Enrico Caruso
Die geschmeidigste aller Stimmen
von Helmut Krausser
14. Juli 2021
Caruso wurde zum Synonym für alle großen Tenöre. Mit seiner Stimme entfachte er Leidenschaften und rührte sogar Bühnenkollegen zu Tränen. Am 2. August 2021 jährt sich sein Todestag zum 100. Mal.
Das Leben Carusos wurde des Öfteren verfilmt – und fast immer verkitscht. Dabei böte der Stoff so etliches Nebeneinander von Triumph und Tragik. Ein großes Schicksal schien dem Jungen nicht in die Wiege gelegt. Sein erster Gesangslehrer sprach ihm gar jegliches Talent ab und unterrichtete ihn nur unter der – doch arg dubiosen – Bedingung, der Schüler müsse ihm 25 Prozent seiner Einnahmen abgeben, falls er überraschend doch einmal Karriere machen sollte. Derselbe Gesangslehrer riet ihm, den eigentlichen Vornamen Errico in das geläufigere und feintönendere „Enrico“ zu tauschen. Carusos Geschichte ist die eines lange unterschätzten, willensstarken und fleißigen Emporkömmlings, der seine als herablassend empfundene Geburtsstadt Neapel so sehr gehasst hat, dass er schwor, niemals in ihr zu singen. Diesen Schwur hielt er bis zum Schluss.
Ja, wenn es jemanden gäbe, der diese Stimme glaubhaft imitieren könnte, wäre das ein bunter bis prächtiger Filmstoff – auf allen Ebenen: Acht Jahre lebte Caruso unverheiratet mit der Opernsängerin Ada Giachetti zusammen, mit der er auch zwei Söhne hatte, Rodolfo und Enrico. Entgegen heutiger Vorstellung war das zwar ein Skandal, aber ein überschaubarer, vor allem in Künstlerkreisen. Es folgte ein spektakulärer Twist. Ada verließ ihren immer erfolgreicheren – angeblich oft untreuen – Lebensgefährten und brannte mit dessen Chauffeur durch, was viele Sorgerechtsprozesse zur Folge hatte.
Caruso tröstete sich mit Adas Schwester Rina, ebenfalls Sängerin, bis er – der kaum ein Wort Englisch sprach, nur ein paar auswendig gelernte Phrasen – verblüffenderweise eine amerikanische Millionärstochter heiratete, Dorothy Park Benjamin. Im Alter von 45 Jahren wurde Caruso Vater einer Tochter, Gloria. Er war auf dem Gipfel seiner Karriere, war ein gemachter Mann, auf allen Ebenen. Was sich auch herumsprach: Aufgrund seines Reichtums soll es die „Schwarze Hand“, eine Vorgängerorganisation der Mafia, auf den Sänger abgesehen haben. In Kuba entging er nur mit viel Glück einem Bombenattentat.
Caruso war berühmt für seine Großzügigkeit und seinen etwas jugendlichen Humor, der bis hin zu derben Späßen führte, etwa, wenn er den Ärmel eines Mantels zunähte, den ein Kollege in La Bohème auf der Bühne anziehen musste, oder als er Wasser in den Hut füllte, den sich jemand aufzusetzen hatte. Talent zeigte er auch als Karikaturist, der binnen Sekunden Künstlerkollegen mit dem Zeichenstift aufspießen konnte, oft treffend, manchmal gar schmerzend, weshalb einige versuchten, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Was natürlich nichts half: Er zeichnete auch aus dem Gedächtnis – einem Gedächtnis, das fabelhaft genannt werden muss. Hatte er eine Rolle einmal gelernt – sein Repertoire umfasste 67 Partien! –, kannte er nicht nur seinen eigenen Text, sondern auch den aller Kollegen und Kolleginnen, die zeitgleich mit ihm auf der Bühne standen. Und behielt ihn im Kopf, ohne je auffrischen zu müssen. Niemand kann das nachprüfen.
