Suzy Digby
Singen verändert die Welt
von Barbara Schulz
6. Dezember 2018
Der Chor ORA hat mit dem Album „Many are the Wonders“ den Opus Klassik als Ensemble des Jahres gewonnen. Ein Gespräch mit der Gründerin Suzi Digby
Der Chor ORA hat mit dem Album „Many are the Wonders“ den Opus Klassik als Ensemble des Jahres gewonnen. Ein Gespräch mit der Gründerin Suzi Digby, die dafür brennt, mit Gesang Brücken zu bauen – um damit das Leben der Menschen zu verbessern.
CRESCENDO: Zuallererst natürlich: Herzlichen Glückwunsch zum Preis, Frau Digby!
Suzi Digby: Vielen Dank! Diese Wertschätzung für unsere Arbeit ist großartig. Und unter uns: Ich fühlte mich wie Angelina Jolie, als ich über den roten Teppich gelaufen bin.
Worin sehen Sie den Grund, dass Sie den Preis gerade für das Album „Many are the Wonders“ gewonnen haben?
Vielleicht weil es unser Konzept sehr gut zeigt. Wir befinden uns ja im Moment in einem goldenen Zeitalter der Chormusik. Das letzte liegt bereits 500 Jahre zurück: die Renaissance, mit ihrer ganz speziellen Musik. Das war für mich der Grund, Komponisten zu beauftragen, über diese Musik nachzudenken. Und auf diesem Album reflektieren Komponisten über die Musik von Thomas Tallis, die zur Zeit der englischen Reformation entstanden ist. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich. Jedes Stück spricht seine eigene Sprache – ein faszinierender und spannender Spaziergang durch die Musik: Was machen die Komponisten mit dem Stück, welchen Aspekt wählen sie, um einen neuen Blick darauf zu werfen? Viele können dem Genie des Originals standhalten.
Was ist das Geheimnis des Chors?
Zum einen natürlich die Qualität der 18 Sänger. Zum anderen das künstlerische Konzept: Komponisten in einer solchen Hochphase der Chormusik zu beauftragen, diesen Moment jetzt nicht zu verpassen. Ich habe wirklich viel Erfahrung mit Chören überall auf der Welt gemacht, aber ietzt gerade passiert etwas sehr Aufregendes in der Chormusik. Die Komponisten trauen sich endlich wieder, schöne tonale Musik zu schreiben. Das war jahrzehntelang überhaupt keine Option.
„Jedes Stück spricht seine eigene Sprache – ein faszinierender und spannender Spaziergang durch die Musik“
Warum plötzlich diese positive Entwicklung?
Ich glaube, das ist wie in der visuellen Kunst. Der Dadaismus hatte die Aufgabe, die formale Kunst, nein, eigentlich alles zu zerstören, was bis dahin gegolten hatte, um etwas Neues, nämlich die abstrakte Kunst zu schaffen, während die figurative nicht mehr akzeptabel war. In der Musik bedeutete das, dass tonale Musik nicht mehr stattfand. Sie wurde ersetzt durch neue Strukturen: serielle Musik, Zwölftonmusik oder etwas in der Art. Ich finde experimentelle Musik ausgesprochen aufregend. Aber jetzt gibt es eine neue Generation von Komponisten mit sehr individueller und origineller Tonalität. Und mit ihnen kommt das Publikum zurück – es wollte wieder neue Musik hören.
Ihre Chance also …
Ja! Nun liegen 500 Jahre zwischen diesen beiden goldenen Zeiten. Und über die wollte ich mit kreativen Menschen eine Brücke schlagen. So entstand die Idee, innerhalb von 10 Jahren 100 Komponisten auf der ganzen Welt zu beauftragen.
Nach welchen Kriterien wählen Sie die Komponisten aus?
Ich habe eine lange Liste von Künstlern, die ich spannend finde, die ich bewundere und mit denen ich gerne arbeiten würde. Wolfgang Rihm zum Beispiel. Er kennt uns nicht, aber …
Bis jetzt …
(Lacht) Ja, vielleicht. Nun, manche von diesen Komponisten haben vielleicht noch nie Chormusik geschrieben, andere wiederum sehr viel … Zudem mische ich gern die Genres – Jazz, auch elektronische Musik. Es sind also sehr unterschiedliche Komponisten, die mich interessieren.
Sie agieren insgesamt sehr interdisziplinär und arbeiten auch mit Designern. Was ist die Idee dahinter?
Es sah ja lange so aus, als würde das junge Publikum die klassische
Musik komplett verlassen. Das Angebot ist zu groß. Die Jugendlichen müssen selbst Erfahrungen sammeln, die Musik am eigenen Leib spüren – als ganzheitliches Erlebnis. Dafür habe ich die „Local Futures“ gegründet, eine Wohltätigkeitsorganisation für junge Menschen. Dort probieren wir so viel aus – das ist fast schon wie Theater. Denn natürlich ist auch das Visuelle wichtig. Es soll und kann die Musik noch intensiver machen. Das Publikum soll auf eine Weise ergriffen sein, die der Musik nichts wegnimmt: das Licht, die Inszenierung, die Position der Sänger …
Wo finden Sie Ihre Sänger?
