John Neumeier

Hungrig nach Emotion

von Verena Fischer-Zernin

24. Mai 2018

Er ist der Altmeister des Balletts: der Amerikaner John Neumeier, ehedem selbst Tänzer, vielfach preisgekrönter Choreograf und seit 45 Jahren Intendant des Hamburg Ballett.

Er ist der Altmeister des Balletts: der Ameri­kaner John Neumeier, ehedem selbst Tänzer, viel­fach preis­ge­krönter Choreo­graf und seit 45 Jahren Inten­dant des Hamburg Ballett. Soeben hat er dort seinen Vertrag für weitere fünf Jahre unter­schrieben.

Crescendo: Im kommenden Februar werden Sie 80 Jahre alt. Sie haben Ihre Geburts­tags­saison „Lebens­li­nien“ über­schrieben. Gerade ist auch das Ballett Nijinksy auf DVD erschienen, Ihr Porträt des Tänzers, der in Ihrem Oeuvre eine zentrale Rolle spielt. Hat er Sie zum Tanz gebracht?

John Neumeier: Das wäre zu viel gesagt. Aber seine Person hat mich sicher­lich sehr inspi­riert. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich in der Biblio­thek in meiner Heimat­stadt Milwaukee ein Buch über ihn gefunden, das für mich sehr wichtig war. Bis dahin waren Tänzer für mich mysti­sche Wesen. Das Buch erzählte von einem sehr begna­deten, aber ganz normalen Menschen. Der Probleme hatte, der eine Familie hatte, Geschwister und so weiter. Damals habe ich intuitiv begriffen, dass Tanz etwas mit Mensch­lich­keit zu tun hat. Nijinsky beein­druckt mich immer noch. Er gehört für mich zu den wich­tigsten Persön­lich­keiten des 20. Jahr­hun­derts.

Sie haben mit zehn begonnen, über Tanz zu lesen? Wie kamen Sie dazu?

Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich immer diesen Drang zum Tanzen hatte. In den Musi­cal­filmen, die ich mit meiner Mutter sah, faszi­nierten mich die Tanz­szenen, und ich fand es jedes Mal lang­weilig, wenn gespro­chen wurde.

Sie waren außerdem male­risch und zeich­ne­risch begabt.

Das hat man schon früher entdeckt. Es war ein Konflikt in meinen jungen Jahren, dass ich nicht genau wusste, in welche Rich­tung ich gehen sollte. Oder musste.

„Es war ein Konflikt in meinen jungen Jahren, dass ich nicht genau wusste, in welche Rich­tung ich gehen sollte“

Wie haben Sie ihn aufge­löst?

Ich glaube, es liegt auch an diesem Konflikt, dass ich Choreo­graf geworden bin. Ein Choreo­graf zeichnet mit Menschen in Raum und Zeit. An Tanz und Bewe­gung hat mich von Anfang an faszi­niert, nicht nur zu befolgen, was ich zu lernen hatte oder was mir vorge­geben wurde, sondern selbst Kompo­si­tionen zu erschaffen.

Haben Ihre Eltern es unter­stützt, dass Sie so einen ausge­spro­chen künst­le­ri­schen Werde­gang gewählt haben?

Ja. Dafür bin ich sehr dankbar. Niemand in meiner Verwandt­schaft war künst­le­risch tätig. Außer meiner Mutter, die sehr gut nähen und Porzellan bemalen konnte.

Was haben Sie denn für einen fami­liären Hinter­grund?

Mein Vater war Schiffs­ka­pitän. Er befuhr die großen Seen Amerikas. Aber er ist nicht zur Offi­ziers­schule gegangen, sondern hat als Deck­helfer ange­fangen. Das war der nied­rigste Rang, den es über­haupt gab. Von da hat er sich hoch­ge­ar­beitet.

Und dann sehen Ihre Eltern die künst­le­ri­sche Bega­bung ihres Kindes und fördern sie.

Das ist unglaub­lich. Sie hatten ja nicht den Hinter­grund, das zu beur­teilen. Es gab in zu dieser Zeit insge­samt viel weniger künst­le­ri­sches Bewusst­sein als heute. Und trotzdem haben meine Eltern mir vertraut.

John Neumeier
Foto: Kiran West

Sie haben dann aber erst einmal Thea­ter­wis­sen­schaft und engli­sche Lite­ratur studiert.

