David Stromberg
Der Quintensprung
7. August 2022
Da kann man schon mal ins Schleudern kommen: Für sein neues Bach-Album »Sechs Solosuiten für Cello« ließ sich der Cellist David Stromberg ein Instrument mit fünf Saiten bauen. Eine Herausforderung mit glücklichem Ausgang.
CRESCENDO: Herr Stromberg, Sie bringen gerade eine Aufnahme der Bach’schen Suiten für Cello solo heraus. Muss man das, wenn man als Cellist auf sich hält?
David Stromberg: Vielleicht ist das so. Jeder Cellist spielt sie seit Kindertagen. Mir waren sie sehr wichtig. Sie gehören zu meiner Identität.
Sie haben modernes Cello studiert. Was hat Sie denn dazu bewogen, die Suiten mit dem Barock-Cello aufzunehmen?
Ich habe mich schon als Student für Barock-Cello interessiert, Kurse besucht und mir irgendwann ein Instrument gekauft. Als ich mich entschloss, die Suiten aufzunehmen, da wusste ich, dass ich das auf dem Barock-Cello machen will. Ich habe dann Konzerte mit den Suiten gegeben, um mich vorzubereiten, und irgendwann habe ich verstanden: Es reicht nicht, als moderner Cellist das Barockinstrument in die Hand zu nehmen. Das ist nur der erste Schritt.
Woran haben Sie das gemerkt?
Ich hatte mir einfach das Barock-Cello genommen und mich im Selbststudium eingearbeitet. Aber dann rief mich der Tonmeister an, mit dem ich damals arbeiten wollte. Er hatte einen Live-Mitschnitt gehört und fragte sehr vorsichtig: „Kann es sein, dass du noch nicht reif für die Aufnahme bist?“
»Ich habe meine Spielweise neu kalibriert und verstanden«
Da hatten Sie aber Glück, dass der Tonmeister so ehrlich war.
Ich werde ihm ewig dankbar sein für seine offenen Worte. Aber wer hätte gedacht, was für einen Rattenschwanz das nach sich ziehen würde! Ich habe daraufhin den Barockgeiger Thomas Pietsch angerufen und gefragt, ob er mich mal unterrichten könne? Er hat mich schon bei unserer ersten Begegnung zu dem Projekt ermutigt, aber zugleich gesagt: „Du brauchst Unterweisung.“ Wir haben uns dann zwei Jahre lang fast jede Woche getroffen. Er hat mich in die Geheimnisse eingewiesen und ich habe nach und nach meine ganze Spielweise neu kalibriert und verstanden. Es war eine Offenbarung.
Wie kann das konkret aussehen?
Nehmen wir die Darstellung von Akkorden. Wie man bricht …
… brechen – das klingt schon so eckig.
Ein moderner Cellist spielt die beiden unteren Töne und dann die beiden oberen – dschupp, dschupp. Von Thomas Pietsch habe ich gelernt, dass man mit dem unteren Ton allein beginnt und sich die Töne dann überlappen. Und wenn man auf der höchsten Note endet und die dann allein klingt, kann man eine leise Bebung hinzufügen. So sagen Barockmusiker zum Vibrato. Was für ein toller Ausdruck! Und das ist nur ein Beispiel. Ich war vollkommen überrascht von der Welt, die sich da auftat.
(blättert seine Notizen auf) Wir haben das alles aufgeschrieben. Und so ging das los (singt aus dem Präludium der ersten Suite): Das ist im Stil von Louis Couperin geschrieben – das Vorbild von Bach. An der Hochschule hieß es immer, Bach ist der Zenit, der hat das alles selber aus sich geschöpft. Über jeder Note steht etwas. Klangfuß, Messa di voce – davon hatte ich noch nie gehört. Inegales Spiel. Das bedeutet, Rhythmus und Artikulation sind variabel.
»Inegalität ist das Fundament dieser Musik«
Wo doch moderne Musiker jahrelang darauf getrimmt werden, dass alles gleichmäßig klingt.
Die Inegalität ist das Fundament dieser Musik, habe ich gelernt.
In dieser Weise zu musizieren, hat viel mit innerer Freiheit zu tun. Gleichzeitig muss man unglaublich viel wissen. Wie kamen Sie von der harten Arbeit in den Flow?
