Anna Lucia Richter stammt aus Köln und lebt jetzt in Wien. Ihr neues Album: „Heimweh“. Die Sopranistin über die Lyrik von Schubert-Liedern, ihr persönliches Heim- und Hinausweh und die Spannung, in verschiedene Rollen zu schlüpfen.
CRESCENDO: Sie geben einen Liederabend lang den Engel mit der glockenreinen Stimme. Und dann kehren Sie zur Zugabe die Kölnerin heraus und singen das freche „Och Moder isch will en Ding han“ aus den Brahms’schen Volksliedern. Wer ist denn nun die echte Anna Lucia Richter?
Anna Lucia Richter: Ich glaube, von allem etwas. In zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten wir uns ja auch unterschiedlich in Wechselwirkung mit dem Gegenüber: Je nachdem, was ich singe, belichte ich unterschiedliche Teile meiner selbst.
Fühlen Sie sich „kölsch“?
Das Geerdete, Pragmatische, das habe ich auf jeden Fall. Et kütt, wie et kütt.
Sie leben mittlerweile in Wien. Spüren Sie denn selbst manchmal dieses Heimweh, dem Sie Ihr neues Album mit Schubert-Liedern gewidmet haben?
Es gibt solche Momente. Freunde, Familie, die ich vermisse. Und wenn ich mit dem Auto über den Rhein fahre und den Dom sehe, dann weiß ich, ich bin zu Hause. Aber ich könnte nach vier Jahren auch Heimweh nach Wien haben.
Mit dem Begriff „Heimweh“ zielen Sie ins Herz der Romantik, das ist hart am Klischee.
Das Wort eröffnet Assoziationsräume. Im Heimweh schwingt die Sehnsucht nach der Kindheit mit. Dieses absolute Aufgehobensein kann man nie wiedererlangen, es nimmt immer weiter ab. Die Suche nach Geborgenheit ist ein großer Teil des Heimwehs. Aber wenn man dann daheim ist, setzt das Fernweh ein, das Hinausweh.
„Die Suche nach Geborgenheit ist ein großer Teil des Heimwehs“
Im Kern geht es in den Liedern um die eine oder andere Art von Getrenntsein …
… und viel um Abschied. Der Hirt auf dem Felsen, eins der letzten Werke Schuberts, ist ein großer Abschied, aber der letzte Satz ist schon fast schwerelos. Er erinnert mich an die Arie Ich freue mich auf meinen Tod von Bach. Trauer kann glücklich machen. Dieser kleine Schmerz kann sehr befreiend sein.
„Trauer kann glücklich machen“
Kann sich auf dem kleinen Platz, den ein Lied bietet, eigentlich eine Dramaturgie entfalten?
Nehmen Sie den Zwerg. Das Lied nimmt unglaublich an Fahrt auf. Jeder Charakter hat eine Farbe. Der erste Verlust dagegen ist ein kleines Gemälde, die Atmosphäre ändert sich innerhalb des Stückes nicht.
Schubert war längst nicht so wählerisch mit den Gedichten wie etwa Schumann. Wie finden Sie die Qualität der Lyrik?
Er hat nicht ausschließlich Goethe und die Großen vertont, trotzdem: gar nicht so schlecht. Das ist wahrscheinlich das Stockholm-Syndrom, weil man sich so intensiv damit befasst. Aber ich habe es bislang immer nachvollziehen können, warum Schubert einen Text ausgewählt hat. Natürlich sind da welche dabei, die ohne die Vertonung niemand mehr kennen würde.
Eine Liedvertonung ist ja selbst schon eine Interpretation.
Mich interessiert, wie Schubert an die Vertonung geht. Er nimmt einfach den Affekt, manchmal scheinbar ohne Analyse. Das Spannende bei ihm ist, man baut eine persönliche Beziehung zu den Figuren auf.
Was lieben Sie überhaupt am Lied?
Oh! (holt Luft) Dass man innerhalb eines Liederabends in so viele verschiedene Rollen schlüpft. Diese Gegensätze: Ich bin ein Totengräber, ein zwölfjähriges Mädchen, eine junge Liebende. Was für eine Fallhöhe! Dann das Kammermusikalische. Wir können selbst bestimmen, wie lange wir proben, können diskutieren. Das ist eine große Freiheit.
