Francesco Piemontesi
… und hinter all dem Wahnsinn eine ganze Welt
20. September 2023
Der Schweizer Pianist Francesco Piemontesi hat sich an eines der herausforderndsten Werke der Klavierliteratur gewagt: die „Études d’execution transcendante“ von Franz Liszt. Beim Gespräch in seiner Wahlheimat Berlin wirkt er so entspannt wie nach einer erfolgreichen Mount-Everest-Besteigung.
Herr Piemontesi, ist Liszt zu seinen Lebzeiten wirklich verstanden worden?
FP: Ich denke schon. Zumindest nach und nach wurde er als Pianist und dann als Komponist auch von seinen Zeitgenossen anerkannt. Das Problem ist in meinen Augen eher, dass vieles von dem, was er hinterlassen hat, auf die Schnelle geschrieben wurde. Sein gesamtes Klavierwerk umfasst ungefähr 100 Alben – da kann natürlich nicht alles die gleiche Qualität wie die Sonaten oder die „Années de Pèlerinage“ haben. Aber hätte Liszt gewusst, dass man sich heute noch mit den „Ungarischen Rhapsodien“ und anderen Werken beschäftigt, hätte er bestimmt das eine oder andere nicht veröffentlicht. Vielleicht hat damals auch sein Ruf als extremer Mann den einen oder anderen abgeschreckt. Er galt ja als Don Giovanni, war zudem eine Art Priester, der christliche, aber auch schwarze Messen abgehalten hat. Es kamen bei ihm viele Leben in einem zusammen.
»Ich versuche, Musik lebendig zu halten und zu vermitteln, weshalb diese Musik noch heute für alle Menschen Gültigkeit besitzt.«
Was ist für Sie das Revolutionäre an ihm, bezogen auf das Klavier?
Man sieht es gut an den „Études d’exécution transcendante“: Liszt hat die Möglichkeiten seines Lieblingsinstruments maximal ausgeschöpft. Damit meine ich vor allem: Er hat das Klavier wirklich wie ein Orchester benutzt. Und es funktioniert: Wenn man die Komplexität dieser Komposition meistert, findet man diese orchestralen Farben. Man muss die Schwierigkeiten überwinden, transzendieren, wie der Titel schon sagt – dann entstehen Tableaux, poetische Bilder, eine Art Tonmalerei. Das hat Liszt alles an seinem Lieblingsinstrument geschaffen. Dazu kommt, dass er ein wahnsinnig akribischer Arbeiter war. Nehmen Sie die h‑Moll-Sonate …
Die Sie neben den Etüden ebenfalls eingespielt haben …
Ich habe ein wunderschönes Faksimile davon zu Hause, bei dem man sämtliche Phasen des Schaffens sieht. Er hat mit verschiedenen Farben gearbeitet, die Korrekturen in Rot, die Dynamik ist später eingetragen, ganze Teile sind noch geändert worden, ähnlich wie bei Chopin. Liszt hat wie besessen daran geschliffen. Ein Werk wie dieses ist auch relativ früh verstanden worden. Was dazu kommt: Für mich verkörpert Liszt eine Art Bindeglied zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, zwischen Schubert und Debussy, die ich beide spiele. Liszt ist der Mann in der Mitte, wenn man so will.
Die Etüden haben eine lange Entstehungsgeschichte, frühere Fassungen wurden zum Beispiel von Clara und Robert Schumann ziemlich kritisch gesehen – was ist in Ihren Augen der Grund?
Schwer zu sagen. Ich selbst finde, dass es der Vorläuferfassung, den Grand Études, an Poesie fehlt, sie erscheint mir ein bisschen grob. In anderen Fällen – wie bei den „Glocken von Genf“ aus dem ersten Jahr der „Pèlerinage“ – gefällt mir die früheste Fassung sogar besser. Aber bei den Etüden hat erst der Schliff bis zur Endfassung die Spielräume geschaffen, die dafür sorgen, dass Magie entstehen kann. Womöglich hat ihm die Arbeit an der „Pèlerinage“ in der Zwischenzeit geholfen, seine Poesie zu entwickeln.
Wann haben Sie die Etüden für sich entdeckt?
Relativ spät. Ich habe drei von ihnen sehr früh gespielt, schon als 19‑, 20-Jähriger, mich danach aber lange nicht mit dem Werk beschäftigt. Bis die Pandemie kam. Mir war schnell klar: Das wird dauern. Und ich wusste auch: Jetzt ist die Chance, mich ein ganzes Jahr mit den Études auseinanderzusetzen, daran zu arbeiten, zu feilen. Ich brauche aber eine Deadline, einen gewissen Druck, sonst widme ich mich anderen Projekten. Also habe ich die Plattenfirma angerufen und gesagt: In einem Jahr möchte ich gerne Liszt aufnehmen. Die Aufnahme fand in einem Studio in Lugano statt – und am Ende dieser Session war der erste Tag, an dem in der Schweiz wieder Publikum in einem Saal erlaubt war. Das Schweizer Radio hat auf die Schnelle ein Konzert mit 75 Zuschauern organisiert – der maximal erlaubten Kapazität –, und so konnte ich diese Stücke noch vor Leuten spielen. Ein absoluter Glücksfall!
