TEST WH:80 Minuten Intensität
von Maria Goeth
21. August 2021
Luigi Nonos szenischer Aktion Intolleranza 1960 bei den Salzburger Festspielen 2021 gelingt die Poesie des Brachialen.
Sie wogen, toben, zittern und schleifen. Sie rennen, rangeln, zerren und wirbeln. Unmengen von Solisten, Choristen und Tänzern sind in Luigi Nonos Intolleranza 1960 permanent in Bewegung. Sie illustrieren und kontrastieren, arrangieren sich mal zum lebenden Schlachtengemälde, um dann wieder zu verhören, zu foltern oder in hysterisches Lachen auszubrechen.
Über 200 Personen sind auf der Bühne aktiv, darunter Tänzerinnen und Tänzer von BODHI PROJECT und SEAD, der Salzburg Experimental Academy of Dance. Multikulturell geht es da zu, denn Regisseur Jan Lauwers ließ so viele farbige Menschen wie möglich engagieren: „Wir sollten keinen weißen Star bitten, die Rolle eines Emigranten zu singen.“
Das Individuelle wird zum Welttheater, zum Weltschrei
Luigi Nonos zweiteilige „szenische Aktion“ entstand 1960 für die Biennale in Venedig und ist ein Aufschrei gegen Intoleranz und Verletzung der Menschenwürde. Er könnte aktueller kaum sein: Während in der Première die Gefangenen auf der Bühne schreien und anklagen, fallen in Kabul die Taliban ein; während in Nordrhein-Westfalen gegen die Verwüstungen der Flutkatastrophe gekämpft wird, reißt eine Überschwemmung am Ende des Werks alle mit sich.
Die äußere Handlung dreht sich um einen Auswanderer der seine Bergarbeitersiedlung verlassen möchte, bei einer Friedensdemonstration mit vielen anderen inhaftiert, gefoltert und in ein Konzentrationslager verbracht wird, bis ihn auf dem Weg in die Heimat die Flutwelle einholt. Nach innen hin geht es um Hoffnung und Einsamkeit – und immer um die unstillbare Sehnsucht nach Freiheit.
Klangkosmos der Extreme
Um dies musikalisch zu zeichnen, schafft Nono einen gigantischen Klangkosmos – vom ohrenbetäubenden kollektiven Tumult bis zu markerschütternder Stille. Nicht weniger als 26 Bläser, 40 Streicher, 15 Schlagwerker und diverse Sonderinstrumente wie Röhrenglocken, Marimba oder Vibraphon sind involviert, vom omnipräsenten gewaltigen Chor ganz zu schweigen – wobei es Nono nie um schale Effekthascherei, sondern stets um musikalische Wahrhaftigkeit geht.
Die Klangkraft der Wiener Philharmoniker und des Wiener Staatsopernchors in der Umsetzung ist atemberaubend. Ingo Metzmacher hält den über die gesamte Bühnenbreite inklusive Seitenbühnen verteilten monströsen Apparat gekonnt beisammen. Stark auch die Ensembleleistung, insbesondere Sean Panikkar als Emigrant mit einer Tenorstimme voll Schönheit und Eindringlichkeit, aber auch Sarah Maria Sun als seine Gefährtin und Anna Maria Chiuri als die Frau, die er bei der Rückkehr in die Heimat zurücklässt.
Auch die Einzelleistungen in der Masse beeindrucken, etwa die körperlichen Extremleistungen der Tänzer und Choristen oder des blinden Dichters (Victor Afung Lauwers), einer vom Regisseur hinzuerfundenen Figur, die am Anfang dutzende Minuten zittert, später niedergelacht und als sie die Wahrheit einfordert niedergebrüllt und ‑getreten wird. Die Stille danach ist unendlich laut.
Die Kritik bezieht sich auf die Aufführung am 20. August 2021.