Hekti­sche Mutma­ßungen und tiefe Entschul­di­gung

von Axel Brüggemann

22. April 2024

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche!

Heute mit dem Phänomen jour­na­lis­ti­scher Aufge­regt­heit, mit Abgängen in Stutt­gart und Mailand, mit einem musi­ka­li­schen KI-Expe­ri­ment und den letzten Wahr­heiten zu

Münchner Aufge­regt­heiten

Was haben die in München da ins Bier gemischt? Oder warum waren die Kollegen von der Isar diese Woche so aufge­regt? Erst die leiden­schaft­liche Kampagne in SZ, Abend­zei­tung und im Radio für eine Vertrags­ver­län­ge­rung von Inten­dant an der Staats­oper (wir haben letzte Woche darüber berichtet). Dann berich­tete Kollege Robert Braun­müller in der Abend­zei­tung mit doppelt und drei­fa­chem Hinweis »bisher ist alles nur ein Gerücht« darüber, dass Bayerns Kunst­staats­mi­nister viel­leicht damit flirte, von der Staats­oper Stutt­gart zu holen und statt . Dann wurde diese Kaffee­satz­le­serei kopiert und kopiert und dabei unfrei­willig zur halben Wahr­heit hoch­ge­jazzt. Und dann? Postete zunächst die Pres­se­ab­tei­lung der Stutt­garter Oper: »Schöne Grüße aus Stutt­gart – auch von unserem Chef: Viktor Schoner ist nicht im Gespräch mit dem Baye­ri­schen Kunst­mi­nis­te­rium«. Und etwas später ließ auch ein Spre­cher der Diri­gentin erklären, dass Mall­witz zu keiner Zeit von Blume ange­fragt worden sei. Am Ende bleibt das Bild einer aufge­regten Pres­se­land­schaft, in der ein merk­wür­diger Über­bie­tungs­wett­be­werb der Deutungs­ho­heit zur Demon­tage der eigenen Glaub­wür­dig­keit geführt hat. 

Kunstfestspiele Herrenhausen 16.5. - 2.6.24

Meister verlässt Stutt­gart im Dissens

Diri­gent beendet sein Enga­ge­ment an der Stutt­garter Oper 2026. Der Grund: Meinungs­ver­schie­den­heiten zwischen Meister, dem Inten­danten des Hauses Viktor Schoner und dem geschäfts­füh­renden Inten­danten des Staats­thea­ters Stutt­gart Marc-Oliver HendriksIn einem Schreiben heißt es: »Einer der Gründe ist, dass Inten­danten und GMD eine grund­sätz­lich verschie­dene Haltung einnehmen im Hinblick auf die Dring­lich­keit eines Haus­ta­rif­ver­trages für das Staats­or­chester.« Meister will, dass seinem Staats­or­chester mehr finan­zi­elle Frei­heiten gegeben werden und drängt auf eine rasche Ände­rung des Haus­ver­trags. Schoner indes kämpft bereits mit den hohen Sanie­rungs­kosten des Hauses. Auch die Landes­re­gie­rung pocht auf weitere Einspa­rungen am Theater. 

