Christian Gerhaher

»Es ist doch ein entsetz­lich schwie­riger Beruf«

von Verena Fischer-Zernin

4. Dezember 2018

Der Bariton Christian Gerhaher über Gott und die Kirche, seine Liebe zu Schumann, musikalische Moden und die existenzielle Bedrohung durch Lampenfieber.

CRESCENDO: Herr Gerhaher, kürz­lich haben Sie an der Hambur­gi­schen Staats­oper Schu­manns Faust-Szenen gesungen – ein Werk, für das Sie sich sehr einge­setzt haben. Wie halten Sie es mit der Reli­gion?

: Aus der katho­li­schen Kirche bin ich ausge­treten, weil ich all den Lug und Trug nicht mehr aushalte. Dass die Diözese München beispiels­weise Milli­arden hortet, statt sie an Bedürf­tige zu geben, dass die Kirche ihr urei­genes Erbe der Kirchen­musik zum heutigen ruinösen Status verkommen ließ, dass sie einen Lehrer, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, entlässt, nur weil er homo­se­xuell ist – für diese schreck­liche Kirche, die von „gött­li­chem Recht“ spricht, um sich und ihre Niede­rungen abzu­schotten, habe ich eigent­lich nur Verach­tung übrig. Aber Ehrfurcht vor Christus, die habe ich im gebo­tenen höchsten Maße.

Jeden­falls bekreu­zigen Sie sich, bevor Sie auftreten!

Ich bin nicht sicher, ob ich das nicht eher aus Aber­glauben tue.

In Ihrem Leben kommt ganz schön viel Schu­mann vor. Zurzeit arbeiten Sie an einer Gesamt­ein­spie­lung seines Lied­schaf­fens. Warum Schu­mann?

Er ist mein Lieb­lings­kom­po­nist, und ich sehe ihn als Künstler schlechthin. Eine Eigenart der Romantik ist der Selbst­bezug, und speziell bei Schu­mann lassen sich Person und Werk einfach nicht vonein­ander trennen: Das ist kein Biogra­fismus, sondern höchste Ausfor­mung dieser Epoche. Der Pianist , mit dem ich seit unserer ersten Dich­ter­liebe vor 30 Jahren zusam­men­ar­beite, sagt immer: „Diese Musik ist weniger expressiv-kommu­ni­kativ als dass sie zurück, wie nach innen geht.“

Christian Gerhaher

»Bei Schu­mann gibt es eine über­ge­ord­nete poeti­sche Idee, die auf eine Bedeu­tung hinaus will.«

Wer hatte denn die Idee mit der Gesamt­ein­spie­lung, das Label oder Sie?

Gerold Huber und ich. Die Dich­ter­liebe und den Eichendorff’schen Lieder­kreis hatten wir schon auf unseren ersten beiden Schu­mann-CDs aufge­nommen, und jetzt veröf­fent­li­chen wir gerade die Kerner-Lieder. Damit schließen wir erst einmal die drei großen Zyklen ab.

Das heißt also, Sie entscheiden von Fall zu Fall, was Sie neu einspielen.

Einiges muss ich neu machen. Die Sechs Gedichte von und Requiem op. 90 kann ich jetzt besser. Das ist der mir viel­leicht wich­tigste Zyklus über­haupt von Schu­mann. Er zeigt exem­pla­risch, dass Schu­mann seine Lieder nicht als einzelne erqui­ckende, unter­hal­tende Stücke schuf, sondern fast alle Lieder in einem zykli­schen Zusam­men­hang konzi­piert und veröf­fent­licht hat. Bei ihm gibt es eine über­ge­ord­nete poeti­sche Idee, die sich über einen ganzen Zyklus erstreckt und in die auch die Gedichte einge­ordnet werden, eine Idee, die immer auch auf eine Bedeu­tung hinaus will. Wir haben also eine Drei­ecks­be­zie­hung zwischen dieser Idee, dem Text und der Musik. Zugleich lässt diese „poeti­sche Drama­turgie“ Platz für das Lyri­sche mit der für ein Gedicht typi­schen offenen Inhalts­struktur. Dann ist so ein Zyklus idea­ler­weise kein Drama, keine Mini­oper, sondern ergeb­nis­offen und viel­deutig.

