Bruce Liu
Eine Frage der Hingabe
3. November 2023
Seit der kanadische Pianist mit chinesischen Wurzeln Bruce Liu 2021 den renommierten Chopin-Wettbewerb gewann, steht er auf allen großen Bühnen der Welt. Nun legt er ein neues spannendes Album vor: »Waves« mit Musik von Rameau, Ravel und Alkan.
Herr Liu, ich erreiche Sie in Warschau? Hat es etwas mit dem Chopin-Wettbewerb zu tun, den Sie 2021 gewonnen haben?
Ich habe das Konzert für zwei Klaviere von Mozart gespielt.
Also kommen Sie ohne Chopin nach Warschau?
Ja, zum Glück.
Warum zum Glück? Mögen Sie keinen Chopin?
Wir alle lieben Chopin. Das ist einfach eine Frage, welches Gericht man an einem bestimmten Tag essen möchte.
Mit wem haben Sie denn gespielt?
Mit meinem Lehrer Đặng Thái Sơn, der den Wettbewerb 1980 gewonnen hat. Auch seine Karriere hat damit begonnen. An diesem Ort mit ihm zu konzertieren, hat eine besondere Bedeutung.
Wie hat der Gewinn des Chopin-Wettbewerbs Ihr Leben verändert?
Vollständig. Es wurde einfach von Schwarz auf Weiß umgestellt. Vorher habe ich ein ganz normales Studentenleben geführt. Völlig anders als die Leute, deren Karriere bereits am Laufen war. Aber ich war wirklich dankbar, dass mir das nicht schon mit 17 passiert ist. In dem Alter wäre ich überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen. Mit 24 war ich mental in der Lage, diesen Sturm auszuhalten.
Dieser Sturm weht Sie mittlerweile in die Konzertsäle rund um die Welt. Setzt einen so ein Erfolg unter Erwartungsdruck?
Für mich kam er ja vollkommen unerwartet. Insofern hatte ich keinen Grund, mich davon stressen zu lassen. Es kommt darauf an, wie man innerlich damit umgeht. Das gilt ja auch für den Wettbewerb.
»Man sollte einfach nur spielen wie zu Hause auch – aus Freude.«
Das heißt, es gibt schon Druck, aber entscheidend ist die eigene Haltung?
Es ist sehr individuell. Manche Leute sind vielleicht wirklich gut vorbereitet, haben aber einfach mehr zu verlieren, weil sie schon etwas bekannter sind. Natürlich bringt das zusätzliches Gewicht in die Sache. Am besten versucht man, den eigenen Geist davon vollkommen frei zu machen.
Das sagt sich leicht …
… und ist schwer umzusetzen! Man sollte einfach nur spielen wie zu Hause auch – aus Freude. Ich erinnere mich noch, wie unglücklich ich nach einer der Runden war. Ich habe schon meine Sachen zusammengepackt, um nach Hause zu fahren. Und dann blieb ich doch! Ich hatte wirklich versucht, nicht mitzukriegen, was außerhalb meiner Blase passierte, während ich in diesem Wettbewerb steckte. Erst hinterher habe ich erfahren, dass es offenbar bereits seit der ersten Runde viel positive Resonanz für mein Spiel gegeben hatte.
Und plötzlich sind Sie eine öffentliche Person. Von wem nehmen Sie überhaupt noch Kritik an?
Mein Lehrer ist natürlich immer noch meine Instanz. Er kennt mich sehr gut, meinen Charakter und meine Persönlichkeit, da ist ein tiefes Vertrauen. Und auch die Meinung meines Vaters ist mir sehr wichtig. Er ist gar kein Musiker, aber er hat meine Entwicklung mein Leben lang verfolgt. Ich bin jedoch auch sehr offen für neue Ideen. Die Frage ist, bis zu welchem Grad man solche Dinge annimmt.
Wenn man Sie spielen hört, bekommt man den Eindruck, dass es Ihnen mehr um Zwischentöne und Nuancen geht als um Muskelspiel.
Deshalb liebe ich es, Soloabende zu spielen. Ich habe so viel zu erzählen. Ich mag die riesige Bandbreite der Stile, die Kontraste, den Kontakt zum Publikum. Es ist auch eine Frage der Hingabe. Jedes Mal klingt es irgendwie anders. Ich kann jede noch so kleine emotionale Verschiebung spüren, jedes Detail.