Es kam mir vor wie ein Spiel mit mehreren Elementen. Wenn ich eines anfasse, dann wirkt sich das auf alle anderen Elemente aus. Das Fließen hat sich eingestellt, als ich alle Elemente abgearbeitet und neu justiert hatte. Da geht es um Ornamente, Takthierarchie, Artikulation, Agogik, Dynamik.
Wie macht man denn das, an fünf Dinge gleichzeitig zu denken?
Das klappt nicht. Man muss es verinnerlichen, und das dauert. Ich habe die Aufnahme zwei Mal verschoben. Es war ein weiter Weg.
Wann war es so weit?
Wir haben im Dezember 2019 und Januar 2020 fünf Aufnahmetage gehabt, für jede Suite einen.
Und dann kam die nächste Herausforderung: Die sechste Suite.
Es folgte ein Jahr Pause. Für die sechste Suite brauchte ich ein anderes Instrument, denn die ist für ein fünfsaitiges Cello geschrieben. Ich habe mir ein Violoncello piccolo bauen lassen.
Von wem?
Von einer Manufaktur in Rumänien. Die machen nichts anderes als Neubau. Ich konnte meine Wünsche angeben. Der Geigenbauer Christian Brosse hat den Prozess von hier aus begleitet und mich sehr unterstützt. Er hat mich mit den Maßen versorgt und das Know-how geliefert.
Und nach einem halben Jahr hatten Sie also ein Cello, mit dem Sie glücklich waren? Ganz schön schnell!
Es kam hier mit der Post an. Es war schon spielfähig, und Brosse hat es eingerichtet, hat einen Steg gemacht und den Stimmstock aufgestellt. Ich wollte alles rausholen, was ging. Und dann habe ich ein weiteres halbes Jahr gebraucht, um es zu lernen.
Haben Sie dann erst neu damit angefangen?
Ich habe mir mal ein Piccolo geliehen, eine halbe Stunde drauf gespielt und hatte das Gefühl: Ja, das ist zwar eine wahnsinnige Umstellung, aber das werde ich schaffen. Und irgendwie dachte ich: Es haben ja auch schon andere diesen Schritt gemacht.
»Und dann ist da plötzlich noch eine Saite«
Was ist so anspruchsvoll an der Umstellung?
Die Geographie. Fürs Greifen und auch fürs Streichen. Man trifft die Saite nicht mehr. Auf einem normalen Viersaiter ist die A‑Saite die höchste Saite. Aber dann ist da plötzlich noch eine. Die E‑Saite, die oben dazugekommen war, und die C‑Saite konnte ich schon ziemlich sicher treffen, das größte Problem waren die Mittelsaiten. Da mischt sich Neues mit alten Gewohnheiten. Man denkt, hier ist doch die D‑Saite – aber die ist auf dem Piccolo-Cello plötzlich woanders.
Es haben erst wenige Cellisten die Suite auf einem Fünfsaiter eingespielt. Die meisten quälen sich durch die Doppelgriffe und Presto-Passagen mit der A‑Saite, haben also eine Quinte weniger Tonumfang nach oben als von Bach vorgesehen.
Ja, das wundert mich. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass Bach die sechste Suite für fünfsaitiges Cello geschrieben hat. Das Autograph ist verloren, aber es gibt vier zeitgenössische Abschriften, und in der von Anna Magdalena steht zum Beispiel eindeutig: à cinque cordes.
Die Abschrift wird ja schon seit Jahrhunderten bekannt sein. Wie haben sich denn die großen alten Cellisten das erklärt?
Jeder wusste es, aber man hat sich damals nicht daran gestört. Jetzt setzt ein Bewusstseinswandel ein. Immer mehr Musiker öffnen sich diesem Ansatz.
»Vielleicht hätten wir nicht gemocht, wie Musik damals gespielt wurde«
Harnoncourt hat immer gesagt: Es geht nicht darum, wie die Musik damals klang. Sondern: Was hat sie uns heute zu sagen?
Dieser museale Anspruch, die Musik genauso zu spielen, wie sie früher mal geklungen hat, der klappt ja sowieso nicht, wenn man mal genau drüber nachdenkt. Wir sind anders, die Instrumente sind schon nicht mehr original, die Saiten sind sowieso schon wieder anders.
Es gibt ohnehin keine originalen Tonkonserven …
… und vielleicht hätten wir die Art, wie die Musik damals gespielt wurde, auch gar nicht gemocht. Musizieren ist immer Interpretieren. Etwas, das zu Herzen geht und aus dem Herzen kommt.