Gerd Schaller
Anton Bruckner – das ewige Geheimnis
24. Februar 2022
Gerd Schaller gilt als einer der versiertesten Bruckner-Dirigenten. Unter dem Motto „Bruckner 2024“ initiierte er 2011 das Großprojekt, bis zu Anton Bruckners 200. Geburtstag im Jahr 2024 sämtliche seiner Sinfonien in allen Fassungen aufzuführen und aufzunehmen.
CRESCENDO: Maestro Schaller, können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben Bruckner gehört haben?
Gerd Schaller: Das kann ich tatsächlich. Damals muss ich um die 14 Jahre alt gewesen sein, da hörte ich im Radio die Vierte Sinfonie von Bruckner und anschließend das Te Deum mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Eugen Jochum. Das faszinierte mich schon als Kind unglaublich.
Was war es, was Sie damals so gepackt hat?
Das ist eine spannende Frage. Ich könnte jetzt natürlich sagen, es sei das Intellektuelle, die enorme Komplexität, die großen Bögen, die Emotionalität der Musik, der geistige Gehalt gewesen. Und das stimmt mit Sicherheit alles. Und doch bleibt es letzten Endes ein großes Geheimnis, warum einen dies oder jenes auf einmal ergreift, berührt, beseelt und in andere Sphären bringt. Mir erging das damals mit Bruckner definitiv so.
Wie wirkte die Musik auf Sie?
Bruckners Musik erschien einerseits total modern und andererseits so retrospektiv, fast archaisch. Da waren modale Wendungen aus dem Mittelalter und der Renaissance zu hören, im selben Moment ging die Musik aber visionär ins 20. Jahrhundert hinein.
Bruckner ist seitdem zu einem wichtigen Teil Ihres Musikerlebens und Ihrer Arbeit geworden. Wie kam es dazu?
Eigentlich nimmt Bruckner bis heute nur einen kleinen Teil dessen ein, was ich dirigiere, und ich habe nie bewusst beschlossen, mich hauptsächlich Bruckner zu widmen. Aber es stimmt: In den letzten Jahrzehnten rückte er immer mehr in den Fokus und wurde zu einer Art Lebensbegleiter für mich.
Ist Ihre Faszination für den Komponisten heute noch mit jener aus Ihren Jugendtagen vergleichbar?
Die Faszination hat sich sogar noch gesteigert! Für mich ist die Auseinandersetzung mit Bruckner eine ewige Entdeckungsreise. Das macht ja überhaupt die Größe von Werken aus, dass man immer wieder neue Aspekte darin entdeckt, je länger man sich damit beschäftigt. Man kann regelrecht süchtig danach werden.
Gerd Schaller: »Die Zwischenfassungen geben nicht nur Einblick in die Komponistenwerkstatt Bruckners, sondern zeigen einen Entwicklungsprozess bei Bruckner selbst.«
2011 haben Sie unter dem Titel „Bruckner 2024“ ein Großprojekt begonnen mit dem Ziel, bis zum 200. Geburtstag Anton Bruckners im Jahr 2024 sämtliche seiner Sinfonien in allen Fassungen, einschließlich der seltenen Zwischenfassungen, aufzuführen und aufzunehmen. Was ist das Besondere an diesen Zwischenfassungen?
Die Zwischenfassungen geben nicht nur Einblick in die Komponistenwerkstatt Bruckners, sondern zeigen einen Entwicklungsprozess bei Bruckner selbst. Bruckner überarbeitete seine Werke immer wieder, weil er nicht zufrieden war, weil er nach Vollendung strebte oder weil er beeinflusst wurde. Interessanterweise ging er dabei immer ähnlich vor: Seine erste Überarbeitung des jeweiligen Werks war meist noch deutlich opulenter als die Ursprungsversion. In einem nächsten Schritt begann er, radikal zu kürzen. Dadurch verknappte sich die Musik, wurde teilweise glatter und nicht mehr so urtümlich wie in der Ursprungsversion.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Da gibt es zahlreiche. Von der Achten Sinfonie kennt man ja zwei Versionen. Aber es gibt auch noch eine Zwischenfassung, die gerade im langsamen Satz traumhafte Passagen hat. Später kamen diese radikal weg. Ähnlich eindrucksvoll war Bruckners Umgang mit der Vierten Sinfonie, der Romantischen.