»Vielleicht sind die Etüden tatsächlich die beste Klavierschule, die es gibt.«
Inwiefern?
Ich spiele anders, wenn ich vor Leuten spiele, freier. Ich kommuniziere mit dem Publikum, die Musik ist schließlich von Menschen für Menschen geschrieben worden. Die Aufnahmesituation vor Mikrofon ist eine künstliche. Wenn Menschen da sind und die Energie den Saal füllt, passiert vieles von allein. Als wir die Takes sechs Monate später gehört haben, war uns allen klar, dass diese Version mit Publikum die intensivste war. Davon findet sich eine Menge auf dem Album.
Sie haben die Arbeit an diesem Werk mit der Besteigung des Mount Everest verglichen. Dafür braucht es langes Training. Wie sah Ihre Vorbereitung aus?
Ich hatte ja wegen der Pandemie viel Zeit für diese Everest-Besteigung. Andernfalls wäre es schwierig geworden. Ich spiele 90 bis 100 Konzerte im Jahr, das heißt, der Zeitraum, in dem ich wirklich neue Stücke lernen kann, ist nur der Sommer. Ich mache schon auch gerne Urlaub, aber danach habe ich drei oder vier Wochen, in denen ich mich wirklich konzentrieren kann. Das hätte für die Etüden aber niemals ausgereicht. Im Bereich Klavier war diese Aufnahme das Schwerste, was ich bisher gemacht habe, neben dem Konzert mit Kompositionen der Südkoreanerin Unsuk Chin.
Ist Liszt schwieriger für die Hände oder den Kopf?
Zum einen verlangt er einem technisch alles ab. Schnelligkeit, Kraft, ganz kurz angestoßene Töne, unglaubliches Legato, man muss mit dem Klavier singen und wirklich alles können. Zum anderen ist auch das Mindset wichtig, die Fähigkeit, sich extremen Wechselbädern auszusetzen. Nehmen Sie „Mazeppa“ – das ist eine der kräftigsten Etüden, die es gibt, mit riesigen Akkorden. Da müssen Sie mit vollem Krafteinsatz reingehen in die Tastatur, sonst klingt es nicht. Die Hand ist noch so fertig von den Akkorden … Und gleich danach kommt „Feux follets“ – das leichteste, leiseste, athletischste Stück überhaupt. Diese beiden direkt hintereinander spielen zu müssen, ist wirklich eine Gemeinheit. Aber es hilft, nie aus den Augen zu verlieren, dass sich hinter dem technischen Wahnsinn eine ganze Welt eröffnet.
Hat Sie das Spielen der Etüden verändert?
Meine frühere Lehrerin, Cécile Ousset, die mich entscheidend geleitet hat, als ich Anfang 20 war, hat schon zu mir gesagt: Spiel irgendwann all diese Etüden, danach wirst du ein anderer Pianist sein. Und da ist etwas Wahres dran. Nachdem ich sie gemeistert hatte, ist mir vieles von meinem übrigen Repertoire plötzlich leichter gefallen. Vielleicht sind die Etüden – neben allem, was sie sonst ausmacht – tatsächlich die beste Klavierschule, die es gibt. Ich kam aus dieser Zeit und dachte: Wieso funktioniert diese Stelle bei Brahms plötzlich so leicht?
Sind Sie an der frühen Fassung der berüchtigten f‑Moll-Etüde auch verzweifelt, die als im Grunde unspielbar gilt?
Sie ist unspielbar. Keine Ahnung, was Liszt da geritten hat, ob er im Rausch war. Das ist ein Fall, in dem wirklich nichts mehr hilft. Ähnlich wie beim letzten Satz der g‑Moll-Sonate von Schumann. Es existiert eine wahnsinnige erste Version davon, die ebenfalls unspielbar ist. Zum Glück hat er das Finale dann umgeschrieben, andernfalls bräuchte es zwei Pianisten dafür.
»Liszt verschmilzt Geschichte, Natur und Seelenzustände zu einem riesigen Kunstwerk.«
Haben Sie ein Ritual, wenn Sie sich auf ein neues Stück vorbereiten?
Ganz viel Ruhe, keine Reisen, kein Leistungsdruck – ich lasse mir Zeit, um verschiedene Tempi, auch verschiedene Körpersprachen auszuprobieren. Ich spiele sehr viel mit dem Körper, all die Emotionen, Charaktere, Atmosphären der Musik finde ich dort. Wenn wir wütend sind oder fröhlich, überträgt sich das ja auch auf unseren Körper. Manchmal versuche ich, bewusst gegen die Stimmung eines Stücks zu gehen, zu schauen, ob beispielsweise hinter einer Heiterkeit nicht auch Melancholie steckt. Ich experimentiere herum. Aber das kann ich nicht, wenn ich weiß, dass ich übermorgen ein Orchesterkonzert spiele.