Ich habe einen sogenannten Fixer – der wichtigste Mann in meinem Leben (lacht). Und glücklicherweise sind wir in London in der Situation, dass es einen Pool von wirklich tollen Sängern gibt. Sie müssen extrem gut vom Blatt singen können, weil sie sehr teuer sind und wir entsprechend wenig Probenzeit haben. Darüber hinaus müssen sie stilistisch vielseitig sein und fähig, in einem kreativen Ensemble zusammenzuarbeiten, sowohl von ihrer Persönlichkeit als auch von der Stimme her.
„Junge Menschen kommen, wenn sie spüren, dass sie komponieren
wollen und etwas zu sagen haben“
Sie haben einen Komponisten-Wettbewerb ins Leben gerufen.
Ja, ich möchte die nächste Generation junger Komponisten fördern und ermutigen. Es geht darum, Talente zu finden. Dafür schicken wir ORA-Komponisten in die Schulen: Sie arbeiten lange mit den Schülern und unterstützen sie. Sie geben den Anstoß, die Idee und entwickeln mit dem jungen Komponisten ein Ergebnis, das aufgeführt werden kann. Die Aufführung der Gewinner gestaltet ORA. Die wenigsten Schulen können solche Unterstützung leisten.
Sie entdecken also Talente, die noch nicht einmal ansatzweise wissen, dass sie Talente sind …
Ja, aber eigentlich geschieht die Selektion von selbst. Junge Menschen kommen, wenn sie spüren, dass sie komponieren
wollen und etwas zu sagen haben. Und erst dann kommen
unsere Komponisten als Vorbilder ins Spiel.
Ihnen war immer wichtig, mit der Musik Brücken zu schlagen.
Ja, ich bin eine große Brückenbauerin. Ich hab das schon immer getan, mein Leben lang. Ethische, religiöse, soziale Grenzen können so einfach überwunden werden. In der Gruppe zu singen dürfte der einzige Weg sein, verschiedene Kulturen, Vorstellungen und Werte zu verbinden. Daran hab ich instinktiv immer geglaubt. Ich bin ein globaler Mensch: geboren in Japan, gelebt in Asien und studiert – irgendwie überall auf der Welt. Und immer habe ich sehr konstant daran gearbeitet, Gemeinschaften und Gruppen durch das Singen zueinanderzuführen und zusammenzubringen. Das ist auch der Grund, warum ich so viel beauftrage. Weil ich zu meinem Komponisten sagen kann: Ich möchte, dass du den arabischen Text mit dem englischen Lied für diese Gruppe kombinierst. Denn allein im Kinderchor haben wir fünf oder sechs verschiedene Religionen und Gemeinschaften.
„Alt und Jung, Menschen, die noch nie im Konzert waren – ich möchte sie alle anstecken mit der Begeisterung für diese Musik“
Sie glauben, Singen ist hinsichtlich der Grenzen effektiver als das Spielen von Musik, wie zum Beispiel bei Barenboims West-Eastern Divan Orchestra?
Der große Unterschied: Es gibt einen Text, also eine Idee, ein Gefühl, das geteilt werden kann. Außerdem: Jeder kann singen. Wenn man also das richtige Repertoire wählt, kann man viele, viele Menschen sehr, sehr unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen. Keiner muss ein Instrument können. Das ist die Idee hinter dem London Youth Choir, der irgendwie auch diese Stadt repräsentiert – die kulturell vielfältigste Stadt der Welt. Hier singt eben nicht nur die weiße Mittelklasse. Und so bringen wir viele Gemeinschaften zusammen und schaffen es mit unserem Repertoire, dass sie über diese Vielfalt nachdenken.
Von wie vielen Sängern sprechen Sie?
350 bis 400. Und sie kommen alle, aus 32 Stadtteilen Londons. Allein die Fahrt zum Chor kostet unter Umständen viel Zeit. Aber sie sind alle da. Und die Menschen erkennen, dass das eine Riesenchance ist: Menschen zusammenzubringen, die man sonst nicht zusammenbringen kann.
Was inspiriert Sie?
Ich singe, seit ich drei Jahre alt bin. Ich habe auch mal Klavier gespielt, auch das wäre ein Weg gewesen. Ich war aber so eingebunden in meine Arbeit mit Kindern und in die Arbeit mit Menschen, dass ich mich sehr schnell dafür entschieden habe. Ich wollte nicht allein in meinen vier Wänden arbeiten. Und ich fühlte mich immer hingezogen zu Randgruppen und Kindern, die gemobbt wurden. Ich habe das immer sofort gespürt und wollte, dass sich diese Menschen wohler fühlen, auch mit sich selbst. Und genau daher kommt dieser Antrieb: Ich will mit Kindern arbeiten, die Probleme haben. Ich möchte ihnen den Weg zeigen, ein besseres Leben zu führen. Ich kann ihnen Selbstbewusstsein geben.
Was ist Ihr größter Wunsch für die Zukunft?
Ich würde mir wünschen, dass ORA ein Alltagsbegriff wird, bekannt auch außerhalb der eingeschworenen Chorgemeinde. Alt und Jung, Menschen, die noch nie im Konzert waren – ich möchte sie alle anstecken mit der Begeisterung für diese Musik. Neue Zuhörer zu rekrutieren, das ist ein großer Wunsch von mir. Und das Leben der Menschen nicht nur zu berühren, sondern zu ändern.