Woher kommt eigentlich ...
Der erste Klassiksuperstar der Tonaufzeichnung ?
von Stefan Sell
10. Juli 2021
„Wer hat Sie zu mir geschickt? Gott persönlich?”, soll Giacomo Puccini gesagt haben. Und Arturo Toscanini rief aus: „Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt bald von ihm reden.“
1902. Via Manzoni 29, unweit der Scala. Wir befinden uns in einem Luxushotel in Mailand, dem heutigen Grand Hotel et de Milan, das damals noch Albergo di Milano oder einfach Milan hieß. Das goldene Gästebuch liest sich nicht nur wie ein Who’s who der Prominenz aller Art, ein Jahr bevor unsere Geschichte beginnt, ist hier auch Verdi gestorben. 27 Jahre lang war Suite Nummer 105 sein Stadtdomizil gewesen. Das Hotel, ein Meisterwerk der Architektur des 19. Jahrhunderts, umgeben von einem üppig tropischen Garten, birgt verführerische Speisesäle. In der Lobby leuchten Orientteppiche in opulenten Mustern und betörenden Farben auf Terrazzoböden, gesäumt von schweren pastellfarben Vorhängen. Zwischen Goldprunk und Marmor schwelgt Extravaganz jeder Couleur.
Für 100 Pfund Sterling
1902 war der Amerikaner Fred Gaisberg aus London angereist und erfuhr, dass soeben ein ganz besonderer Tenor in Alberto Franchettis Germania auf der Bühne der Mailänder Scala glänzte. Man erzählte sich, dass dieser Tenor, als er 1897 in Livorno zum ersten Mal für die Rolle des Rodolfo der Oper La Bohème vorsang, der Komponist Puccini fassungslos gesagt haben soll: „Wer hat Sie zu mir geschickt? Gott persönlich?” Ein Jahr darauf war Toscanini ganz außer sich: „Um Himmels willen! Wenn dieser Neapolitaner weiter so singt, wird die ganze Welt bald von ihm reden.“ Toscanini hatte ihn auf der Bühne der Scala als Nemorino in Donizettis Liebestrank erlebt. Das passte.
Gaisberg suchte im Auftrag der Grammophon Company Ausnahmetalente, um der noch jungen Schallplatte zum Aufschwung zu verhelfen. Gegründet hatte die Firma Emil Berliner. Der aus Hannover stammende Tausendsassa war schon früh nach Amerika ausgewandert, wo er mit Aufnahmemöglichkeiten experimentierte. Auf diesem Weg erfand er die Schallplatte und, als dazugehöriges Abspielgerät, das Grammofon. Er lernte Gaisberg kennen, erkannte dessen Begabung im Umgang mit dem neuen Medium der Tontechnik und machte ihn zum Assistenten.
Sofort ein Engagement
Als Gaisberg nun diesen besonderen Tenor leibhaftig auf der Bühne erlebte, gab es keinen Zweifel mehr: Diese Stimme musste auf Schallplatte gebannt werden. Es wurde verhandelt und man einigte sich: Für 100 Pfund Sterling wäre der Sänger bereit zu Gaisbergs Aufnahmegeräten ins Hotel zu kommen und an einem einzigen Nachmittag zehn Arien einzusingen. Am Klavier begleiten sollte ihn Salvatore Cottone, der die Verhandlungen mit in die Wege geleitet hatte.
Und so kam es, dass am Freitagnachmittag des 11. April 1902, ganz nah über einen Trichter gebeugt, Enrico Caruso im oben beschriebenen Hotel seine ersten Schallplattenaufnahmen machte. Zehn Arien wurden in nur zwei Stunden auf Wachswalzen festgehalten. Als Erstes sang Caruso aus seinem gerade gefeierten Auftritt die Arie des Studenten Federico Loewe Studenti! Udite! von Franchetti. Dann Verdi, Massenet, Donizetti, Boito und schließlich als vorletztes Stück die Arie E lucevan le stelle (Und es leuchteten die Sterne) aus Puccinis Tosca. Diese Aufnahme brachten für Caruso auch die Sterne in Amerika zum Leuchten. Sie begeisterte den damaligen Generalmanager der New Yorker Met, Heinrich Conried, so sehr, dass er sie mit nach New York nahm, allen an der Met vorspielte und Caruso sofort ein Engagement bekam.
Zehn kostbare Wachswalzen
Gaisberg erinnerte sich: „Wir bezahlten Caruso auf der Stelle. Ich war fassungslos über die Leichtigkeit, mit der so eine riesige Summe verdient wurde, und konnte nicht ahnen, dass Caruso durch diesen Vertrag in den nächsten 20 Jahren fast fünf Millionen Dollar verdienen würde und die Branche das Doppelte. Auch konnte ich nicht vorhersehen, dass diese Platten alle Vorurteile abbauen würden, die die großen Künstler gegen Aufnahmen hatten. Die zehn kostbaren Wachswalzen wurden nach Hannover verschifft und ohne einen einzigen Ausfall verarbeitet. Alle wurden veröffentlicht.“
Mit einem Mal war die Stimme Carusos, unabhängig davon, wo Caruso selbst gerade war, überall zu hören. Das brachte die Oper in völlig neue Hörerkreise – Caruso avancierte zum Popstar. Es dauerte nicht lange, da hatte seine Stimme mit der Aufnahme der Arie Vesti la giubba aus Leoncavallos Oper Pagliacci eine Million Scheiben unter das Volk gebracht. Tatsächlich gelangte Caruso damit später ins Guinnessbuch der Rekorde. Als er dann – um das Jahr 1903 – unter dem roten Siegel der amerikanischen Victor Company einen Exklusivvertrag für den Rest seines Lebens abschloss, hielt Caruso fest: „Meine Victor-Schallplatten werden meine Biografie sein.“