Konzerthaus Berlin 2019-2020
Photo: Marco Borggreve

Christoph Eschenbach

»Wir machen schwarze Punkte lebendig«

von Verena Fischer-Zernin

8. September 2019

Eine gute Zusammenarbeit mit den Musikern: Der Dirigent Christoph Eschenbach übernimmt das Konzerthausorchester in Berlin und baut auf sein bewährtes Fundament.

CRESCENDO: Herr Eschen­bach, Sie sind in Breslau geboren. Jeder anstän­dige Berliner kommt aus Breslau, sagt Tucholsky…

: … ach! (lacht)

Kommen Sie also nach Hause, wenn Sie in der neuen Saison die Leitung des Konzert­haus­or­ches­ters Berlin über­nehmen?

Das hat etwas. Die Bres­lauer sagen, Berlin sei ein Vorort von Breslau. Durch die ganze Historie hat sich das alles sehr verän­dert, aber etwas daran gilt noch. Mein Vater war Univer­si­täts­pro­fessor in Breslau und zugleich Diri­gent. Er hat den größten gesamt­schle­si­schen Chor geleitet und viele, viele Konzerte gegeben. Er starb 1945 in der letzten Schlacht um Berlin. Das ist mein persön­li­cher Zusam­men­hang.

Sie sind in Nord­deutsch­land aufge­wachsen. Sie haben als Kind in Schleswig-Holstein Orgel­dienste versehen, haben in Hamburg bei Eliza Hansen studiert, das Schleswig-Holstein Musik Festival mitge­prägt und waren Chef­di­ri­gent des heutigen NDR Elbphil­har­monie Orches­ters. Und nun machen Sie in Ihrer ersten Saison beim Konzert­haus­or­chester einen Brahms­Schwer­punkt. Von Brahms heißt es ja oft, der hätte so was nord­deutsch Schweres.

Brahms kam aus Nord­deutsch­land, aber er liebte Ungarn! Er hat in Wien gelebt, hatte in seiner Wohnung aus Stroh gemachte unga­ri­sche Puppen stehen, hat in seiner Jugend mit einem unga­ri­schen Geiger Ungarn bereist. Er war insge­samt sehr frei und offen. Auch im Ersten Klavier­kon­zert gibt es ja nicht nur das Schwere. Es gibt auch den unga­risch ange­hauchten letzten Satz und den unglaub­lich lyri­schen Mittel­satz, der das Land­schaft­liche über­steigt.

Kann eine Land­schaft das musi­ka­li­sche Denken prägen?

Ich liebe die nord­deut­sche Land­schaft – sie hat mein Denken in der Kind­heit geprägt. Was aber das Musi­ka­li­sche angeht, gab es sicher andere Prägungen, die wich­tiger waren. Dass es mich dorthin verschlagen hat, wie man so schön oder so unzu­tref­fend sagt, das war einfach Schicksal. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Ich bin nach dem Krieg bei einer Cousine meiner Mutter aufge­wachsen. Die beiden waren gut befreundet gewesen, beide waren ausge­bil­dete Pianis­tinnen.

»Die Musik hat mir Kraft gegeben und mir Mut gemacht, mich auszu­drü­cken.«

Bei Kriegs­ende ist Ihre Groß­mutter mit Ihnen nach Meck­len­burg geflohen. Sie starb in einem Flücht­lings­lager an Typhus. Das gerade fünf­jäh­rige Kind, das Sie waren, blieb zurück, eben­falls todkrank.

Meine zweite Mutter hat mich wirk­lich gerettet.

Sie müssen durch die Ereig­nisse schwer trau­ma­ti­siert gewesen sein, jeden­falls haben Sie damals für Monate die Sprache verloren. Wie haben Sie sie denn wieder­ge­wonnen?

Durch die Musik. Ich hörte – krank wie ich war – meine zweite Mutter jeden Abend stun­den­lang Klavier spielen. Die Musik hat mir Kraft gegeben und mir Mut gemacht, mich auszu­drü­cken. Und als meine Mutter mich fragte, willst du auch Klavier spielen, sagte ich: „Ja!“ Das war das erste Wort. (lacht, als wäre er selbst erstaunt)

Und dann konnten Sie plötz­lich spre­chen?

Es hat ein biss­chen gedauert. Ich musste mir selber Worte formen. Das war sehr schwierig. Aber der eigent­liche Bruch war nicht in der Sprache. Er war in der Seele.

Sie sind als Einzel­kind aufge­wachsen. Wie kamen Sie denn mit anderen Kindern zurecht?

