Paul Massey
Hommage an David Bowie: Moonage Daydream
von Rüdiger Sturm
15. September 2022
Das Phänomen David Bowie lebt. Der Kinofilm „Moonage Daydream“ dokumentiert auf einzigartige Weise die musikalische und spirituelle Reise der Ikone. Mitverantwortlich: der britische Tonmeister Paul Massey.
CRESCENDO: „Moonage Daydream” ist kein klassischer Dokumentarfilm mit vielen erklärenden Interviews, sondern eher ein Trip durch Schaffen und Gedankenwelt David Bowies. Was hatte das für eine Auswirkung auf Ihre Arbeit als Tonmeister?
Paul Massey: Ich bin an das Thema herangegangen, als wäre es ein Spielfilm. Der Film ist ein einziger kontinuierlicher Fluss, in dem eine Impression nahtlos in die nächste übergeht. Und alles wird von Musik und Soundeffekten begleitet, die teilweise nicht einmal etwas mit den Bildern zu tun haben – abgesehen von den klassischen Konzertaufnahmen. Für mich war das eine riesige Herausforderung, wie ich sie noch nie in meine Karriere hatte. Es war enorm komplex. Auch deshalb, weil es keine definierte feste Struktur gab. Alles war ständig in Entwicklung.
Was war im Rahmen dieser Herausforderung der entscheidendste Knackpunkt?
Die Abmischung der Musik. Alle Live-Konzertaufnahmen wurden aus den unbearbeiteten Tondateien zusammengestellt, und meine Verantwortung bestand darin, diese Dateien filmtauglich zu machen, sodass das Publikum sie in den verschiedensten Formaten genießen kann. Immerhin sind das legendäre Songs, die jeder kennt.
Haben Sie dabei Entdeckungen zu den Kompositionsweisen von Bowies Songs gemacht?
In der Tat. Bei einigen Songs hatte ich nicht erwartet, dass die Instrumentierung eine so zentrale Rolle spielt. Ich dachte zum Beispiel, dass sich „Heroes” relativ einfach mischen lassen würde. Aber es war extrem schwierig, die richtige Balance zwischen Gitarre und Geige herzustellen. Im Laufe mehrerer Wochen habe ich immer wieder von Neuem damit angefangen.
Worin genau bestand die Schwierigkeit?
Es gibt da eine hohe Gitarrennote, die sich durch den Großteil des Songs zieht und dann mit der Geige verschmilzt. Hält man aber diese Note zu lang, dann verlieren der Song und der Text ihre Wirkung. Ich habe dadurch erst begriffen, wie wunderbar das Originale abgemischt war.
Welche Rolle spielte Bowies Produzent dabei, Tony Visconti, der für das Original verantwortlich war?
Tony hat uns sehr viele Audiodateien aus seinem Privatarchiv zur Verfügung gestellt. Wobei das Ganze wiederum dadurch verkompliziert wurde, dass Regisseur Brett Morgan verschiedene Aufnahmen ineinander übergehen ließ. Teilweise verstand er selbst nicht so recht, was genau er damit bezweckte, oder er konnte es nicht in Worte fassen. Das erlebe ich immer wieder bei Regisseuren. Sie können ihre Emotionen beschreiben oder drücken sie in ganz abstrakten Begriffen wie zum Beispiel „Wasserfall“ aus. Und unser Job als Tonmischer besteht darin, das zu verstehen und gemeinsam mit der Regie den Pfad auszuloten, den wir beschreiten wollten.
Eigentlich hätte sich ja Tony Visconti als der wohl weltweit größte Bowie-Experte einklinken können.
Das war nicht sein Job. Er war nicht bei der Tonmischung dabei. Ich weiß nicht einmal, ob er den Film überhaupt gesehen hat. Er hat uns das Material gegeben und hat am Anfang einige Gespräche geführt.
Hat er denn zumindest etwas über David Bowie erzählt?
Ja, aber keine Anekdoten. Er hat uns erklärt, was für ein wunderbarer, gütiger Mensch David war und wie einzigartig die gemeinsamen kreativen Erfahrungen im Studio waren. Er vermisst ihn ganz schrecklich, das war offensichtlich.
Wie eng war und ist Ihr eigenes Verhältnis zu Bowies Musik?
Ich wuchs im London der Sechziger und Siebziger auf. Folglich war sein Einfluss auf mich enorm. Aber ich war kein fanatischer Fan, anders als David Giammarco, der Effektmischer in meinem Team, der mir sehr viel über David beigebracht hat. Leider habe ich Bowie auch nie live gesehen. Das hätte auch meine Arbeit an diesem Film beeinflusst.
Nachdem Sie die Strukturen von Bowies Songs genauer studiert haben wie kaum ein anderer: Können Sie beschreiben, was das Besondere an seiner Musik war?