Ich glaube, ich bin an die Univer­sität gegangen, weil meine Eltern sich Sorgen um mich gemacht haben. Aber mein Herz war immer woan­ders. Unser Schau­spiel­lehrer an der Univer­sität legte sehr viel Wert auf Bewe­gung. Gleich in meiner ersten Tanz­stunde dort sagte er zu mir, du bist eigent­lich ein Tänzer. In dem Moment war mir mein Weg klar. Er hat es für mich formu­liert.

Ein Instru­ment haben Sie nicht auch noch gespielt?

Als ich eine Zeit lang nicht tanzen durfte, weil ich Schwie­rig­keiten mit dem Rücken hatte, haben meine Eltern gedacht, es wäre viel­leicht gut, wenn ich Klavier­un­ter­richt nähme. Aber ich habe es als Qual empfunden. Leider!

Woher kommt dann Ihre inten­sive Beschäf­ti­gung ausge­rechnet mit abso­luter Musik? Sie haben fast alle Sinfo­nien von Mahler choreo­gra­fiert.

Das ist ein ganz subjek­tives Gefühl des Hinge­zo­gen­seins. Ich bin 1965 zum ersten Mal intensiv mit Mahler in Berüh­rung gekommen, als ich beim war und Kenneth MacMillan sein Ballett Das Lied von der Erde machte. Die Musik hat mich einfach verblüfft. Sie bestä­tigte mein Gefühl, das später auch mein Konzept wurde: dass man von einer klas­si­schen Basis ausgehen muss, aber dass die Inspi­ra­tion aus der Emotion kommt. Ich habe dann als Erstes ein Lied von Mahler choreo­gra­fiert, Ich bin der Welt abhanden gekommen.

„Es hat für mich schon immer zwei Arten Musik gegeben“

Bevor Sie selbst ange­fangen haben zu choreo­gra­fieren: Haben Sie Musik einfach gehört und sich ergreifen lassen, oder hatten Sie den Impuls, das Gehörte schöp­fe­risch zu verar­beiten?

Es hat für mich schon immer zwei Arten Musik gegeben: eine, die man im Sitzen hört, und eine, die einen aus dem Stuhl reißt. Ich könnte zum Beispiel nie eine Bruckner-Sinfonie choreo­gra­fieren. Weil ich sitzen bleibe. Ich kann das bewun­dern …

… Sie können sich auch von Bruckner ergreifen lassen?

Weniger. Anders. Ich beginne nicht zu tanzen.

Was ist es, was Sie an Mahler speziell berührt?

Mahler ist für mich der Inbe­griff des Tanzes. Tanz arbeitet mit dem mensch­li­chen Körper. Beim Ballett ist der Mensch Sujet und Instru­ment zugleich. Man kann mit diesem Instru­ment balan­cieren oder lange auf einem Bein stehen oder hoch­springen und so fort. Das entspricht der Sehn­sucht des Publi­kums. In Mahler steckt für mich etwas davon.

Er benutzt auch oft Tanz­formen.

Ja, Ländler oder Walzer oder Märsche. Diese Musik hat Fleisch und Blut. Ihre einfa­chen musi­ka­li­schen Formen sind wie Klang­brü­cken in das Sublime, Tiefe oder auch über­ir­disch Reiche.

Bei jungen Leuten ist Mahlers Musik gerade wegen ihrer emotio­nalen Grenz­zu­stände beliebt. Sie haben oft das Gefühl, von ihm verstanden zu werden.

Wenn man mit jungen Tänzern oder auch Schü­lern arbeitet, ist es faszi­nie­rend zu sehen, wie sie auf Mahler reagieren, wie sie die Musik ohne Hemmungen annehmen. Es gibt ja ein Vorur­teil, die Jugend heute sei gefühllos. Ich glaube das Gegen­teil. Die digi­talen Möglich­keiten sugge­rieren ihnen, dass sie über­haupt nicht mehr zu kommu­ni­zieren brau­chen. Aber der Hunger nach einem emotio­nalen Erlebnis ist immer noch da.

„Es gibt ja ein Vorur­teil, die Jugend heute sei gefühllos. Ich glaube das Gegen­teil“

Im Juni bringen Sie in Hamburg Ihr Beet­hoven-Projekt heraus. Beet­hoven ist neu für Sie. Was hat Sie an ihm entzündet?