Einfühlsame Inbrunst
Seine intelligente, äußerst ökonomische Stimmführung kannte keine billigen Affekte und Hervorhebungen, er sang jede Note eines Liedes, einer Arie mit demselben Respekt, derselben Sorgfalt, ohne Hierarchien zu setzen oder Kraft für besonders wirksame Stellen zu sparen. Man möchte, wenn man seine baritonale Stimme hört, mit der er zur Not sogar Bassarien singen konnte, poetisch reagieren, von vorsichtiger, ja einfühlsamer Inbrunst sprechen, von graziöser, manchmal fast flatterhafter Leidenschaft, die indes nie die Bodenhaftung verliert, nie außer Kontrolle gerät oder in Bemühtheit oder selbstverliebte Hybris driftet. Man hört oft reden von der geschmeidigsten, schmeichelndsten aller Stimmen, die wie Öl an einem glatten Baum herunter‑, aber im nächsten Moment eben auch wieder hinaufrinnt, scheinbar befreit von allen Zwängen der Gravitation.
Vergleiche mit späteren großen Tenören hinken schon aufgrund der unterschiedlichen Aufnahmequalität und dem damit verbundenen Reichtum an Obertönen: Die Trichterschall-Aufnahmetechnik war Frauen nicht wohlgesonnen, ihre Obertöne wurden, im Gegensatz zu denen der Männer, quasi außen vor gelassen. Das sollte man wissen, hört man sich die großen Sopranistinnen der Nullerjahre an und wundert sich. Im Netz finden sich auch noch etliche Caruso[1]Aufnahmen, deren Tempo nicht nachjustiert wurde, oft sind sie drei bis sieben bpm [beats per minute, Schläge pro Minute, Anm.d.Red.] zu langsam.
Melodramatische Verzweiflung
Carusos Vortrag hat erstaunlich wenig Patina angesetzt. Natürlich könnte man manches, wie zum Beispiel den Schluss von E lucevan le stelle aus Puccinis Tosca, heute wohl nicht mehr so singen, wie es damals Konvention war, mit all dem Herzschmerz und der melodramatischen Verzweiflung, die uns etwas fremd-schäm-schluchz-winselnd anmutet, zu ihrer Zeit aber ganze Opernhäuser für Minuten lahmlegen konnte, weil viele Mitwirkende in Tränen ausbrachen – dokumentiert zum Beispiel während einer Aufführung der Manon Lescaut in Mailand 1903, als der Dirigent abbrechen musste.
Einem solchen Moment allgemeiner Überwältigung haben wir den angeblich ersten Bühnenkuss überhaupt zu verdanken. Es war die Sopranistin Lina Cavalieri – damals wurde ihr von den Magazinen der Titel „Die schönste Frau der Welt“ verliehen –, die von Carusos Stimme so hingerissen war, dass sie ihn plötzlich auf offener Bühne umarmte und küsste, etwas, das Giacomo Puccini mit tiefem Neid und Eifersucht erfüllte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Freundschaft Carusos zu Puccini hat sich direkt in der Geschichte der Oper niedergeschlagen. Puccini komponierte mehrere Partien explizit für Caruso, so vor allem natürlich den Dick Johnson in La fanciulla del West, 1910 in der Metropolitan Opera, New York, ein fast beispielloser Triumph – nur Manon Lescaut, 1893, und La Rondine, 1917, wurden ähnlich bejubelt – für beide, den Sänger wie den Komponisten. Wenig bekannt dürfte eine andere Klammer sein. Sybil Seligman, die Londoner Bankiersfrau, Freundin und Muse Puccinis von 1903 bis zu seinem Tod 1924, war zugleich die beste Freundin Carusos – ein Verhältnis, das man einmal unter die Lupe nehmen sollte. Wie man heute weiß, war Sybil schwer kokainsüchtig, in der damaligen Gesellschaft keine Seltenheit. Wie man auch weiß, versorgte sie Puccini anlässlich der Amerikareise 1910 mit etlichen Portionen des weißen Pulvers. Wenn ihn, dann auch den Sänger? Die Frage bleibt wohl für ewig Spekulation, aber interessant in Bezug auf Carusos Gesundheit.