Christian Gerhaher

»Für mich ist dieses Schu­mann-Projekt das einzige enzy­klo­pä­di­sche in meinem Leben.«

Ist Ihre Gesamt­ein­spie­lung auch eine Antwort auf die Ihres Lehrers ?

Fischer-Dieskau hat das ja mit allem gemacht, was sich aufnehmen ließ. Mit Schu­bert natür­lich, mit Strauss und Mahler, Brahms« Lieder hat er sogar zweimal einge­spielt, selbst Absei­tiges wie Nietz­sches Lieder. So einen Ehrgeiz habe ich nicht. Ich habe aber auch über­haupt nicht die Arbeits­kraft oder die Fähig­keit, das zu tun. Für mich ist dieses Projekt das einzige enzy­klo­pä­di­sche in meinem Leben.

War es bei ihm viel­leicht ein biss­chen zu viel?

Jemand hat ihn einmal „Lieder­ma­schine“ genannt. Das ist natür­lich böse. Aber es gab schon die Neigung zu einer Art Einheits­in­ter­pre­ta­tion mit einer gewissen Manie­riert­heit, und das konnte bei diesem Pensum ja gar nicht anders kommen. Seine Leis­tung ist bewun­derns­wert, aber ich finde, er hat sich damit eigent­lich selbst etwas genommen, nämlich die unbe­dingte klang­liche Indi­vi­dua­lität jeder einzelnen Lied­in­ter­pre­ta­tion. Ich kann manches, ehrlich gesagt, nicht mehr so recht hören, aber das ist auch einer anderen Tatsache geschuldet: Jeder Sänger ist einer Mode unter­worfen, die vergäng­lich ist, auch wenn er sie selbst so entschei­dend geprägt hat wie Fischer-Dieskau. Und dennoch – ich bin immer noch begeis­tert von seinem tech­ni­schen Vermögen. Und im Gegen­satz zu mir war er ein Muster­bei­spiel an früher Voll­kom­men­heit.

Wäre Fischer-Dieskaus Ästhetik heute über­haupt noch markt­taug­lich?

Das ist das Los jedes Künst­lers: dass seine Leis­tung post mortem einer Rela­ti­vie­rung unter­worfen ist; Fischer-Dieskau also mit heutigen Maßstäben zu messen, würde ihm nicht gerecht. So ein etwas rosa Schleier, der die Inter­pre­ta­tion einer ganzen Zeit prägte – ich erkläre mir das mit den noch rezenten Schre­cken des Holo­causts und des Zweiten Welt­kriegs – ist heute auch nicht mehr nötig. Von seinen mehr als epochalen Errun­gen­schaften aber zehren wir heute noch. Er hat die Lieder aus ihrem wohnzimmer­haft tändelnden senti­men­talen Umfeld heraus­ge­rissen, das war eine herku­li­sche Tat. Ich kann dieses Bild von nicht ausstehen …

Sie meinen den „Schu­bert-Abend bei Josef von Spaun“?

… wo sie alle schwär­me­risch um Schu­bert herum­stehen. Das find ich so dumm, sich das als Vorbild zu nehmen! Fischer-Dieskau hat das Lied aus dem Zusam­men­hang der direkten Erfahr­bar­keit in eine Mittel­bar­keit gebracht hat, die mit Intel­lekt zu tun hatte.

Christian Gerhaher

»Singen ist der Versuch, eine Idee sinn­lich zu begreifen.«

Sie spra­chen eben von Ihrer Arbeits­kraft. Beein­träch­tigt Sie Ihr Morbus Crohn?

Die Krank­heit war früher viel schlimmer. Jetzt habe ich sie eini­ger­maßen im Griff. Aber mit fast 50 ist man als Sänger viel­leicht über­haupt nicht mehr so leis­tungs­fähig. Mit zuneh­mender Erfah­rung wird die Vorstel­lung von dem, was man aussagen möchte, immer präziser. Aber die physio­lo­gi­schen Möglich­keiten, das umzu­setzen, gehen damit nicht unbe­dingt konform. Am Zenit beginnt dann das Abdriften dieser Möglich­keiten. Das erwarte ich mit Bange.

