„Ich freue mich auf alles.“

Daniel Barenboim

Zugabe, Maestro!

von Margarete Zander

28. April 2022

„Man kann nur spielen, wenn man es genießt.“ Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim empfindet jede Zugabe wie ein Geschenk.

Ohne sich aufzu­stützen steht aus dem gemüt­li­chen Ohren­sessel seines Präsi­den­ten­zim­mers in der Baren­boim Said Akademie auf. „Guten Tag, Frau Zander, wie geht es Ihnen?“ Dem Maestro geht es gut. Exakt vier Wochen nach der Rücken­ope­ra­tion hat er schon wieder das Verdi-Requiem diri­giert, bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern. Das Publikum hat ihm gefehlt im Lock­down. Da ist er in den Saal gegangen und hat sich neben sämt­li­chen Beet­hoven-Sonaten und den Diabelli Varia­tionen an die glück­lichsten Momente mit dem Publikum erin­nert – Zugaben. „Mit fünf­ein­halb habe ich ange­fangen, jetzt bin ich 79, das ist ein ganzer Roman!“ Und Zugaben, das sind ganz beson­dere Geschenke. Geschenke des Publi­kums an ihn. Ich genieße es sehr, die kleinen Zugaben zu spielen, beson­ders wenn ich das Gefühl habe, ich habe einen guten Tag und kann gut spielen.“

Daniel Baren­boim spielt Frédéric Chopins Étude op. 25 Nr. eins von seinem Album „Encores“

Gene­rell ist das Genießen für Daniel Baren­boim ein wich­tiger Schlüssel zum Musik­ma­chen: „Man kann nur spielen, wenn man es genießt. Das gilt für immer und alles. Für jedes Mal, wenn man spielt. Ohne das Genießen ist nichts da. Eine Zugabe zu genießen, wenn man in guter Verfas­sung ist und das Publikum enthu­si­as­tisch, das ist ein wunder­schönes Geschenk für den Pianisten. Und das hat etwas ganz Anderes als die Stücke, die lange im Programm geplant waren. Zugaben werden aus dem Moment ausge­wählt, Zugabe spielen heißt, es hat euch allen irgendwie gefallen, wie ich gespielt habe. Sonst würden sie aufstehen und nach Hause gehen. Sie sind geblieben, haben geklatscht und wollen mehr. Und dafür kann man nur dankbar sein, dass so eine Atti­tude herrscht. Das ist wunder­schön!“

Er musste nicht lange suchen, um daraus ein Programm für ein Album zu entwi­ckeln, sagt er. Er habe einfach die Zugaben gespielt, die ihm in den Kopf gekommen sind. Aufge­nommen hat er sie an seinem Flügel, der ihm mit den etwas schma­leren Tasten einfach besser liegt, seit seine Hände kleiner geworden sind. Und natür­lich ging er in den Pierre Boulez Saal, wo ihm das Publikum beson­ders nahe ist. „Der Saal war leer, aber ich habe mir vorge­stellt, da sitzen Leute, und ich hoffe, sie genießen das.“

Daniel Barenboim

»Spielen mit Instinkt oder Spielen mit Gedanken Musik ist beides.«

Schon bei den ersten Tönen von Schu­berts Impromptu in Ges-Dur, op. 90 Nr. drei, schleicht sich unwei­ger­lich das Raunen des Publi­kums ins Ohr, das bei solchen Lieb­lings­stü­cken voller Herz­schmerz noch tiefer in die Sitze rutscht – um die pure Entspan­nung zu erleben. Doch schon nach wenigen Takten holt Daniel Baren­boim das Publikum aus der Wohl­fühl­zone heraus und stellt den Radar neu aufs Hören ein. Seine Zugaben sind prall gefüllt mit Erfah­rungen, mit allen Facetten von Schu­mann inklu­sive seiner Orches­ter­musik, mit den drama­ti­schen Lebens­li­nien von Chopin, Debussy, der Neues entdeckte. Ein ganzer Kosmos steckt in diesen kurzen Stücken, die zum Teil unglaub­lich populär sind und hier ohne falsche Patina erscheinen. Apho­rismen, Augen­blicke des Glücks (Chopins Suns­hine), der Sehn­sucht (Debussys Clair de lune), des Fragens (Schu­manns Warum), des Trostes (Liszts Conso­la­tion) und des Träu­mens (Schu­manns Träu­merei), aber auch des Über­muts (Chopins Torrent) – kurz: Es sind Momente, die das Herz berühren und den Kopf beschäf­tigen. Daniel Baren­boims Botschaft an alle, die Musik machen: „Man kann, ohne zu denken, keine Musik machen. Es ist nicht wahr, dass man sich entscheiden muss zwischen Spielen mit Instinkt oder Spielen mit Gedanken. Musik ist beides.“

Daniel Barenboim und Martha Argerich
„Die Liebe war da von Anfang an – und die ist immer geblieben.“