Für das Allermeiste aus Carusos musikalischem Nachlass gilt, dass es die Moden und Jahrzehnte gut überstanden hat und eben nicht schmalzig-fettig wirkt. Es ist unnötig zu sagen, dass er kein Überirdischer war, dass seine Verehrung und Verklärung ein gewisses Maß von Ungerechtigkeit zeitigt gegenüber vielen anderen, auch sehr großen, nachfolgenden Kollegen. Selbstverständlich spielt das Zeitkolorit eine Rolle. Caruso wuchs in eine Phase des Fortschritts hinein, die ein Wunder bereithielt, nämlich die Möglichkeit, menschliche Stimmen zum ersten Mal in anhörbarer Qualität auf Tonträger bannen, sie so dem Vergessen entreißen zu können. Das ist ein Vorteil, den nach ihm niemand mehr haben wird.
Caruso fehlte nur eines zur höchsten Stufe der Ikonen. Er war kein Beau, sah lange nicht so gut aus, wie er sang, war stämmig, von eher kleinem Wuchs, und er trug lange einen Schnauzbart, der zu seiner Zeit ein Synonym für Männlichkeit war, heutzutage aber eher derb oder drollig wirkt. Man wird einwenden, dass das irrelevant sei für die Biografie eines herausragenden Sängers. Ja und nein. Tatsache ist, dass Caruso darunter litt, seiner äußeren Erscheinung nach eher als – sagen wir mal – netter Onkel wahrgenommen zu werden. Wie so viele Künstler wurde er süchtig nach dem Beifall des Publikums, ein Umstand, der an sich nichts Besonderes darstellt, in seinem Fall aber schon, allein durch die unglaubliche Anzahl seiner Engagements.
863 Auftritte an der Metropolitan Opera
So sehr er sich terminlich verausgabte – bis heute hält er viele Rekorde mit allein 863 Auftritten an der Met! – und auch vermarktete, sind meines Wissens niemals Beschwerden laut geworden, wonach er, abgesehen von schwankender Tagesform, jemals Dienst nach Vorschrift abgeliefert hätte. Sein Wille, immer alles zu geben, könnte ihn schließlich auch das Leben gekostet haben. Es ist – mir wenigstens – kein anderer Fall bekannt, in dem ein Sänger darauf besteht, seine Rolle, nämlich die des Éléazar in La Juive von Jacques Fromental Halévy, zu Ende zu singen, obschon er auf der Bühne Blut spuckt und sich an seiner Partnerin festhalten muss, um nicht umzufallen. Dies geschieht an Heiligabend 1920.
Wie so oft ist es eine Krankheit (Rippenfellentzündung), die, rechtzeitig behandelt, meist harmlos ausfällt. Caruso weigert sich jedoch lange, zu lange, gegen jeden Arztbesuch, fügt sich schließlich, weil es nicht anders geht, in einen Kuraufenthalt, erholt sich an der Küste von Sorrent und plant bereits neue Auftritte, als es zu einem Rückfall kommt. Am 2. August 1921 stirbt er mit nur 48 Jahren, wird einbalsamiert und neun Jahre lang in einem Glassarg ausgestellt, bevor seine Witwe dem ein Ende setzt.
Die Marke Caruso
Er hinterließ ein schier unglaubliches Vermögen von sieben Millionen Dollar, das entspricht heute in etwa 170 Millionen. Diese Information ist beileibe kein biografisches Beiwerk, sie ist wichtig, um zu verdeutlichen, welcher Wert hinter der Marke Caruso lag und wie klug der Sänger sein Talent versilbert hat. Ein legendärer Marketingcoup war die Aufnahme des fünfminütigen, nicht unterbrochenen Sextetts (Finale Zweiter Akt) aus Donizettis Lucia di Lammermoor. Wer die Platte haben wollte, musste sieben Dollar dafür hinlegen, umgerechnet 170 Dollar in heutiger Kaufkraft – und die Platte wurde ein Renner!
Ihm gehörten unzählige Anwesen und Häuser in Amerika und ganz Europa, dazu Hunderte von Anzügen samt passender Lackschuhe sowie – Ergebnis seiner heimlichen Leidenschaft – eine bedeutende Sammlung seltener Münzen. Natürlich ist das alles nichts, verglichen mit dem, was er sonst noch hinterließ: 247 Aufnahmen seiner Stimme, die oft mit dem Einsetzen eines warmen Orgelklanges beschrieben wurde.
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