Erst war es nicht so einfach. Ich konnte nicht teilen, was ich wusste. Ich wusste, dass es nicht verstanden würde. Es war ein Tabu in mir, das ich behielt. Eigent­lich sehr, sehr lange. Bis vor wenigen Jahren. Natür­lich habe ich im Lauf der Jahre einzelne Geschichten erzählt, aber es war kein wirk­li­ches Gesprächs­thema, das wollte ich nicht.

Wenn Sie proben, wie viel spre­chen Sie da? Musiker wollen ja lieber spielen, als Anspra­chen zu lauschen.

Man sagt präzise Worte, wo man sie notwendig findet – nicht mehr. Es gibt eine schöne Geschichte von dem Pianisten Edwin Fischer. Es ging um das zweite Brahms-Konzert. Das fängt so an… (singt den Anfang), und Otto Klem­perer diri­gierte … (singt das Gleiche, ein wenig verwa­schener). Fischer unter­bricht und sagt zu Klem­perer: „Maestro, es muss so klingen wie im Wald.“ Und Klem­perer erwi­dert (Eschen­bach nuschelt, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund): „Es muss so klingen wie im Wald.“ Sie proben weiter, Fischer unter­bricht wieder: „Etwas Sonne …“ und Klem­perer (nuschelnd): „Etwas Sonne!“ Ging auch nicht gut. Dann machen sie weiter, und Fischer ist glück­lich. Und Klem­perer nuschelt nur: „Also im Tempo!“ (lacht)

So etwas will ein Orchester nicht.

Ein Orchester will präzise Angaben. Wenn junge Diri­genten mich fragen, wie werde ich Diri­gent, dann sage ich denen: Hör zu, wie Diri­genten proben. Dann kannst du lernen, was schlecht ist – wenn sie zu viel reden. Und was gut ist – wenn sie präzis sind. Wie sie ein Resultat errei­chen im Orchester. Einen Erfolg im Klang­emp­finden. Oder nicht im Empfinden, sondern im Wissen.

Wie sehr glauben Sie an rein manu­elle Diri­gier­tech­niken, etwa einen bestimmten Winkel des Hand­ge­lenks?

Man muss bestimmte Diri­gier­tech­niken beherr­schen. Das lernt man aus seinem eigenen Körper. Es ist sehr wichtig, dass jeder Diri­gent früh sein eigenes Körper­ge­fühl lernt, auslotet und dann weiter­geben kann.

Das ist etwas sehr Persön­li­ches. Kann man das über­haupt weiter­geben?

Jeden­falls kann man es nicht kopieren. Ich habe sehr viel von Karajan gelernt und von meinem großen Mentor George Szell. Kopiert habe ich sie nie.

Christoph Eschenbach

»Meist ist es so, dass mich Stücke anspringen – und ich dann auf sie springe.«

Wenn Sie ein Stück einstu­dieren, was ist Ihr oberstes Ziel?

Zuerst, wenn ich die Partitur lerne, lerne ich die Struktur des Stückes kennen, die Farb­ge­bung des Stückes, die Zusam­men­hänge der einzelnen Teile und Details. Wenn ich es dann weiter­gebe, muss ich das alles schon im Kopf haben. Und im Geist.

Gibt es Momente, in denen Sie über einer Partitur grübeln und sich fragen, wie mach ich’s? Was hat der Kompo­nist gewollt?

Es gibt sehr kompli­zierte Parti­turen, bei denen man nicht gleich weiß, wie man’s macht. Aber es kommt schon. Nur wenn ich es gar nicht zustande bekomme, dann lasse ich es lieber sein. Ich habe nie ein Stück diri­giert, mit dem ich mich nicht 100-prozentig iden­ti­fi­zieren konnte. Wenn 99 Prozent schon da sind, kann das eine Prozent noch kommen. Meist ist es aber so, dass mich Stücke anspringen – und ich dann auf sie springe.

Das heißt, eigent­lich wählt das Stück Sie.

So soll es doch sein. Wir sind die Leben­dig­ma­cher dieser schwarzen Punkte auf weißem Papier.

Ich habe mal gelesen: „Ganz ohne Selbst­in­sze­nie­rung kommen Diri­genten kaum aus.“

Das ist ein gefähr­li­ches Wort. Davon bin ich weit entfernt. Wir sollen wir selbst sein. Aber uns dann noch zu insze­nieren, das finde ich ein biss­chen viel. Wenn wir eine Persön­lich­keit darstellen – vor dem Orchester und vor dem Publikum –, ist das genug.

Wie viel hat Diri­gieren mit Macht­aus­übung zu tun?

Nichts. Die Macht ist die Musik. Nicht die Persön­lich­keit derje­nigen, die sie ausführen. Aus der Macht der Musik schafft man alles.

