Erika Pluhar

Das mit der Einsam­keit

von Erika Pluhar

25. April 2020

Die 1939 in Wien geborene Schauspielerin, Sängerin und Schriftstellerin Erika Pluhar hat eine ganz besondere Beziehung zum Gefühl der Einsamkeit.

Die Krise um Corona hat viele Worte plötz­lich wieder sehr präsent gemacht. Einsam­keit ist eines davon. Die meisten Menschen haben Angst davor. Die 1939 in gebo­rene Schau­spie­lerin, Sängerin und Schrift­stel­lerin hat eine ganz beson­dere Bezie­hung zu diesem Gefühl, das sie Zeit ihres Lebens gepflegt hat.

„Die Brom­beer­bü­sche wuchsen hoch und wild und erfüllten einen beträcht­li­chen Teil des Gartens. In ihrem Inneren gab es Gänge, Höhlen­gänge, geschaffen durch hindurch­krie­chende Kinder. Denn wenn die Beeren reif waren, fand man in der Tiefe die größten und dunkelsten. Aber auch in Zeiten, in denen es nichts zu ernten gab, kroch sie gern in den Schatten der Hecken und kauerte dort, still wie ein lauschendes Tier.
Am liebsten hockte sie allein da drinnen. Allein und regungslos, beide Arme um die Knie geschlungen, ohne irgend etwas oder irgend jemanden zu vermissen, in köst­li­cher Zufrie­den­heit.
Krea­tür­liche Einsam­keit wurde ihr bewusst, oder sie empfand sie nur. Konnte sich, in sie gehüllt, von sich selbst lösen.
Immer wieder hat sie einen solchen Zustand, wenn es ihr gelang, ihn zu erfahren, als Krönung und Recht­fer­ti­gung ihres Lebens empfunden. Wenn sie das beun­ru­higte Wissen um sich selbst ablegen konnte, wurde sie mit sich eins.“

Dies ist ein Ausschnitt aus dem Beginn meines Buches Am Ende des Gartens – Erin­ne­rungen an eine Jugend, erschienen 1997. Das oben in den Brom­beeren beschrie­bene Kind, also ich, war da etwa drei Jahre alt. Der zweite Welt­krieg tobte. Kurz darauf wurde Wien bombar­diert.

»Mein frühes, kind­li­ches Wissen oder Erfühlen eines Zustandes völligen Für-sich-Seins, ja, Allein-Seins, ohne darunter zu leiden, blieb mir unver­gessen.«

Da ich stets auf die Erfah­rungen und Kompe­tenzen meines eigenen Lebens zurück­zu­gehen pflege, auch wenn daraus eine für die Öffent­lich­keit bestimmte Äuße­rung werden soll – ich glaube man nennt das, eigent­lich schon zum allge­meinen Über­druss, „authen­tisch sein“ –, habe ich auch meine Refle­xion zum Thema EINSAM­KEIT jetzt in dieser Weise begonnen. Mein frühes, kind­li­ches Wissen oder Erfühlen eines Zustandes völligen Für-sich-Seins, ja, Allein-Seins, ohne darunter zu leiden, blieb mir unver­gessen. Und hat als wesent­liche Kompo­nente mein Aufwachsen, mein ganzes weiteres Da-Sein begleitet, bis heute.

»Rundum werden Menschen zum Rückzug, zum Sich-Isolieren, also zum Einsam­sein aufge­rufen und leiden darunter.«

Ja, heute. Wieder eine welt­weite Krise – ein Krieg in ganz anderer Form – umgibt also nach fast achtzig Jahren das zur alten Frau gewor­dene Kind, und rundum werden Menschen zum Rückzug, zum Sich-Isolieren, also zum Einsam­sein aufge­rufen und leiden darunter.

Ehe ich fort­fahre, möchte ich unbe­dingt fest­halten, dass ich hier nicht beschreiben möchte, was Ver-Einsa­mung bedeutet. Also das völlige Verlas­sen­sein, keinem einzigen Menschen mehr, nur noch dem Tode zuge­hörig, also einsames Zugrun­de­gehen. Das nicht. 

Was ich durch­leuchten möchte, ist das Vermögen oder Unver­mögen, als ein in halb­wegs geord­neten Bahnen lebender Mensch mit sich selbst zu Rande zu kommen. Gänz­lich und ausschließ­lich mit sich selbst, ohne in eine andere körper­liche oder seeli­sche Nähe, in andere Anfor­de­rungen auswei­chen zu können. Darum geht es mir. Jetzt, heute, mehr denn je, weil diese Frage sich jetzt, heute mehr denn je stellt.