Wie ist denn das, wenn Sie mit Orchester spielen?
Da verteilt sich die Aufmerksamkeit mehr. Das Orchester spielt gut, der Saal ist toll …
…und Sie haben gerade mal eine Probe und dann die Generalprobe zusammen, und dann ist schon das Konzert.
Orchesterkonzerte sind ein bisschen wie Speeddating für mich. (lacht) Man muss in der Lage sein, schnell herauszufinden, wer der andere ist. Es ist sehr wichtig, dass einem die eigenen Gestaltungsmittel bewusst sind.
Die Deutsche Grammophon bringt gerade ein Soloprogramm von Ihnen heraus. Die Werke stammen aus verschiedenen Epochen. Was sind die subkutanen Verbindungslinien zwischen den drei Komponisten Rameau, Alkan und Ravel?
Also zunächst einmal sind sie alle Franzosen. Mir ist es wichtig, die Unterschiede herauszuarbeiten. Alkan hat romantische Komponisten stark beeinflusst. Er schreibt sehr virtuos, aber es ist auch interessant, aus dieser Virtuosität etwas zu machen. Das ist anspruchsvoll. Er ist heute vergessen.
Dafür ist Ravel in Frankreich eine Art Säulenheiliger.
Er kommt mir vor wie eine Bündelung verschiedener Identitäten. Einerseits klingt seine Musik natürlich impressionistisch, aber dann gibt es auch wieder ganz andere Stücke. Da hört man arabische und orientalische Einflüsse. Und die französische Barockmusik wird oft vernachlässigt. Bei Barock denken viele an Bach oder Scarlatti und weniger an Rameau oder Couperin.
»Orchesterkonzerte sind ein bisschen wie Speeddating!«
Finden Sie? Ich habe den Eindruck, dass die beiden durchaus vorkommen in den Pariser Konzertprogrammen.
Vielleicht eher bei Cembalisten? Ich glaube, es gibt eine gewisse Zurückhaltung, dieses Repertoire auf dem Klavier zu spielen.
Sie haben gesagt, dass Sie sich, um sich Rameaus Stil zu nähern, Aufnahmen von Cembalisten angehört haben, insbesondere von Wanda Lewandowska. Nun sind die Möglichkeiten für einen modernen Konzertflügel, sich einem Cembalo anzunähern, notwendigerweise beschränkt. Was wollten Sie erreichen?
Ein riesiger Unterschied ist die Tatsache, dass das Cembalo dynamisch gleichbleibend ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir auch auf dem Klavier alles genau gleich laut spielen sollen. Cembalisten zeigen die musikalischen Kontraste eben auf andere Weise. Da gibt es zum Beispiel diese Art, beim Spielen eines Akkords einen kleinen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Händen zu lassen. Der Bass setzt ein ganz bisschen früher ein. Man spielt dann – wie wir früher als Kinder gesagt haben – wie ein schlechter Pianist eben spielt! (lacht)
Auf dem Cembalo käme ein monolithisch hingedonnerter Akkord einem Gewaltakt nahe.
Wenn ich mir Stil und Logik der Barockmusik zu eigen mache, muss ich vieles anders machen, als ich es gelernt habe. Man kann hören, ob ein Pianist die Musik in diesem Sinne versteht.
Würden Sie gerne Cembalo lernen, um dieses Repertoire zu spielen?
Lieber Orgel. Ich glaube, das Cembalo ist nicht besonders hilfreich für Pianisten.
Sie sind in Paris geboren, Ihre Eltern haben sich dort kennengelernt. Ist in das Programm ein spezieller Bezug zu Ihrer eigenen Biografie eingewoben?
Wir sind sehr früh aus Paris weggegangen.
Sie leben in Montréal. Was sind Sie eigentlich? Kanadier, Chinese, Franzose?
Ich würde es so ausdrücken: ein Kanadier, der in Paris geboren wurde, aber ursprünglich aus China stammt.
Für wen sind Sie denn im Fußball?
