Hektische Mutmaßungen und tiefe Entschuldigung
von Axel Brüggemann
22. April 2024
Willkommen in der neuen Klassik-Woche!
Heute mit dem Phänomen journalistischer Aufgeregtheit, mit Abgängen in Stuttgart und Mailand, mit einem musikalischen KI-Experiment und den letzten Wahrheiten zu Anton Bruckner.
Münchner Aufgeregtheiten
Was haben die in München da ins Bier gemischt? Oder warum waren die Kollegen von der Isar diese Woche so aufgeregt? Erst die leidenschaftliche Kampagne in SZ, Abendzeitung und im Radio für eine Vertragsverlängerung von Intendant Serge Dorny an der Staatsoper (wir haben letzte Woche darüber berichtet). Dann berichtete Kollege Robert Braunmüller in der Abendzeitung mit doppelt und dreifachem Hinweis »bisher ist alles nur ein Gerücht« darüber, dass Bayerns Kunststaatsminister Markus Blume vielleicht damit flirte, Viktor Schoner von der Staatsoper Stuttgart zu holen und statt Vladimir Jurowski Joana Mallwitz. Dann wurde diese Kaffeesatzleserei kopiert und kopiert und dabei unfreiwillig zur halben Wahrheit hochgejazzt. Und dann? Postete zunächst die Presseabteilung der Stuttgarter Oper: »Schöne Grüße aus Stuttgart – auch von unserem Chef: Viktor Schoner ist nicht im Gespräch mit dem Bayerischen Kunstministerium«. Und etwas später ließ auch ein Sprecher der Dirigentin erklären, dass Mallwitz zu keiner Zeit von Blume angefragt worden sei. Am Ende bleibt das Bild einer aufgeregten Presselandschaft, in der ein merkwürdiger Überbietungswettbewerb der Deutungshoheit zur Demontage der eigenen Glaubwürdigkeit geführt hat.
Meister verlässt Stuttgart im Dissens
Dirigent Cornelius Meister beendet sein Engagement an der Stuttgarter Oper 2026. Der Grund: Meinungsverschiedenheiten zwischen Meister, dem Intendanten des Hauses Viktor Schoner und dem geschäftsführenden Intendanten des Staatstheaters Stuttgart Marc-Oliver Hendriks. In einem Schreiben heißt es: »Einer der Gründe ist, dass Intendanten und GMD eine grundsätzlich verschiedene Haltung einnehmen im Hinblick auf die Dringlichkeit eines Haustarifvertrages für das Staatsorchester.« Meister will, dass seinem Staatsorchester mehr finanzielle Freiheiten gegeben werden und drängt auf eine rasche Änderung des Hausvertrags. Schoner indes kämpft bereits mit den hohen Sanierungskosten des Hauses. Auch die Landesregierung pocht auf weitere Einsparungen am Theater.
Missbrauch an Musikhochschulen
Die Präsidentin der Münchner Musikhochschule Lydia Grün meint es ernst mit der Aufarbeitung der Vergangenheit von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen an ihrer Hochschule, unter anderem durch den ehemaligen Präsidenten Siegfried Mauser. Sie hat eine Studie beim Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP München) in Auftrag gegeben. Zusammengefasst hat die Hochschule zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um Machtmissbrauch zu vermeiden, aber noch immer seien erschreckend viele Studierende von Übergriffen betroffen. Konkret haben fast 90 Prozent der Befragten angegeben, Machtmissbrauch selbst erlebt, gesehen oder mitbekommen zu haben. Dazu gehören sowohl verbale als auch körperliche Übergriffe. Grün erklärte, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt seien an der Münchner Hochschule kein Thema der Vergangenheit: »Dass Menschen immer noch Leid erfahren müssen und belastende Situationen erleben, ist alarmierend und macht uns stark betroffen.« Die Präsidentin entschuldigte sich bei den Opfern und kündigte weitere Schritte innerhalb eines Sieben-Punkte-Planes an. Um so erstaunter sind ehemalige Opfer in den sozialen Medien, dass die Musikhochschulen in Hamburg und in Lübeck offensichtlich weniger Handlungsbedarf sehen. Bernd Redmann (einst selber eher behäbig als Präsident in München und jetzt in Lübeck) setzt erst einmal auf weitere Evaluationen und Fortbildungsmaßnahmen. Er sehe keine aktuellen Probleme in Lübeck. Könnte es sein, dass er auch auf Grund dieser Augen zu-Mentalität nicht mehr in München ist? Übrigens, um die Ernsthaftigkeit des Ganze zu verstehen, empfehle ich jedem einen Essay der Psychologin Heather O’Donell, die erst letzte Woche ausführlich darüber geschrieben hat, warum sexuelle Übergriffe bis zur Vergewaltigung gerade unter Lehrenden in der Musik so oft passieren. Ein sehr kluger Grundsatz-Text zu diesem Thema.
Was kann KI in der Musik?