Er arbeitete mit sehr ungewöhnlichen Akkordstrukturen und wählte Instrumentierungen, die man so noch nie gehört hatte – in Verbindung mit total originellen Melodiestimmen, von seinen Texten ganz zu schweigen. Es gab auch Phasen, während der er poporientiertere Songs produzierte, die einem sofort gefielen, wenn man sie zum ersten Mal im Radio hörte. Aber selbst wenn man die auseinandernimmt und schaut, wie sie aufgebaut sind, fängt das an, extrem kompliziert zu werden.
Nehmen wir an, Sie könnten ihm eine Frage zu seinem Schaffen stellen, wie würde die lauten?
Ach du meine Güte, da muss ich aber überlegen. Viele Künstler entwickeln einen Stil, mit dem sie erfolgreich werden und in dem sie gut sind. Und dem bleiben sie in der Regel in ihrer ganzen Karriere treu. So gesehen würde ich ihn fragen: „Woher hast du den Mut genommen, dich in einem bestimmten Genre durchzusetzen, das dann fallen zu lassen und etwas ganz Neues zu machen? Hattest Du keine Angst, deine ganze Karriere zu ruinieren? Woher kam dieser Drang, dich ständig zu verändern und alles auf den Kopf zu stellen?“ Das ist für mich einer der interessantesten Aspekte an David Bowie. Aber ganz ehrlich – ich habe schon mit einigen Superstars zusammengearbeitet und hatte nie den Mut, sie näher zu befragen. Stattdessen habe ich mich mit ihnen übers Wetter oder andere x‑beliebige Dinge unterhalten.
Sie waren an unzähligen großen Hollywood-Filmen beteiligt, so auch am letzten James Bond. Inwieweit inspiriert Ihre Bowie-Erfahrung nun auch Ihre künftigen Arbeiten – zu denen beispielsweise der nächste „Indiana Jones“ gehört?
Ich habe dadurch einige Scheuklappen abgelegt. Früher habe ich darauf geachtet, dass der Ton nicht zu eindringlich wurde. Aber Brett Morgen wollte das Gegenteil: Er wollte, dass allein schon die akustische Erfahrung zu reinem regelrechten Trip werden sollte. An einigen Stellen des Films dreht sich alles nur um den Ton. Und auch ich denke jetzt nicht mehr so rigide. Ich gehe jetzt zum Beispiel bei bestimmten Instrumentierungen experimenteller vor. Oder um es einfach auszudrücken: Ich werde in meiner Arbeit künftig etwas verrückter.
Haben Sie unter Ihren unzähligen Projekten, zu denen auch „Bohemian Rhapsody“ und die „Fluch der Karibik“-Filme gehören, Favoriten?
Ich habe einen musikalischen Background, also arbeite ich bevorzugt an Musikfilmen. Ich liebe es, wenn ich aus Audiodateien eine Mischung kreieren kann, die man zuvor im Kino so noch nie gehört hat. Am liebsten würde ich nichts anderes machen.
Gibt es Musiker, deren Arbeiten Sie gerne aufbereiten würden? Zu ihren Projekten zählen auch ein Whitney-Houston-Film und eine Michael Jackson-Dokumentation.
Queen war meine Nummer eins. Das habe ich also schon erledigt. Grundsätzlich habe ich eher eine Affinität zu Rock, was einfach an der Musik liegt, die ich als Teenager hörte. Rap zum Beispiel ist weniger mein Fall. Andererseits mag ich letztlich alle Richtungen, ich will mich nicht beschränken. Es gibt aktuell einige große Musikkünstler, mit denen ich im nächsten Jahr zusammenarbeiten soll, aber die Namen kann ich nicht verraten.
Sehen Sie überhaupt noch Musikkünstler, die in Zukunft den Einfluss eines David Bowie haben könnten?
Talent und Kreativität sind da. Aber die Branche hat sich inzwischen so gewandelt, dass das extrem schwierig geworden ist. Viele Künstler haben Erfolg, und fünf Jahre später sind sie von der Bildfläche verschwunden. Was auch damit zusammenhängt, dass das Publikum eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne hat. Das ganze Marktumfeld ist anders. Dass jemand wie David mit 20 sein erstes Album veröffentlicht und dann bis zu seinem Tod als Musiker erfolgreich ist, kann ich mir nicht mehr vorstellen. Diese Ära ist vorbei.
So bleibt uns nichts anderes übrig, als Bowies Genie über „Moonage Daydream“ kennenzulernen. Können wir da auch auf die DVD/Blu-Ray warten?
Ich musste eine Lösung für die Home Entertainment-Version für Fernsehen und Computer finden. Die erforderte einige Kompromisse. Grundidee und Intention des Films bekommt man sicher auch zu Hause mit. Aber er ist visuell und akustisch so überwältigend, dass man ihn sich unbedingt im Kino anschauen sollte. Das gilt für „Moonage Daydream“ mehr als für jeden anderen Film, den ich gemischt habe. Und in welcher Liga von Filmen ich gearbeitet habe, das haben Sie ja selbst erwähnt.
Der Film "Moonage Daydream" erscheint am 15.September in den deutschen Kinos.