Oh! Für keines dieser Länder. Beim letzten Mal habe ich Argentinien die Daumen gedrückt. Ich habe Freunde auf der ganzen Welt. Weil ich fließend Mandarin spreche, sehen mich Chinesen als Chinesen an. In Kanada, diesem sehr multikulturellen Land, gibt es sowieso die unterschiedlichsten Hintergründe. Und in Frankreich sind die Leute – wie in allen romanischen Ländern – einfach glücklich, wenn jemand ihre Sprache spricht.
Das klingt, als würden Sie locker von einer Schublade in die andere hüpfen.
Für mich ist das sehr natürlich, weil ich so viel herumgekommen bin. Ich glaube, ich passe an viele Orte.
Ich habe von Einwandererkindern gelesen, die sich in der Schule an die Gleichaltrigen anpassen, deren Eltern aber ihre mitgebrachten Wertmaßstäbe aufrechterhalten wollten. Für die Kinder war das eine Zerreißprobe.
Bei mir war es genau das Gegenteil. Andere chinesische Eltern haben ihre Kinder sogar versucht zu zwingen, sich möglichst schnell an die neue Kultur anzupassen. Das ist sehr verbreitet. Und wenn die Kinder dann erwachsen werden, merkt man, dass sie kaum Chinesisch sprechen.
Sie haben ja auch einen englischen Vornamen. Hören Sie eigentlich auf „Bruce“?
Klar. Aber natürlich habe ich meinen chinesischen Vornamen Xiǎoyǔ behalten.
Schauju spricht man ihn aus? Das hätte ich mir schwieriger vorgestellt.
Ich glaube, wenn die Leute das X sehen, kriegen sie Panik. (lacht)
Das kann ich mir vorstellen. Aber warum ausgerechnet Bruce?
Als ich etwa 15 war, spielte ich das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow mit Montréal Symphony, und jemand sagte, ich sähe aus wie Bruce Lee.
»Für mich ist es beim Üben sehr wichtig, in diese Welt komplett einzutauchen. Oft will ich dann gar nicht zurück in die Welt da draußen.«
Die Martial-Arts-Ikone?
Ich habe das nicht ernst genommen. Aber dann habe ich gemerkt, dass es in der klassischen Musik keinen Bruce gibt. Und dachte, warum eigentlich nicht?
Wenn die Leute es mögen … Und sonst? Sind Sie sehr aktiv auf Social Media?
Ich versuche, Dinge zu teilen. Es geht nicht immer nur um die Konzerte, sondern um auch um das, was dahinter ist. Ich denke, das könnte die Leute interessieren.
Machen Sie das selbst?
Instagram ja. Aber weil die Zeit so knapp ist, kümmern sich andere um andere Plattformen.
Dann haben Sie eine ganze Mannschaft hinter sich?
Ja. Ich muss ja auch ab und zu mal üben. Die Musik ist immer noch das Wichtigste von allem. Wenn das Drumherum nicht funktioniert, lenkt einen das sehr ab von dem, was man eigentlich tun möchte.
Wie schaffen Sie es, Abstand zu bekommen?
Es geht darum, die Welten auseinanderzuhalten und die Zeit für das zu nutzen, was jeweils gerade dran ist. Wenn ich übe, dann versuche ich, mich da vollständig hineinzuversenken, selbst wenn ich gerade in einer ganz chaotischen Situation bin. Ich vergesse dann, was sonst noch los ist. Für mich ist es beim Üben sehr wichtig, in diese Welt komplett einzutauchen und nicht nur mechanisch zu trainieren. Hinterher fühle ich mich großartig, als hätte ich meinen Geist gereinigt. Oft will ich dann gar nicht zurück in die Welt da draußen.
Wie machen Sie das, wenn Sie auf Reisen sind? Woher nehmen Sie ein Klavier zum Üben?
Die örtlichen Veranstalter kümmern sich normalerweise darum.
Und was für Klaviere sind das?
Es kann ein Klavier in einer Musikschule sein oder in einer Umkleide. Oder, wie hier in Warschau, dass ich ein Klavier im Zimmer habe. Das ist cool!
Also sind Sie wahrscheinlich auch ganz gut darin geübt, auf richtig schlechten Instrumenten zu spielen?
Ich bin immer froh, wenn ich auf schlechten Instrumenten üben kann. Das fordert mich heraus!