Diese haben Sie gerade als weiteren Teil des Projekts „Bruckner 2024“ herausgebracht. Was zeigt sich an ihr?
Bei der Vierten Sinfonie sind die Unterschiede von der ersten Fassung zu den späteren Ausgaben extrem. Im Finalsatz zum Beispiel erklingen in der Zwischenfassung verschiedene rhythmische Ebenen zur gleichen Zeit – die eine Orchestergruppe spielt Quintolen, die andere normale Viertel, die nächste Triolen. Dieser irreguläre Fünferrhythmus ist futuristisch. Mir fällt kein anderer Komponist aus dem 19. Jahrhundert ein, der Ähnliches vollbracht hätte. Bruckner probierte das auch nur dieses eine Mal. Er merkte dann offensichtlich, dass das so nicht aufführbar war und änderte es. Zudem tauschte er das Scherzo komplett aus. Was wir kennen, ist das Jagdscherzo mit den Fanfaren, Hörnern und einem Waldbild. Das ursprüngliche Scherzo von Bruckners Vierter Sinfonie war anders. In ihm fängt ein einzelnes Horn an, dann gibt es eine Pause, und auf einmal kommt eine Welle ins Laufen – es vollzieht sich ein gigantischer Ausbruch. Dieser erste Wurf ist genial, urtümlich, ein ungestümer Bruckner. Die Emotionen sind hier viel schärfer getrennt und die Kontraste treten viel stärker hervor als in der späteren Waldidylle.
Gerd Schaller: »Es gibt bei Bruckner nicht nur das Kolossale. In den frühen Zwischenfassungen spiegelt sich eine große Zerbrechlichkeit und Emotionalität.«
Die Zwischenfassungen kamen nie eigenständig zur Aufführung, sie waren vielmehr Zwischenschritte des Kompositionsprozesses. Ab wann sprechen Sie von einer Zwischenfassung?
Der Fassungsbegriff wird tatsächlich überbewertet, Bruckner selbst verwendete ihn nie, und man kann trefflich darüber streiten, wo eine Fassung anfängt und wo sie aufhört. Ich sehe das so: Die Musik muss hörbar und substanziell unterschiedlich sein. Irgendwelche Kleinigkeiten sind zu wenig, da kann man nicht von einer Fassung sprechen. Für mich haben Fassungen dann Relevanz, wenn sie einen wichtigen Zwischenschritt zeigen und musikalisch eigenständig sind. Es geht hier nicht um graue Musiktheorie, sondern um äußerst lebendige Musik. Das ist für mich auch das Spannende an dem Projekt „Bruckner 2024“. Es soll kein enzyklopädisches musikwissenschaftliches Werk werden, sondern Musik vorstellen, die zu Herzen geht und die Menschen ergreift.
Denken Sie denn, es wäre im Sinne Bruckners, auch diese Arbeits-Zwischenschritte zu zeigen?
Das ist eine wichtige Frage. Womöglich wäre es nicht in seinem Sinne – gleichzeitig denke ich, wenn Bruckner absolut dagegen gewesen wäre, hätte er uns die Werke nicht überliefert. Denn das unterscheidet ihn von anderen Komponisten. Die probierten auch herum, vernichteten aber die alten Versionen. Bruckner hob alle auf. Dadurch haben wir einen musikalischen Schatz für die Nachwelt.
Welche Facetten von Bruckner kommen in diesen Zwischenfassungen zum Vorschein?
Gerade bei den frühen Fassungen zeigt sich ein sehr kammermusikalisch agierender Bruckner. Es gibt bei Bruckner nicht nur das Kolossale, das oft zu stark betont wird. In den frühen Zwischenfassungen spiegelt sich stattdessen eine große Zerbrechlichkeit und Emotionalität, gleichzeitig auch eine sehr radikale Seite in Passagen, die später glatter wurden. Das ist faszinierend.