Miss­brauch an Musik­hoch­schulen

Die Präsi­dentin der Münchner Musik­hoch­schule Lydia Grün meint es ernst mit der Aufar­bei­tung der Vergan­gen­heit von Macht­miss­brauch und sexu­ellen Über­griffen an ihrer Hoch­schule, unter anderem durch den ehema­ligen Präsi­denten . Sie hat eine Studie beim Institut für Praxis­for­schung und Projekt­be­ra­tung (IPP München) in Auftrag gegeben. Zusam­men­ge­fasst hat die Hoch­schule zahl­reiche Maßnahmen ergriffen, um Macht­miss­brauch zu vermeiden, aber noch immer seien erschre­ckend viele Studie­rende von Über­griffen betroffen. Konkret haben fast 90 Prozent der Befragten ange­geben, Macht­miss­brauch selbst erlebt, gesehen oder mitbe­kommen zu haben. Dazu gehören sowohl verbale als auch körper­liche Über­griffe. Grün erklärte, Diskri­mi­nie­rung und sexua­li­sierte Gewalt seien an der Münchner Hoch­schule kein Thema der Vergan­gen­heit: »Dass Menschen immer noch Leid erfahren müssen und belas­tende Situa­tionen erleben, ist alar­mie­rend und macht uns stark betroffen.« Die Präsi­dentin entschul­digte sich bei den Opfern und kündigte weitere Schritte inner­halb eines Sieben-Punkte-Planes an. Um so erstaunter sind ehema­lige Opfer in den sozialen Medien, dass die Musik­hoch­schulen in Hamburg und in Lübeck offen­sicht­lich weniger Hand­lungs­be­darf sehen. (einst selber eher behäbig als Präsi­dent in München und jetzt in Lübeck) setzt erst einmal auf weitere Evalua­tionen und Fort­bil­dungs­maß­nahmen. Er sehe keine aktu­ellen Probleme in Lübeck. Könnte es sein, dass er auch auf Grund dieser Augen zu-Menta­lität nicht mehr in München ist? Übri­gens, um die Ernst­haf­tig­keit des Ganze zu verstehen, empfehle ich jedem einen Essay der Psycho­login Heather O’Do­nell, die erst letzte Woche ausführ­lich darüber geschrieben hat, warum sexu­elle Über­griffe bis zur Verge­wal­ti­gung gerade unter Lehrenden in der Musik so oft passieren. Ein sehr kluger Grund­satz-Text zu diesem Thema.

Was kann KI in der Musik?

Ich bin neulich über das KI-Programm SUNO gestol­pert. Da kann man einen Text eingeben und sich Musik in unter­schied­li­chen Stilen dazu kompo­nieren lassen. Ich habe ein Expe­ri­ment mit Punk, Klassik und Lied gestartet. Die Ergeb­nisse waren von unter­schied­li­cher Qualität – aber auf jeden Fall beein­dru­ckend. Der Kompo­nist hat sich das alles nun auch noch Mal für die NMZ etwas genauer ange­schaut: Urhe­ber­rechte, Möglich­keiten und die Verant­wor­tung der Musik­in­dus­trie. Unter anderem heißt es in seinem Text: »So sehr die Outputs der Main­stream-Stilis­tiken erstaun­lich lebens­echt wirken, so kann man nur hoffen, dass nicht reihen­weise Urhe­ber­rechte und Leis­tungs­schutz­rechte über viele Jahr­zehnte hinweg beim Input den Mutma­ßungen nach von Newton-Rex verletzt worden sind. Aber wie dem RollingS­tone der Investor Rodri­guez erzählte, scheint es eher keine Verein­ba­rungen mit Labels und Musik­schaf­fenden gegeben zu haben.« 