Ich bin neulich über das KI-Programm SUNO gestolpert. Da kann man einen Text eingeben und sich Musik in unterschiedlichen Stilen dazu komponieren lassen. Ich habe ein Experiment mit Punk, Klassik und Lied gestartet. Die Ergebnisse waren von unterschiedlicher Qualität – aber auf jeden Fall beeindruckend. Der Komponist Alexander Strauch hat sich das alles nun auch noch Mal für die NMZ etwas genauer angeschaut: Urheberrechte, Möglichkeiten und die Verantwortung der Musikindustrie. Unter anderem heißt es in seinem Text: »So sehr die Outputs der Mainstream-Stilistiken erstaunlich lebensecht wirken, so kann man nur hoffen, dass nicht reihenweise Urheberrechte und Leistungsschutzrechte über viele Jahrzehnte hinweg beim Input den Mutmaßungen nach von Newton-Rex verletzt worden sind. Aber wie dem RollingStone der Investor Rodriguez erzählte, scheint es eher keine Vereinbarungen mit Labels und Musikschaffenden gegeben zu haben.«
Personalien der Woche
Eigentlich wollte Justus Frantz bloß seinen Sohn in Russland besuchen, dann zog sich der 79-jährige Pianist eine schwere Sepsis zu und musste zwei Wochen lang auf der Intensivstation aufgepeppelt werden. Nun will er zu seinem 80. Geburtstag noch ein Buch herausgeben und wieder auf Tournee gehen. Das Konzert in der Bremer Glocke am 24 März wurde indes abgesagt – wer zuvor den Ticketverkauf angeschaut hat, wundert sich nicht. It‘s time to say до свидания! +++ Nun herrscht Klarheit an der Scala in Mailand: Intendant Dominique Meyer muss das Haus perspektivisch verlassen, ein Jahr lang wird er die Scala gemeinsam mit dem designierten Intendanten Fortunato Ortombina leiten. Und der könnte tatsächlich Musikdirektor Riccardo Chailly langfristig durch Daniele Gatti ersetzen. +++ Und noch ein Klassik-Knigge! Nach dem eher missglückten NDR-Versuch, Klassik einem neuen Publikum durch einen Online-Knigge mit Tarik Tesfu nahezubringen, setzt die Oper Köln nun auf genau das Gegenteil: »Resonate« heißt die Video-Reihe mit episch erzählten Blicken hinter die Kulissen: Ist die Oper pompös oder mondän? Was macht die Schneiderei? … der Ansatz ist gut, die Bilder schön, Moderatorin Bianca Hauda effizient – aber im Ernst: schaut irgendjemand all das am Ende wirklich ganz an? Hier wäre ein bisschen mehr Prägnanz wünschenswert. +++ An der Deutschen Oper am Rhein wurde die Première von Jenůfa bejubelt – wenig Publikum für eine große tolle Aufführung: »Die Schlichtheit des großen Dramas« – mit Axel Kober und Tatjana Gürbaca. Hier die Presseschau. +++ 2016 gründete die Bratschistin Leila Weber ein Musikprojekt für geflüchtete Kinder im Hangar des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof. Auch in Flüchtlingscamps auf der griechischen Insel Chios war sie aktiv. Hier ein hörenswerter Podcast mit ihr vom SWR. +++ »Ich würde Mozart heiraten« – das sagt die Sopranistin Golda Schultz in einem XXL- Podcast-Interview: Ein Gespräch über ihre Leidenschaft für Mozart, ihre Kindheit in Südafrika und die Mathematik. +++ Erfurt ringt um den Rauswurf der Gleichstellungsbeauftragten Mary-Ellen Witzmann. Auf Grund ihrer Vorwürfe wurde Intendant Guy Montavon nach Ermittlungen freigestellt. Zuvor aber wurde Witzmann entlassen. Nun wird die Sache am Amtsgericht in Erfurt verhandelt. Die Richterin ließ ein Ergebnis vorerst offen, wie die Seite Opern.News in einem ausführlichen Text berichtet. Die Richterin bat die Stadt zunächst, nachzuweisen, dass es einen zustimmenden Betriebsratsbeschluss für die Entlassung gegeben habe. Witzmann indes soll beweisen, dass die Frauen, die sich ihr anvertraut hatten, einverstanden mit einer Veröffentlichung waren. Das Gutachten, das den Vorwürfen nachgegangen ist, soll die Stadt bislang 220.000 Euro gekostet haben. In einer Petition haben bereits mehr als 1.200 Menschen unterschrieben, dass Mary-Ellen Witzmann als Gleichstellungsbeauftragte wieder eingestellt werden soll.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Die Rezeption von Anton Bruckner sagt viel über die Zeit aus, in der auf den Komponisten geschaut wurde: Ein Neudenker und Kontrahent von Brahms zu Lebzeiten, ein deutschtümelnder Tonsetzer zu Nazi-Zeiten, ein lächerlicher Mensch in der Nachkriegszeit – und heute: ein unangefochtener musikalischer Meister. In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? erklärten der Dirigent Franz Welser-Möst und der Leiter des Brucknerorchesters Linz, Norbert Trawöger, Werk und Leben Bruckners in einer sehr unterhaltsamen Stunde. Hier geht es zum Podcast für alle Player, unten zum Anhören auf Spotify:
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif
Ihr
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Winfried Hanuschik, Verleger & Herausgeber