Erika Pluhar verbindet eine besondere Beziehung zur Einsamkeit.
Wurde trotz ihrer Bezie­hung zur Einsam­keit Schau­spie­lerin: Erika Pluhar
(Foto oben und Foto: Katha­rina Fröschl-Roßboth )

Ich wurde ja trotz meiner früh erwachten und lebens­be­stim­menden Bezie­hung zur Einsam­keit Schau­spie­lerin, man denke! Und später eine Autorin, deren Bücher gelesen werden. Ich darf es „musi­zieren“ nennen, was ich, ohne ein Instru­ment oder Noten­bilder zu beherr­schen, nur mit einer passa­blen Stimme und einem gutem Gehör gesegnet, mit wunder­baren Musi­kern eben­falls öffent­lich tue. Ich ging also stets vor Menschen, zu vielen Menschen, zu dem, was man „Publikum“ nennt, schau­spie­lend, konzer­tie­rend, lesend. Ich wurde eine Person des öffent­li­chen Inter­esses, wie man so schön sagt.

»Ich glaube, dass jeder künst­le­ri­sche Mensch letzt­lich einsam ist – also Einsam­keit können muss.«

Aber ich hätte diesen Weg nie beschreiten und auch bewäl­tigen können, wenn da nicht die Einsam­keit mich unent­wegt begleitet hätte. Als meine innigste Gefährtin. Ich weiß, dass ein Mensch, fernab jedweder öffent­li­chen Äuße­rung, das wohl nicht begreifen kann, es viel­leicht für eine char­mante oder über­trie­bene Atti­tüde hält. Aber es ist so. Und ich gehe noch weiter: Ich glaube, dass jeder künst­le­ri­sche Mensch letzt­lich einsam ist – also Einsam­keit können muss. Nur dann kann sein Werk – nennen wir’s so – Menschen auch errei­chen. 

In den Nach­kriegs­jahren, wir alle armselig und aus Trüm­mern uns mühsam wieder ins intakte Leben hoch­raf­fend – und dann im allmäh­li­chen Konso­li­dieren der Verhält­nisse –, da konnte ich erfahren, wie sehr der Umgang mit Kunst uns Menschen nottut und Lebens­qua­lität schenkt. Als Gymna­si­astin, dann als Schau­spiel­schü­lerin, dann am Burg­theater enga­giert – ich lebte für Lite­ratur, für Theater, für Musik, und ich nannte es auch „für die Kunst“.

»Den Proben im Musik­ver­eins­saal zu lauschen erhob mich aus allem, was Nich­tig­keit war.«

Nie vergesse ich meine eigene Ergrif­fen­heit, als ich – um nur Einiges anzu­führen – Rilke und lesen, als ich Mozart und Bach hören, als ich Gorki und Tschechow spielen durfte. Der Pfle­ge­vater einer Freundin aus der Schau­spiel­schul­zeit war Rudolf Baum­gartner – er leitete damals das Kammer­or­chester –, und vor Konzerten in Wien durfte ich im Musik­ver­eins­saal, zwischen den hoch­ra­genden goldenen Frauen, den Proben lauschen. Es erhob mich aus allem, was Nich­tig­keit war. Ich wurde mit mir eins, wie damals unter den Brom­beer­he­cken.

»Der Begriff KUNST wurde für mich zu einer Kost­bar­keit, die man lieber verschweigt.«

Im Älter-und-Altwerden begann ich dann aber, obwohl in der Kultur­land­schaft tätig, mehr und mehr unter der allge­mein sich inten­si­vie­renden, auch medial geschürten Sucht nach Events, nach Spek­takel, nach Unter­hal­tung ohne Haltung, nach simplen Vergnü­gungen, nach all dem, was ich rundum beob­achten konnte – ja musste! – zu leiden. Ich wollte das Wort KUNST nicht mehr hören und nicht mehr ausspre­chen. Bei diesem Über­schwemmt­werden von selbst­er­nannten Pseudo-Künst­lern und den profit­ori­en­tierten Auswüchsen des Kunst-Marktes wurde der Begriff KUNST für mich zu einer Kost­bar­keit, die man lieber verschweigt.

Erika Pluhar auf der Suche nach Stille
Auf der Suche nach Stille: Erika Pluhar
(Foto: Katha­rina Fröschl-Roßboth)

Auch der Begriff des Reisens, also „eine Reise“ zu unter­nehmen, „auf Reisen zu gehen“ verlor sich. Nur noch Massen­tou­rismus. Wie plötz­lich Wien oder mein geliebtes zu „Disney Worlds“ gerieten. Es gab keine Reisenden mehr, nur noch foto­gra­fie­rende Horden. Flüge nach Hinter­in­dien wurden billiger als meine Taxi­fahrt zum Flug­hafen. Irgendwo ein Hotel zu finden, das bei geöff­netem Zimmer­fenster (wenn über­haupt noch zu öffnen wegen der Aircon­di­tion) noch Stille, oder wenigs­tens keinen Lärm anbieten konnte, wurde unmög­lich.