Perso­na­lien der Woche

Eigent­lich wollte Justus Frantz bloß seinen Sohn in Russ­land besu­chen, dann zog sich der 79-jährige Pianist eine schwere Sepsis zu und musste zwei Wochen lang auf der Inten­siv­sta­tion aufge­pep­pelt werden. Nun will er zu seinem 80. Geburtstag noch ein Buch heraus­geben und wieder auf Tournee gehen. Das Konzert in der Bremer Glocke am 24 März wurde indes abge­sagt – wer zuvor den Ticket­ver­kauf ange­schaut hat, wundert sich nicht. It‘s time to say до свидания! +++ Nun herrscht Klar­heit an der Scala in Mailand: Inten­dant muss das Haus perspek­ti­visch verlassen, ein Jahr lang wird er die Scala gemeinsam mit dem desi­gnierten Inten­danten Fort­u­nato Ortom­bina leiten. Und der könnte tatsäch­lich Musik­di­rektor lang­fristig durch ersetzen. +++ Und noch ein Klassik-Knigge! Nach dem eher miss­glückten NDR-Versuch, Klassik einem neuen Publikum durch einen Online-Knigge mit Tarik Tesfu nahe­zu­bringen, setzt die Oper Köln nun auf genau das Gegen­teil: »Reso­nate« heißt die Video-Reihe mit episch erzählten Blicken hinter die Kulissen: Ist die Oper pompös oder mondän? Was macht die Schnei­derei? … der Ansatz ist gut, die Bilder schön, Mode­ra­torin Bianca Hauda effi­zient – aber im Ernst: schaut irgend­je­mand all das am Ende wirk­lich ganz an? Hier wäre ein biss­chen mehr Prägnanz wünschens­wert. +++ An der Deut­schen Oper am Rhein wurde die Première von Jenůfa beju­belt – wenig Publikum für eine große tolle Auffüh­rung: »Die Schlicht­heit des großen Dramas« – mit und . Hier die Pres­se­schau. +++ 2016 grün­dete die Brat­schistin Leila Weber ein Musik­pro­jekt für geflüch­tete Kinder im Hangar des ehema­ligen Flug­ha­fens Berlin-Tempelhof. Auch in Flücht­lings­camps auf der grie­chi­schen Insel Chios war sie aktiv. Hier ein hörens­werter Podcast mit ihr vom SWR. +++ »Ich würde Mozart heiraten« – das sagt die Sopra­nistin in einem XXL- Podcast-Inter­view: Ein Gespräch über ihre Leiden­schaft für Mozart, ihre Kind­heit in Südafrika und die Mathe­matik. +++ Erfurt ringt um den Raus­wurf der Gleich­stel­lungs­be­auf­tragten Mary-Ellen Witz­mann. Auf Grund ihrer Vorwürfe wurde Inten­dant  nach Ermitt­lungen frei­ge­stellt. Zuvor aber wurde Witz­mann entlassen. Nun wird die Sache am Amts­ge­richt in Erfurt verhan­delt. Die Rich­terin ließ ein Ergebnis vorerst offen, wie die Seite Opern​.News in einem ausführ­li­chen Text berichtet. Die Rich­terin bat die Stadt zunächst, nach­zu­weisen, dass es einen zustim­menden Betriebs­rats­be­schluss für die Entlas­sung gegeben habe. Witz­mann indes soll beweisen, dass die Frauen, die sich ihr anver­traut hatten, einver­standen mit einer Veröf­fent­li­chung waren. Das Gutachten, das den Vorwürfen nach­ge­gangen ist, soll die Stadt bislang 220.000 Euro gekostet haben. In einer Peti­tion haben bereits mehr als 1.200 Menschen unter­schrieben, dass Mary-Ellen Witz­mann als Gleich­stel­lungs­be­auf­tragte wieder einge­stellt werden soll. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier! Die Rezep­tion von Anton Bruckner sagt viel über die Zeit aus, in der auf den Kompo­nisten geschaut wurde: Ein Neudenker und Kontra­hent von Brahms zu Lebzeiten, ein deutsch­tü­melnder Tonsetzer zu Nazi-Zeiten, ein lächer­li­cher Mensch in der Nach­kriegs­zeit – und heute: ein unan­ge­foch­tener musi­ka­li­scher Meister. In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? erklärten der Diri­gent und der Leiter des Bruck­ner­or­ches­ters Linz, Norbert Trawöger, Werk und Leben Bruck­ners in einer sehr unter­halt­samen Stunde. Hier geht es zum Podcast für alle Player, unten zum Anhören auf Spotify:

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

In eigener Sache

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Winfried Hanu­schik, Verleger & Heraus­geber

Fotos: Foto: Österreichische Nationalbibliothek, KI mit DaVinci, Titel des neuen Buches im Verlag Koehler