Auftrittstermine und weitere Informationen zum Pianisten Boris Giltburg: borisgiltburg.com