Evgeny Kissin
Die Kunst der Beschränkung
von Mario-Felix Vogt
25. Oktober 2018
Evgeny Kissin gilt als einer der bedeutendsten Interpreten seiner Generation. Bei seinem respektablen Repertoire kann er sich Lücken leisten. Muss er. Denn die Liste der Werke, die er noch spielen will, ist lang.
Der russische Pianist Evgeny Kissin gilt als einer der bedeutendsten Interpreten seiner Generation. Bei seinem respektablen Repertoire kann er sich Lücken leisten. Muss er. Denn die Liste der Solo- und Orchesterwerke, die er noch spielen will, ist lang.
Immer schneller dreht sich das Interpreten-Karussell in den letzten Jahren. Immer wieder tauchen neue hübsche Gesichter auf, deren oft mittelmäßige Aufnahmen mit viel Marketing-Aufwand an den Konsumenten gebracht werden sollen. Und immer wieder passiert es, dass diese, meist jungen, Künstler wieder in der Versenkung verschwinden, bevor ihre Karriere überhaupt richtig begonnen hat. Im Vergleich zu diesen nach Popkriterien gecasteten Musikern erscheint Evgeny Kissin wie ein Wesen von einem anderen Stern. Er ist völlig uneitel, sehr auf die Musik fokussiert, die ihn wirklich interessiert, und versucht nicht, Wissen vorzutäuschen, das er nicht hat.
Auf die Frage beispielsweise, was er denn von den Klavierwerken des amerikanischen Minimalisten Philip Glass oder von Cross-over-Klassik hält, gesteht er denn auch freimütig, dass er beides „ehrlich gesagt nicht kenne“. Auch die Frage, ob er jemals Beethovens Klaviermusik auf einem historischen Hammerflügel gespielt habe, verneint er. Kissin zeigt hier, wie wichtig es in der Kunst sein kann, sich auf bestimmte Dinge zu beschränken, wenn man Großes erreichen möchte. So habe er auch, anders als die von ihm besonders geschätzten Beethoven-Interpreten Arthur Schnabel oder Richard Goode, „niemals daran gedacht, alle 32 Beethoven-Sonaten aufzunehmen“. Da konzentriert er sich lieber auf einige wenige Sonatenwerke, in die er sich dann aber versenkt. Beispielsweise in die Hammerklaviersonate. Mit diesem monumentalen Stück, das sowohl hinsichtlich Umfang als auch hinsichtlich der wahnwitzigen pianistischen Anforderungen jeglichen Rahmen sprengt, war er in den letzten beiden Jahren mehrfach live im Konzert zu erleben.
„Ich hoffe nur, dass ich lange genug lebe, um all das spielen zu können, was ich gerne spielen würde“
Die Hauptschwierigkeit bei diesem Werk stellen die rasend schnellen Tempi dar, die Beethoven für die beiden Ecksätze mit Metronomzahlen exakt notierte. Wie die meisten seiner Pianistenkollegen ignoriert der russische Starpianist diese Vorschriften, da sie schlichtweg „unspielbar“ seien. „Beethoven schrieb diese Sonate, als er bereits taub war“, erklärt er, „also orientierte er sich bei den Metronomangaben an dem, was er in seinem Kopf hörte. Er hatte jedoch keine Gelegenheit zu überprüfen, wie seine Musik in diesen Tempi wirklich klingen würde.“ Kissin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich sogar manche großen Komponisten bei der Interpretation ihrer eigenen Werke nicht an ihre Tempovorschriften gehalten haben, und nennt Sergej Rachmaninow als prominentes Beispiel. Mit dessen Préludes kombinierte er die Hammerklaviersonate im Konzert als Kontrast. Auf ein sehr langes klassisches Werk folgten dann zehn kurze romantische Stücke.
Evgeny Kissin verfügt über ein umfangreiches Repertoire, doch ist da eine ganze Reihe an Klavierkonzerten, die er gerne noch einstudieren möchte. Dazu gehören so bekannte Werke wie Mozarts frühes Es-Dur Konzert Jenamy, früher Jeunehomme genannt, Liszts 2. Klavierkonzert, das Kissin im nächsten Jahr live spielen wird, Bartóks Konzerte Nr. 1 und 3 oder Gershwins Rhapsody in Blue, aber auch selten zu hörende Stücke wie Karol Szymanowskis 4. Sinfonie für Klavier und Orchester oder die ersten beiden Konzerte des in deutschen Landen immer noch viel zu unbekannten russischen Spätromantikers Nikolai Medtner. Natürlich fallen ihm auch etliche Solowerke ein, die er mit Vergnügen lernen würde. „Allerdings würde ich mehrere Seiten brauchen, um sie alle zu nennen“, räumt er ein. „Ich hoffe nur, dass ich lange genug lebe, um all das spielen zu können, was ich gerne spielen würde.“