„Ich bin ein Totengräber, ein zwölfjähriges Mädchen, eine junge Liebende. Was für eine Fallhöhe!“
… also das Gegenteil einer Opernproduktion. Wie viel Oper singen Sie?
So ein, zwei Produktionen pro Jahr. Es ist schön, mit den Kollegen länger zusammenzuarbeiten. Sechs Wochen mal an einem Ort zu sein. Auf der Bühne zu spielen, mit Maske, mit der Regie etwas zu entwickeln.
Ihr Stimmvolumen ist nicht riesig. Kommen Sie über den Graben?
Ich würde jetzt keinen Wagner oder Verdi singen. Aber in der letzten Zeit singe ich beispielsweise oft Mahlers Wunderhorn-Lieder, das geht wunderbar, sowohl mit Haitink als auch Currentzis. Meine Stimme ist glücklicherweise sehr obertonreich und trägt gut. Ich komme aus der Mädchenchor-Tradition. Da habe ich gelernt, sehr gerade und sehr sauber zu singen. Da muss man lernen zu unterscheiden, wie viel davon ist gemacht, und wie viel gehört wirklich zu meiner Stimme? Meine Stimme gewinnt momentan an Tiefe, die wieder anders an die Höhe angebunden ist.
Wenn die Stimme sich lebenslang verändert, ändern sich auch die Partien. Was würden Sie denn gerne mal singen?
Ich wollte immer die schönste Musik machen, ohne limitiert zu sein. Aber das war nie aufs Repertoire bezogen. Wobei – Susanna! Susanna möchte ich gern singen. Oder Cherubino? Mittellage und Tiefe machen viel Spaß. Das wäre neues Terrain.
„Ich wollte immer die schönste Musik machen, ohne limitiert zu sein“
Da wechseln Sie ja munter die Fächer, wenn Sie beides machen.
Dieses Schubladendenken geht mir auf die Nerven: „Du darfst keinen Cherubino singen, sonst wirst du nie wieder für Pamina gefragt!“ Für manche Veranstalter ist das natürlich einfacher. Früher war es durchaus üblich, an einem Abend Carmen und am nächsten Abend eine lyrische Mozart-Sopran-Rolle zu singen.
Sie müssen bestimmt immer wieder Überzeugungsarbeit leisten, Sie sind ja die Inkarnation des jugendlich-lyrischen Soprans. Stört Sie das Etikett „die junge Anna Lucia Richter“?
Besser als „die alte …“! (lacht) Durch das Repertoire ergibt sich ein Image. Vieles hat man nicht in der Hand. Wenn Sie meine Fotos nehmen: Eines ist zehn Jahre alt, das wird ständig gedruckt, und da sehe ich halt ätherisch drauf aus. Ich mache das, was gerade zu mir passt. Es ist die Sache der anderen, ihr Bild von mir zu ändern. Ich habe genug mit dem Singen zu tun. Die Zeit, auch noch bewusst mit Haarfarbe und Kleidern Images zu basteln, habe ich nicht.
„Es ist die Sache der anderen, ihr Bild von mir zu ändern. Ich habe genug mit dem Singen zu tun“
Schon mal Stimmkrisen gehabt?
Es gibt immer wieder Momente. Aber meine Amsterdamer Lehrerin Margreet Honig kann oft sogar am Telefon helfen.
Dann singen Sie ins Telefon?
(lacht) Das nicht. Aber, wie mal eine Sopranistin im Interview gesagt hat, stellen Sie sich vor, Sie sind Geiger. Und Sie müssen mit Ihrer Geige staubsaugen und abspülen. Wir Sänger müssen mit unserem Instrument eben auch noch den Alltag bewältigen. Da muss man es sich mal gönnen zu sagen, heute geht es mir emotional eben nicht so gut. Natürlich kann man solche Dellen mit Technik glätten. Aber es ist wichtig, sie sich selbst einzugestehen. Je mehr man mit seiner Stimme schimpft, desto beleidigter ist sie.