Charlotte Gainsbourg
»Provokation ist das Erbe meiner Familie«
von Rüdiger Sturm
25. Januar 2022
Radikaler Mut zur Intimität: Die Sängerin, Schauspielerin und Dokumentarfilmerin Charlotte Gainsbourg glaubt an keine höhere Macht, versteht aber das Konzept der Schuld.
CRESCENDO: Sie haben Ihrer Mutter Jane Birkin unlängst eine sehr persönliche Dokumentation gewidmet. Aber ist es eine Belastung, die Tochter zweier so prominenter Künstler zu sein?
Charlotte Gainsbourg: Die Frage habe ich mir nicht gestellt. Ich bin sehr stolz auf meine Eltern. Und ich hatte als Kind auch nie das Bedürfnis nach Anonymität, obwohl wir ständig fotografiert wurden. Allerdings muss ich zugeben: Wenn ich Musik mache, ist es schon schwierig. Denn ich habe meinen Vater und meine Mutter aufs Podest gehoben. Infolgedessen vergleiche ich mich mit ihnen. Das lässt mich schon zweifeln, ob ich ihnen gerecht werden kann.
Sie begannen Ihre musikalische Karriere 1984 mit dem hoch kontroversen Song Lemon Incest, den Ihr Vater mit Ihnen aufnahm, als Sie 13 waren. Waren Sie sich des Skandals bewusst?
Zunächst nicht, weil ich damals im Internat und davon abgeschirmt war. Als ich das dann mitbekam, habe ich es aber eher genossen, Teil dieser Provokation zu sein. Ich liebe es, wenn ich wie eine Art Marionette bei etwas mitwirken kann, das öffentliches Aufsehen erregt. Ich kenne ja die wahren Hintergründe. Das gilt auch für meine schauspielerische Zusammenarbeit mit Regisseur Lars von Trier. Und ich betrachte diesen Song als ein Geschenk, das mein Vater mir gemacht hat. Ich höre ihn heute noch gerne, denn ich mag meine Stimme als junges Mädchen.
Allerdings dauerte es dann rund 20 Jahre, bis Sie ihr zweites Album herausbrachten – 15 Jahre nach seinem Tod.
Weil ich das Gefühl hatte, dass ich Musik nur gemeinsam mit ihm machen konnte. Ich musste mich ganz, ganz langsam an den Gedanken herantasten, dass ich allein Songs aufnehmen würde – ohne ihn und seine Texte. Letztlich habe ich begriffen, dass ich selbst etwas zu sagen habe. Zunächst hatte ich nicht das nötige Selbstvertrauen. Deshalb arbeitete ich bei meinem zweiten Album mit Künstlern wie Air oder Jarvis Cocker zusammen. Erst danach spürte ich immer mehr Lust, Songs selbst zu schreiben. Live singe ich nur meine Songs. Die Lieder meines Vaters haben nicht wirklich mit mir zu tun – ich könnte sie nicht allein darbieten.
Daneben sind Sie als Schauspielerin erfolgreich, waren in hoch kontroversen Filmen wie Lars von Triers Antichrist oder Nymphomaniac von zu sehen. Was gibt Ihnen die Musik im Vergleich dazu?
In der Musik kann ich über mich selbst sprechen. Ich habe die Kontrolle. Selbst wenn mal etwas schiefgeht, weiß ich, dass ich das auf meine Weise steuern kann. Natürlich setzt das auch voraus, dass ich an mich glaube, und das ist nicht immer einfach, speziell bei Live-Auftritten. Bei der Schauspielerei ist das genau umgekehrt. Ich liebe es, wenn ich mich der Kontrolle des Regisseurs und der Geschichte überlassen kann.
»Das Einzige, wofür ich mich nicht schuldig fühle, ist Provokation.«
Dabei wirken Sie eigentlich sehr schüchtern und zurückhaltend.
Das bin ich auch.
Warum spielen Sie dann Rollen in psychisch aufreibenden Filmen – zum Teil verbunden mit expliziter Nacktheit?