Gerd Schaller: »Es bleibt ein großes Geheimnis, wie ein Mensch dazu in der Lage sein kann, solche Musik zu schreiben. Das ist das Unerklärliche, das Schöne und Faszinierende.«
Bruckner selbst sagte einmal, erst die Nachwelt werde ihn ganz verstehen. Was könnte er damit gemeint haben?
Ich glaube, er meinte das grundsätzlich. Er war im Wiener Musikleben ja ein gewisser Außenseiter, der sich auch bewusst nicht anpasste. Er ging nicht zu den großen Feierlichkeiten und war kein Mann der Gesellschaft wie zum Beispiel Brahms. Stattdessen galt er als der Einfältige aus der Provinz. Gleichzeitig aber war er sich seiner Größe durchaus bewusst und sah klar, was er konnte. Einmal wurde er gefragt, ob er nicht anders schreiben könne, gefälliger. Woraufhin er erwiderte: „Ich kann nicht anders.“ Das ist eine wunderschöne Antwort. Weil das eigentlich jeden betrifft, der mit Kunst zu tun hat. Letztlich ist Kunst etwas, das aus uns heraus kommt. Bei Bruckners Werken findet diese Kunst am Ende immer eine Auflösung – jede seiner Sinfonien endet mit einer Synthese, einer Erlösung. Der Strahl der Musik geht hoch ins Weltall. Das ist kosmische Musik.
Manche sprechen ja vom Musikanten Gottes.
Das finde ich aber einen schwierigen Begriff, weil er das naiv Frömmelnde in den Vordergrund stellt. Dieser Blick ist mir zu simpel, so sehe ich ihn nicht. Wobei er mit Sicherheit eine starre, fast zwanghafte Frömmigkeit hatte. Am Ende seines Lebens betete er ja so viel – hätte er mal mehr geschrieben, vielleicht wäre dann die Neunte Sinfonie noch fertig geworden.
Welchen Menschen haben Sie in Ihrer langjährigen Beschäftigung mit seiner Musik gefunden?
Es ist eigenartig: Je mehr ich mich mit Bruckner beschäftige, desto schwerer fällt es mir, ihn einzuschätzen. Natürlich kenne ich all die Anekdoten, durch die man vermutlich vor allem ein Bild seiner Zeitgenossen bekommt. Aber wenn man diese Schilderungen im Kopf hat, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Bild und dem Werk von ihm. Im ersten Moment würde man demnach gar nicht glauben, dass ein Mensch wie Bruckner solche Musik schreibt. Bruckner ist eine eigenständige, schwierig einzuordnende Persönlichkeit und war sicherlich weder der Einfältige noch das arme Opfer, als das er manchmal gesehen wird. Ich beschloss an einem bestimmten Punkt, mich nur noch um das Werk zu kümmern.
Das heißt, der Mensch selbst tritt in den Hintergrund?
Jenseits aller biografischen Hintergründe ist da etwas Geniehaftes – ein Zauber, der bleibt. Und egal, welchen großen Komponisten man sich ansieht: Es bleibt ein großes Geheimnis, wie ein Mensch dazu in der Lage sein kann, solche Musik zu schreiben. Das ist das Unerklärliche, das Schöne und Faszinierende. Und es ist auch das, was mich selbst immer wieder so ergreift. Wir wollen immer alles erklären, analysieren diese harmonische Wendung und jenen musikalischen Bezug – das ist schön und gut. Aber Kunstfertigkeit ist nicht alles. Musik kann perfekt komponiert sein, uns aber dennoch nicht ergreifen. Was uns am Ende berührt, können wir nicht abschließend erklären. Deshalb sollten wir uns eingestehen: Es gibt dieses Geheimnis. Und unser aller Aufgabe besteht darin, es zum Leben zu erwecken.
Weitere Informationen zu Gerd Schallers Projekt „Bruckner 2024“ unter: www.bruckner2024.com