Woher kommt eigentlich ...

Die Marseil­laise?

von Stefan Sell

13. März 2018

Als die Nationalversammlung Österreich den Krieg erklärte, traf man sich im Hause des Bürgermeisters und war sich bald einig, bevor Truppen in den Krieg ziehen, bedarf es eines patriotischen Liedes.

Der Fall scheint klar und hat bereits Lite­ra­tur­ge­schichte geschrieben. hob ihn empor zum „Genie einer Nacht“. Der Fran­zose Claude Joseph Rouget de Lisle (1760–1836) hat Text und Musik der Marseil­laise verfasst, die zunächst Chant de guerre pour l’armée du Rhin hieß.

Rouget weilte als Haupt­mann beim „Corps royal du Génie“ in Straß­burg. Als die fran­zö­si­sche Natio­nal­ver­samm­lung Öster­reich den Krieg erklärte, traf man sich am Abend des 25. April 1792 im Hause des Bürger­meis­ters Diet­rich und war sich bald einig, bevor Truppen in den Krieg ziehen, bedarf es eines patrio­ti­schen und schmis­sigen Liedes. Da Rouget Geige spielte und als Dichter, Libret­tist und Über­setzer wirkte, schien er geeignet, eine Hymne zu ­schreiben. Noch in der glei­chen Nacht soll er sich daran gemacht und wie in einem Rausch Verse und Melodie bis zum frühen Morgen gefunden haben. Erst zwei, drei Monate später, als mehrere Kompa­nien Frei­wil­liger aus damit singend nach Paris marschierten, bekam das Lied den Namen Marseil­laise.

Bei der Spuren­suche aller­dings wird man stutzig. Rouget war mit dem dama­ligen Domka­pell­meister des Straß­burger Müns­ters, , befreundet. Der Geiger, Pianist und Kompo­nist hatte schon 1791 einen Text von Rouget unter dem Titel Hymne à la Liberté vertont. Warum hat Rouget hier die Musik nicht selbst geschrieben?

Genie einer Nacht

Pleyel stand öfter im Verdacht, der Kompo­nist der Marseil­laise zu sein. Doch wie es scheint, war er es nicht. Pleyel wurde in den Unwäg­bar­keiten der Revo­lu­tion seines Amtes enthoben. Zu der Zeit, als Rouget seinen Genie­streich ausführte, hielt Pleyel sich nicht mehr in Straß­burg auf. Er befand sich anläss­lich eines musi­ka­li­schen Wett­streits im gegen­sei­tigen Einver­ständnis mit seinem Freund Haydn, dessen Schüler er lange war, in London. 1795 zog es ihn samt Familie nach Paris, wo er nicht nur Verleger wurde, sondern auch noch Klavier­fa­bri­kant.

Wie aber gelangte die Melodie elf Jahre vor Rougets magi­scher Nacht in Giovanni Battista Viottis Tema e varia­zioni? Der Geiger Guido Rimonda hat zusammen mit der Came­rata Ducale vor Kurzem eine Welt­er­stein­spie­lung dieses Werkes für Violine und Orchester vorge­legt, samt einem Faksi­mile des Auto­grafen. Wirk­lich verblüf­fend – hat etwa ein Italiener die fran­zö­si­sche Natio­nal­hymne geschrieben? Einzig das Datum auf dem Faksi­mile trägt eine andere Hand­schrift, wirkt wie nach­träg­lich notiert: „2 mars 1781“. Der Titel des Werkes ist italie­nisch, das Datum fran­zö­sisch, „mars“ statt „marzo“, warum? Nicht, dass Viotti kein Fran­zö­sisch konnte, er lebte zeit­weise in Paris, reüs­sierte 1782 mit über­ra­gendem Erfolg bei den Concerts spiri­tuels und stand zwei Jahre im Dienste der Königin Marie Antoi­nette.

Viotti und Pleyel waren eben­falls gute Freunde, Pleyel wurde später Viottis Verleger. Er war so begeis­tert von dem Geigen­vir­tuosen, dass er ihm zwei Streich­quar­tette widmete. Ferner verbindet die beiden, dass ihnen die Schöp­fung der berühmten Melodie nach­ge­sagt wird. Wenn das Datum nicht original ist, dann hat Viotti sich wohl eher vom Aufbruch der aufrüh­re­ri­schen Melodie in Stim­mung bringen lassen und in dieser Schwin­gung das Thema erst nach 1792 mit wunder­baren Varia­tion versehen.

„Hat etwa ein Italiener die fran­zö­si­sche Natio­nal­hymne geschrieben“

Wenn auch auch Viotti nicht infrage kommt, wie kann es sein, dass im Dezember 1786, also sechs Jahre vor Rougets Einge­bung, Mozart sein C‑Dur Klavier­kon­zert (KV 503) fertig­stellte, worin im ersten Satz, Allegro maes­toso, unüber­hörbar das Thema der Marseil­laise anklingt? Ein Jahr darauf, 1787, immer noch fünf Jahre zu früh, ist die Melodie bereits im Orato­rium Esther von Jean-Baptiste Grisons zu hören.

Viel­leicht lag die Melodie, wie so oft, einfach in der Luft, als Rouget in dieser Nacht auf seiner Geige eine Melodie suchte und sie sich, wer weiß woher, wie von selbst spielte, pass­genau zum Text. 1830 hat Berlioz den Gesang des Rouget de Lisle für großes Orchester und Doppel­chor einge­richtet. Rouget dankte ihm in einem herz­li­chen Brief und wollte Berlioz treffen.

„Ich erfuhr später“, hielt Berlioz fest, „daß Rouget de Lisle, der, beiläufig gesagt, noch viele andere schöne Lieder, als die Marseil­laise, geschaffen hat, in seiner Mappe ein Opern­buch Othello liegen hatte, das er mir in Vorschlag bringen wollte. Aber da meine Abreise von Paris dem Empfangs­tage seines Briefes unmit­telbar folgte, so entschul­digte ich mich bei ihm und verschob den schul­digen Besuch auf die Zeit meiner Rück­kunft aus Italien. Inzwi­schen starb der arme Mann. Ich habe ihn nie gesehen.“

Fotos: gemeinfrei