Viel­leicht höre ich jetzt lieber auf, allzu kritisch und (was dann immer der Fall ist) allzu einseitig zu beschreiben. Aber ich bleibe dabei: Diese Krise, dieser Virus hat auch in eine Blase aus Wahn­sinn und Verrückt­heit hinein­ge­sto­chen und sie zerplatzen lassen. Was jedoch plötz­lich einen neuen Sinn erhielt, war der alles beherr­schende Sieg des Digi­talen über eine scheinbar veral­tete analoge Welt. War das digi­tale Vernetzt­sein. Ich gebe es zu: Gerade ich habe teil­weise arg dagegen gewet­tert. Schien es doch, als würde unsere Gesell­schaft hinter ihren Smart­phones verschwinden, vor Compu­ter­spielen verein­samen, jedweder Kontakt, jedwedes Mitein­ander nur noch per Postings und über Face­book möglich sein, als würde nur noch ganz selten ein „mensch­li­cher“ Umgang von Mensch zu Mensch entstehen können.

»Ohne ein tiefes Gefühl für Einsam­keit gibt es auch keine Gemein­sam­keit – die Sprache ist weise.«

Jetzt beob­achte ich, dass das Internet zu einer Quelle von Gemein­sam­keit wurde. Also Einsam­keit aufheben kann. Mein eigent­li­ches Thema also. Einsam­keit. Ohne ein tiefes Gefühl für Einsam­keit gibt es auch keine Gemein­sam­keit – die Sprache ist weise.

Wir flüch­teten in Well­ness, Fitness, Ayur­veda, Massagen, Gruppen-Yoga, endlos erschöp­fendes Dahin­wan­dern auf irgend­wel­chen Jakobs­wegen, Jogging, Moun­tain­bikes, Skitouren, Fern­reisen, und so weiter, und so weiter… Dies alles fußte natür­lich auf der Suche des Menschen, Alltags­druck, Stress, Über­for­de­rung abwerfen zu können – ist als solches gedacht oder erdacht worden –, es kam zum Begriff der „Entschleu­ni­gung“: Man fastete, medi­tierte, ließ sich esote­risch beraten – und was dabei am meisten blühte, war das Geschäft, waren die Einnahmen derer, die sich der Suchenden annehmen und dabei ihren Profit suchen. 

Jetzt herrscht Still­stand. Für eine Weile. Eine längere? Eine abseh­bare? Wir wissen es nicht. Natür­lich sind auch jetzt nicht alle Menschen der Einsam­keit ausge­setzt: Es gibt Paare, Fami­lien, Kinder. Es gibt die Unge­duld, das heftige Räumen und Ordnen von Liegen­ge­blie­benem, dann die anwach­sende Lange­weile, zu viel und Trinken, das erzwun­gene mitein­ander Auskom­men­müssen. Das Entbehren von Ausflucht.

»Und was ist? Man selbst ist. Man hat einen Körper, man hat Gedanken, man hat Empfin­dungen, und man hat das Gespräch mit sich selbst.«

Es gibt aber auch für sehr viele die Möglich­keit des Nichts­tuns. Der Muße. Nicht der Ablen­kung, sondern der Konzen­tra­tion auf das, was ist. Und was ist? Man selbst ist. Man hat einen Körper, man hat Gedanken, man hat Empfin­dungen, und man hat das Gespräch mit sich selbst. Das unein­ge­schränkte Entde­cken­können seiner urei­gensten Ängste und Freuden. Seiner Endlich­keit, die es anzu­er­kennen gilt, egal, ob auf reli­giösem Weg oder nicht. Seinem Am-Leben-Sein.

Sich dem zu nähern, all dies für sich selbst heraus­zu­finden, ermög­licht der furcht­lose Umgang mit seiner Einsam­keit. Sitzen – schauen – wahr­nehmen. Horchen, was die Seele in einem so spricht. Nicht verdrängen, nein. Hervor­holen. Ich kehre also am Ende meiner Ausfüh­rungen schlicht zu meiner kind­li­chen Erkenntnis zurück, die ich ein langes Leben lang nicht verlor: „Wenn sie das beun­ru­higte Wissen um sich selbst ablegen konnte, wurde sie mit sich eins.“

Zur Website von Erika Pluhar: www​.erika​pluhar​.net
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Ein Beitrag über ihr Leben auf www​.deutsch​land​funk​kultur​.de