Geht es bei diesen Verän­de­rungen auch um körper­liche Kraft? Fordert Sie Oper mehr als Lied?

Schwer zu sagen. Es ist jeden­falls nicht primär eine Frage der Laut­stärke – im Lied darf man ja auch nicht nur rumsäu­seln. Das Problem bei der Oper ist nicht nur der oft beson­ders große Saal mit seiner enormen Tiefe, sondern man singt hinter einem Portal. Das braucht eine andere Projek­tion. Ich tappe immer wieder in die Falle, dass ich forciere und in die Maske singe. Das ist gefähr­lich. Denn dann kann die Stimme farb­lich, dyna­misch und ausdrucks­mäßig eindi­men­sional werden. Sie wird hell …

Was für die Verständ­lich­keit zunächst mal gut ist.

Ja, aber das ist dann eine andere Art Hellig­keit. Mein Ideal ist eine nicht forcierte oder in der Maske erzwun­gene, sondern eine dem Timbre imma­nente Hellig­keit, eine, die sich im Stimm­sitz verbirgt. Von dort trägt sie die Stimme mit sich selbst nach außen, ohne unan­ge­nehm scharf zu werden. Das klingt jetzt ein biss­chen esote­risch, aber meiner Erfah­rung nach ist es so.

»Singen ist der Versuch, eine Idee sinn­lich zu begreifen.«

Haben Sie eigent­lich Lampen­fieber?

Ja, habe ich.

»Oft leide ich von Ton zu Ton und von Lied zu Lied, weil die Nervo­sität so schreck­lich ist.«

Wie gehen Sie damit um?

Oft relativ hilflos. Ich versuche, mit Ritualen zu leben und so eine Repro­du­zier­bar­keit und Routine zu erzwingen, die ich künst­le­risch aber eigent­lich ablehne. Dadurch wird das Leben eines Sängers jeden­falls sehr einge­schränkt. Es gibt da wirk­lich verrücktes Zeugs, das den Hang zur Irra­tio­na­lität nicht abstreiten kann. Aber das ist auch das berech­tigte Einge­ständnis unserer Fehl­bar­keit. Es ist doch ein entsetz­lich schwie­riger Beruf, oder?

Gehören Sie zu denen, die mit dem ersten Ton auf der Bühne die Nervo­sität verlieren?

Über­haupt nicht. Wie oft habe ich das erlebt, dass ich von Ton zu Ton und von Lied zu Lied leide, weil’s so schreck­lich ist. Es wird dann oft sogar schlimmer und schlimmer. Das empfinde ich schon als eine exis­ten­ziell bedroh­liche Situa­tion.

Hilft es, sich die Abläufe bewusst zu machen?

Während des Studiums konnte ich mal alle Muskeln benennen, die an der Phona­tion betei­ligt sind. Aber es ist so rätsel­haft, wie die Gewich­tung des Zusam­men­spiels ist. Physi­sche Kontrolle über das haben zu wollen, was man ausdrü­cken möchte, wäre doch völlig vermessen.

Es gibt doch dieses schöne Wort vom Flow …

Also, wenn bei mir so etwas eintritt, dann entwickle ich das nur zu berech­tigte Gefühl der Skepsis. Gele­gent­lich hat man das Gefühl, groß­artig gewesen zu sein, und hinterher sagen die Leute, na ja … Aber ab und zu merke ich, ich habe heute die physio­lo­gi­schen Möglich­keiten, das, was ich ausdrü­cken möchte, auch öffent­lich so zu begreifen. Mit allen Schwie­rig­keiten, mit aller Konzen­tra­tion und trotz des Abgrunds, der da neben mir lauert. Es kommt vor, dass ich das über­lebe, und das sogar mit einem intel­lek­tu­ellen und sinn­li­chen Gewinn für mich selbst. Das ist dann eine Erfül­lung. Deswegen mach ich den Beruf: Singen ist der Versuch, eine Idee sinn­lich zu begreifen. Wenn das gelingt, dann ist es so schön, wie dieser Satz klingt: „Das reimt sich, und was sich reimt, ist wahr“, sagt der Pumuckl.

Fotos: Gregor Hohenberg