Prak­tisch gedacht: 2020 kommt das Beet­hoven-Jahr. Aber es hat bei mir schon früher ange­fangen. Ich habe im Urlaub alle Sinfo­nien ange­hört und dachte, es ist an der Zeit, dass ich Beet­hoven choreo­gra­fiere. Außer für das Beet­hoven-Projekt benutze ich seine Musik für ein Schul­pro­jekt: Zufällig hatte ich ein Album mit 47 Beet­hoven-Tänzen: deut­sche Tänze, Cont­redanses, Menu­ette und so weiter. Jedes dieser Stücke hat einen ganz beson­deren Geist. Ich dachte, es sei reiz­voll, sie zum 40. Jubi­läum unserer Ballett­schule tanzen zu lassen. Das war der Anfang.

Beet­hoven gilt als Rebell, als hoch­po­li­tisch. Löst das etwas in Ihnen aus?

Das Humane eher als das Poli­ti­sche. Politik ist kurz, Huma­nität ist lang. Ich glaube, ihn haben eher mensch­liche Werte inter­es­siert.

Wie kann man das hören in der Musik?

Indem man nicht versucht, es hinein­zu­hören. Er hat sich öfters Dinge vorge­stellt, um Musik zu schreiben. Geschichten oder Situa­tionen, das sagt er selbst in Briefen. Er erzählt aber nichts Genaues darüber. Das finde ich faszi­nie­rend. So wird auch dieses Projekt sein. Ich werde nicht sagen, was es bedeutet.

Beethoven-Projekt
Foto: Kiran West

Das haben Sie ja bei den Mahler-Sinfo­nien auch nicht gemacht. Lesen Sie Parti­turen?

Nicht beim Choreo­gra­fieren. Wenn ich die Partitur mit einem Musiker studiere, dann weiß ich, wo die Flöte einsetzt oder die Violine. Aber am Anfang steht das Hören.

Die Musik wirkt auf Sie. Wie muss ich mir den krea­tiven Prozess vorstellen?

Der krea­tive Prozess beginnt mit einem „Ja.“ Das heißt, ich kann mir vorstellen, das zu choreo­gra­fieren. Bei einem so großen Werk wie der Dritten Sinfonie von oder der Matthäus­passion von Bach hat dieses „Ja“ schon einen ziem­li­chen Wider­hall. Dann kommt eine Zeit der Zweifel an diesem „Ja“, in der man studiert und versucht, das Werk in seiner Form, aus seiner Zeit heraus und in seiner Bedeu­tung zu verstehen.

Das ist die kogni­tive Phase.

Genau. Und wenn dann die Première naht und wir in den Ballett­saal gehen und beginnen, dann muss ich diese zweite Phase abschließen und versu­chen, zu der ersten zurück­zu­kommen.

„In erster Linie bin ich Arbeiter. Ich bin im Ballett­saal und schwitze“

Sie vergessen alles, was Sie sich ange­eignet haben?

So gut es geht. Ich versuche, die Musik zu hören, als wäre es Mal, und impro­vi­siere. Ich deute die Bewe­gungen an, sodass die Tänzer, die natür­lich jünger sind und physisch viel besser, sie in spezi­fi­sche Bewe­gungen umsetzen können. Manchmal inspi­riert sie das auch, noch weiter­zu­gehen, wo ich dann sage: Ja, das war toll, das war gut. Oder auch, so habe ich es nicht gemeint. Es ist ein Dialog.

Was auch bedeutet, dass auch Sie sich diesen jungen Menschen, mit denen Sie arbeiten, ganz auslie­fern?

So ist es.

Das muss eine starke Bindung geben.

Das gibt eine sehr starke Bindung. Deswegen habe ich die meisten Krea­tionen mit meiner eigenen Compa­gnie gemacht. Man muss viel Vertrauen aufbringen in so einer Situa­tion, das macht auch manchmal Angst.

Wenn Sie so viel mit jungen Leuten arbeiten: Wo sehen Sie die Zukunft des Genres Ballett?

Dazu müsste ich Wissen­schaftler oder Philo­soph sein. Ich bin aber jeden Tag zwölf Stunden im Ballett­zen­trum. Da bleibt nicht sehr viel Zeit, um zu reisen und zu sehen, was andere machen. Ich versuche mich natür­lich so gut es geht zu infor­mieren. Aber in erster Linie bin ich Arbeiter. Ich bin im Ballett­saal und schwitze.

Fotos: Kiran West