Christoph Eschenbach

»Ich will keine graue Maus als Orchester, sondern ich will eine Versamm­lung von Persön­lich­keiten, die etwas bieten können.«

Kommt es vor, dass Sie sagen, so, wir gehen jetzt in diese Rich­tung, und Sie dann merken, dass da viel­leicht jemand nicht unbe­dingt d’ac­cord ist? 90 Leute müssen oder können ja nicht immer alle einer Meinung sein.

Ich baue sehr auf Geben und Nehmen. Ich will die Meinung der Musiker hören. Wenn ich in der Partitur arbeite und probe, ist mein Hori­zont so weit, dass ich andere Auffas­sungen mit aufnehmen kann. Wenn sie mir gefallen, nehme ich sie sehr gerne auf. Meist ist es bei hervor­ra­genden Orches­tern so, dass es mir gefällt. Ich will keine graue Maus als Orchester, sondern ich will eine Versamm­lung von Persön­lich­keiten, die etwas bieten können. Und bei groß­ar­tigen Orches­tern ist das halt so. Das hat mich auch beim Konzert­haus­or­chester von Anfang an faszi­niert.

Wie sind Diri­genten vom alten Schlag mit den Musi­kern umge­gangen? Wenn man mit Berliner Phil­har­mo­ni­kern spricht, die Karajan noch als junge Leute erlebt haben, das klingt ganz schreck­lich.

Eine schreck­liche Geschichte kenne ich nicht von ihm. Er war sehr für die Musiker da. Das einzige Mal, dass er in Diskre­panz geriet mit dem Orchester, war das Enga­ge­ment von Sabine Meyer. Das Orchester wollte keine Frau! Das war’s!

Und George Szell?

Der Szell! (klingt amüsiert)

War der ein auto­ri­tärer Diri­gent?

Ja! Bei all seiner Größe und seiner groß­ar­tigen Musi­ka­lität und all den Dingen, die er für mich getan hat – Szell war mit dem Orchester… streng.

Das mögen Orchester aber doch eigent­lich ganz gern.

Diese Art von Strenge nicht. Wenn Sie jemandem am fünften Pult der ersten Geige sagen: „Jetzt setzen Sie sich mal zehn Zenti­meter mehr in die Gruppe“, und der dann ein Gesicht zieht… Und wenn der Diri­gent dann sagt: „Kommen Sie in der Pause mal bitte zu mir ins Zimmer…“

Hui. Hat der Geiger seine Stelle behalten?

Er hat sie dann doch behalten, weil er gut war. Aber es war ein kriti­scher Moment. Oder wenn Sie an Tosca­nini denken, wie er die Leute anbrüllte und seine Uhr hinschmiss und drauf­trat. Ich weiß nicht, ob die Geschichten alle stimmen. Aber so kann man mit Leuten, mit denen man Musik machen will, nicht umgehen. Auf den Aufnahmen von Tosca­nini hört man das auch, finde ich. Manches ist so eckig, so strikt.

Was hat sich verän­dert?

Die Auto­rität eines Diri­genten ist natür­lich. Sie brau­chen Auto­rität, wenn Sie vor 100 Leuten stehen und ihnen den Weg weisen. Auf ihnen herum­zu­ha­cken, ist unmög­lich.

Und früher war der Diri­gent…

…na ja, wie eine höhere Gewalt! (lacht unver­mit­telt laut los) Was nicht gut ist.

Sie haben ja schon sehr viele Chef­posten gehabt. Sie gehen inten­sive künst­le­ri­sche Bezie­hungen ein. Wie ist denn das, wenn man nach langer Zeit zu einem Orchester zurück­kommt?

Das ist schön, weil sich die Musiker an die Spezia­li­täten erin­nern, die man hat, die Nuancen, die man von ihnen möchte, und die Farben, mit denen man malt.

Wenn Sie nach Jahren zurück­kommen, hat sich sicher­lich ein Teil des Orches­ters verän­dert, und trotzdem ist das noch im kollek­tiven Gedächtnis?

Absolut. Die Jungen haben von den Älteren gelernt und sind Teil eines unaus­ge­spro­chenen Einver­ständ­nisses.

Gibt es ein Orchester, bei dem Sie noch nie waren und das Sie gerne einmal diri­gieren würden?

Ich war eigent­lich bei allen. (lacht)

Würden Sie mehrere Chef­posten gleich­zeitig bekleiden?

Ich habe das mal gemacht, ich hatte sogar drei. Aber es ist einfach zu viel. Nicht termin­mäßig. Sondern um sich um die „Familie“ zu kümmern. Wenn man drei Fami­lien hat, ist das ein biss­chen schwierig. Ich hab jetzt eine. Und das genügt mir völlig.

Fotos: Marco Borggreve