Brauchen Sie viel Wissen über den Komponisten, um sich sicher zu fühlen?
Ich lese schon viel Biografisches. Aber natürlich hilft es letztlich wenig zu wissen, wie viele Briefe Liszt an jemanden geschrieben hat, der nichts mit den Etüden zu tun hat. Alle Fassungen zu kennen ist wichtig – und im Zweifelsfall die Instrumente aus der Zeit. So war ich zum Beispiel im Museo Teatrale alla Scala in Mailand, wo einer der Flügel von Liszt steht, nämlich derjenige, auf dem er in Bellagio unter anderem die Dante-Sonate komponiert hat. Im Mozarteum in Salzburg konnte ich relativ viel auf dem letzten Hammerflügel von Mozart üben und versuchen, dem Klang nachzuspüren. So etwas ist mir wichtig – zu wissen, wie diese Flügel damals geklungen haben könnten. Gut, sie sind sicher unterdessen ein wenig restauriert worden, aber man merkt schon, was für Instrumente das sind.
Beschreiben Liszts Etüden eine Reise?
Es sind für mich viele verschiedene Reisen. Eine Reise in die Natur, wie „Paysages“ oder „Chasse-neige“, dieser Schneesturm am Ende. Eine Reise in die Vergangenheit wie im Falle der „Ricordanza“, die mehr oder weniger eine Hommage an Chopin ist, mit genau den gleichen Trillern in der Mitte wie bei der berühmten Polonaise op. 53. Wenn ich an „Mazeppa“ denke, ist es auch eine Reise in die Mythologie, so wie Liszt sie bei der „Pèlerinage“ in Bezug auf Wilhelm Tell unternommen hat, wie er es mit Dante, Petrarca und so fort macht. Und bei den übrigen Stücken ist es eine Reise in verschiedene Seelenzustände. Die „Wilde Jagd“, das ist eine dämonische, faustische Geschichte. Die f‑Moll-Etüde, also die spätere Fassung, vibriert vor Leidenschaft. Liszt verschmilzt Geschichte, Natur und Seelenzustände in diesem Zyklus zu einem riesigen Kunstwerk.
Sie haben von der poetischen Tonmalerei gesprochen. Welche Bilder sehen Sie vor Ihrem inneren Auge beim Spielen der Etüden?
Die Bilder ändern sich mit der Zeit. Ich bin in meiner Arbeit kein Fan davon, irgendetwas zu fixieren. Ich versuche, im Moment zu sein und die Bilder, die spontan erscheinen, zu umarmen. Wenn ich nach einem bestimmten Schema spiele, entsteht vieles nicht mehr organisch. Ich könnte nie einfach ein Bild aus der Schublade holen. Also sind es ganz verschieden Bilder …
Welche zum Beispiel?
Ich bin im Tessin aufgewachsen, zwar am See, aber sehr nah an den Bergen. Von 200 Metern über dem Meeresspiegel geht es dort sofort zu den 2500ern. Das heißt, man ist nach drei, vier Kilometern in der wildesten Natur, wo ich in meiner Jugend unglaubliche Schneestürme erlebt habe. Das ist eine Hilfe bei „Chasse-neige“. Ein Bild, das mir bei der „Ricordanza“ erscheint, ist das wunderbare Portrait, das Delacroix von Chopin gemacht hat, als der schon halb im Sterben lag. Ein Halbprofil, bei dem die Hälfte des Gesichts im Schatten liegt. „Paysage“ kann eine Berglandschaft sein, aber vielleicht auch eine schöne schottische Landschaft, die Highlands mit ihrer eher lieblichen Natur.
Liszt befand sich stets auch in Konkurrenz mit anderen Virtuosen seiner Zeit, Sigismund Thalberg etwa. Ist Ihnen dieses Gefühl vertraut, sich gegen andere behaupten zu müssen?
Ich habe das Glück, dass ich sowohl viele Rezitale als auch Konzerte mit den größten Orchestern spielen darf. Ich weiß natürlich, dass es für viele Kollegen viel schwieriger ist. Aber wenn man sich in die Konkurrenz begibt und Verbissenheit entwickelt, fängt man an, wirklich schlecht zu spielen – und zu leben. Jeder von uns kann doch nur versuchen, sich so gut wie möglich in die Richtung zu entwickeln, in die es einen zieht. Ich versuche, Musik lebendig zu halten und wie im Falle von Liszt zu vermitteln, weshalb diese Musik noch heute für alle Menschen Gültigkeit besitzt.