Am 15. November 2022 wird Daniel Baren­boim 80 Jahre alt. „Ich hoffe! Das ist ja noch weit weg!“ lacht er. Sein Termin­ka­lender ist voll. Wie fühlt er sich, wenn er einen Blick darauf wirft? „Manchmal denke ich, ja, ist es viel­leicht zu viel, aber dann freue ich mich auf alles!“ Im Moment tut er das ganz beson­ders auf die Konzerte mit Martha Arge­rich. Zum ersten Mal spielen sie Mozarts Doppel­kon­zert zusammen, bei den Fest­tagen an der Staats­oper Berlin im April und später an anderen Orten. „Wir kennen uns seit 1949“, lacht der Pianist, der wie sie in Argen­ti­nien geboren ist. „Die Liebe war da von Anfang an – und die ist immer geblieben.“

Daniel Barenboim

»Die Staats­ka­pelle Berlin hat eine Hingabe-Kapa­zität, die bläst mich total weg.«

Gerade bei Wagner laufen die Staats­ka­pelle Berlin und Daniel Baren­boim wie ein großes feurig glühendes Räder­werk. Da wundert es einen manchmal, wenn man hört, dass es hinter den Kulissen nicht rund läuft und Sand im Getriebe ist. „Wissen Sie, ich bin jetzt 30 Jahre hier. Das ist eine sehr lange Zeit. Und wir haben gemeinsam – ich weiß, ich hab es geleitet – aber wir haben gemeinsam alle Themen von Dynamik, Tempo, Charak­te­ri­sie­rung, wir haben alles immer gemeinsam entwi­ckelt, sodass das Orchester nach einer gewissen Zeit eine kollek­tive Lunge hatte. Und ich habe ihnen immer gesagt: „Ich erwarte nicht, dass alle von Euch denken, es sei alles wunderbar so. Viel­leicht habt Ihr andere Ideen: ‚Das war viel­leicht zu langsam, oder das andere war viel­leicht zu schnell, und das war zu laut … Das ist alles absolut Euer Recht – nach dem Konzert. Nicht beim Konzert. Das heißt, wir studieren es ein, und ich erwarte, dass jeder sich so konzen­triert, dass es wirk­lich eine gemein­same Lunge ist.‘“ Und er fährt fort: „Also, 30 Jahre sind eine lange Zeit, aber musi­ka­lisch haben wir nie Meinungs­un­ter­schiede in unser Musi­zieren rein­ge­lassen. Das war immer sehr klar. Wir hatten natür­lich mensch­liche Diffe­renzen, das passiert in den besten Fami­lien. Aber das Orchester hat eine Hingabe-Kapa­zität, die bläst mich total weg – Mund offen!“
Ein paar Sekunden verharrt der Maestro im Staunen. Und ergänzt „Sie sind manchmal müde, sie sind manchmal in schlechter Laune, manchmal bin ich in schlechter Laune, alles Mögliche. Aber diese Fähig­keit, sich so zu konzen­trieren und zu spielen, das bewun­dere ich sehr!“

Daniel Barenboim

»Das Orchester trägt eine Botschaft: Ja, das ist die Kraft der Musik, die wir errei­chen können!«

Gleich zwei Tour­neen mit dem West Eastern Divan Orchester lösen Freude aus beim Blick in den Termin­ka­lender: Auf dem Programm, das tradi­tio­nell nach Konzerten in Luzern und Salz­burg in der Wald­bühne in Berlin endet, steht spani­sche Musik. Daniel Baren­boim hat einge­laden. „Als ich ihn kennen­lernte, hat er Musik von Granados gespielt und ich hab ihm gesagt: ‚Lang Lang, du musst wirk­lich diese spani­sche Musik spielen. Du hast etwas Beson­deres mit dieser Musik.‘“ Im nun, im Sommer, soll er mit Manuel de Fallas Spani­schen Nächten das Publikum verzau­bern.
Und eine zweite Tournee kann zu einem kost­baren Moment in der Geschichte des Orches­ters werden: Das West-Eastern Divan Orchestra ist einge­laden, zur Eröff­nung des Prager Früh­ling zu spielen: Ma Vlast – Mein Vater­land von Bedřich Smetana. „Das ist eine ganz beson­dere Ehre. Stellen Sie sich vor: der Divan – sie kommen aus der Türkei, Iran, Paläs­tina, Israel, Syrien und mehr, und alle spielen zusammen Mein Vater­land. Es ist viel­leicht kindisch, wenn ich das sage, aber es ist für mich sehr wichtig!“ Vorher ist eine kleine Tournee geplant: Paris, Mailand, München, Brüssel, Luxem­burg und dann – zwei Mal Prag.
Das West-Eastern Divan Orchestra ist kein Frie­dens-Orchester, betont Daniel Baren­boim immer wieder, es ist ein State­ment. „Das Orchester trägt eine Botschaft: Ja, das ist die Kraft der Musik, die wir errei­chen können!“

Fotos: Harald Hoffmann