Ich weiß, dass das ein Widerspruch ist. Aber für mich ergibt es Sinn, denn als schüchterner Mensch muss man sich einfach antreiben. Man muss versuchen, an die Grenze zu gehen, und je extremer diese Grenze ist, desto besser. Das ist die einzige Erklärung, die ich zu bieten habe.
Haben Sie keine Bedenken, dass Ihre Kinder diese Filme eines Tages sehen?
Natürlich werden sie das. Aber meine Mutter drehte Je t’aime moi non plus, und ihre Szenen in dem Film galten als schockierend. Ich war damals vier oder fünf, als der Film entstand, und ich sah ihn erst mit 18. Und es war mir nicht peinlich. Gerade das gab mir die Sicherheit, dass auch meine Kinder eines Tages keine Probleme mit solchen Szenen haben würden. Wobei ich mich nicht mit meiner Mutter vergleichen möchte. Auf jeden Fall bin ich als Person ganz okay, ich bin nicht verrückt geworden, ich habe nicht darunter gelitten. So glaube ich, dass ich auch meinen Kindern mit meinen Filmen nichts Schlimmes antue. Aber zumindest habe ich mir Gedanken gemacht, ob die Gefahr besteht.
Anders als Ihre Eltern machten Sie als Schauspielerin Karriere. Wie kam es dazu?
Das war reiner Zufall. Meine Mutter vermittelte mich, als ich zwölf war, für den Dreh von Duett zu Dritt, danach habe ich einfach weitergemacht. Damals war das für mich nur ein Abenteuer. Ich habe mich nie wirklich für eine Schauspielerin gehalten, weil ich das nicht gelernt habe – ebenso wenig wie für eine Sängerin.
Und nun sind Sie mit Jane By Charlotte auch noch Regisseurin geworden.
Was ich nicht wollte. Ich betrachte mich auch nicht als Regisseurin. Ich wollte einfach einen Film über meine Mutter machen. Ich wollte ihr nahekommen, jedes Detail von ihr studieren. Der Film war einfach ein Vorwand. Zum Glück hat sie das akzeptiert. Zwischenzeitlich ist sie allerdings ausgestiegen, weil sie das gedrehte Material hasste. Aber mit zwei Jahren Abstand mochte sie es doch, und sie machte wieder mit.
»Der Film war ein Vorwand, meiner Mutter nahezukommen.«
Wollen Sie Ihren Eltern Denkmäler errichten? Dieses Jahr kündigten Sie ja auch an, aus dem Pariser Haus Ihres Vaters ein Museum zu machen.
Richtig. Sinnigerweise geschieht das im gleichen Jahr, in dem ich diese Dokumentation fertiggestellt habe. Ich hatte einige Jahre in den USA verbracht, aber ich habe – auch wegen Covids – die Notwendigkeit gespürt, wieder in meine Heimat zurückzukehren und meiner Mutter nahe zu sein. Und es ist für mich auch wichtig, das Haus meines Vaters als Museum wiederzueröffnen. Zum Glück habe ich da auch jemanden, der mich dabei unterstützt. Allein hätte ich das nicht geschafft. Für mich ist das auch ein Weg des Abschiednehmens von ihm. Es wird schmerzvoll sein, aber es ist notwendig.
Was die Frage aufwirft, ob Sie religiös sind?
Nein, auch wenn ich mich meiner jüdischen Herkunft, also der Seite meines Vaters, verbunden fühle. Aber ich hatte keine religiöse Erziehung, und ich glaube an keine höhere Macht. Der einzige Punkt, den ich sehr, sehr gut verstehe, ist das Konzept der Schuld. Das habe ich in meiner Jugend vermittelt bekommen.
Wofür fühlen Sie sich schuldig?
Für alles. Ich weiß nie, ob ich mich gegenüber meinen Kindern richtig verhalte. Das Einzige, wofür ich mich tatsächlich überhaupt nicht schuldig fühle, ist zu provozieren. Denn das ist das Erbe meiner Familie.