John Irving

Der Roman­ar­chi­tekt

von Rüdiger Sturm

7. Juni 2023

Mit »Der letzte Sessellift« hat John Irving im Alter von 81 Jahren sein bislang umfangreichstes Werk vorgelegt. Im Interview spricht der Schriftsteller über die Notwendigkeit, ein Buch zu konstruieren, die Aufmerksamkeitsspanne des modernen Publikums und seine Chancen auf den Literatur-Nobelpreis.

CRESCENDO: Mr. Irving, Ihr aktu­eller Roman Der letzte Sessel­lift sei auch Ihr letztes großes Buch, meinten Sie. Ist das wirk­lich so?

John Irving: Ich hoffe, es ist nicht mein letzter groß­ar­tiger Roman. Aber ich habe meine Projekte aktuell nach dem Grad der Schwie­rig­keit ange­ordnet. Das heißt, mit dem kompli­zier­testen – was die Zahl der Charak­tere und die Zeit­spanne angeht – habe ich ange­fangen, nämlich Der letzte Sessel­lift. Wobei ich zuge­stehen muss, dass dieser Roman in gewisser Weise auch sehr einfach war. Ich konnte auf meine Kind­heits- und Jugend­er­in­ne­rungen zurück­greifen. Es geht ums Skifahren – was meine ganze Familie betrieben hat. Ich habe in Skiorten in Öster­reich und den USA gelebt. So gesehen war ich mit dem ganzen Hinter­grund vertraut und habe deshalb nur sechs Jahre für die Geschichte gebraucht.

„Nur“ sechs Jahre?

Für meine Verhält­nisse ist das nicht so viel. Manche meiner kürzeren Romane nahmen acht oder neun Jahre in Anspruch. Nichts­des­to­we­niger werden die Bücher, die ich als nächstes anpacke und für die ich die letzten Jahren recher­chiert habe, kürzer ausfallen.

John Irving

»Meine Leser können darauf vertrauen, dass ich das Ende kenne«

Wussten Sie von vorn­herein, dass das Buch auf das Bild des letzten Sessel­lifts hinaus­läuft?

Absolut. Wenn ich einen Roman beginne, habe ich das Ende im Kopf schon verfasst und schreibe nur darauf hin. Und dabei meine ich nicht nur den Inhalt. Auch die Tona­lität des ganzen Buches wird von diesem Ende bestimmt. Ich bin ich mir des Anfangs oft nicht sicher, immer wieder ändere ich die Reihen­folge von Kapi­teln. Aber meine Leser können darauf vertrauen, dass ich das Ende kenne. Da bin ich anders als Charles Dickens, der mich als 15-Jährigen dazu inspi­rierte, Autor zu werden. Ich wollte ein altmo­di­scher Erzähler im Stil des 19. Jahr­hun­derts werden. Aber Dickens, der seine Geschichten als Fort­set­zungs­roman schrieb, wusste oft nicht, worauf sie hinsteuern. In Sachen Roma­nende ist Herman Melville der Meister, obwohl ich Dickens für das größere Genie halte.

Ist es denn für den Autor notwendig zu wissen, wie es ausgeht?

Ich finde, man muss einen Roman wie ein Haus konstru­ieren. Wenn man eines baut, dann weiß man doch auch, wie viele Schlaf- und Bade­zimmer es haben soll und wo die Küche ist, noch bevor man anfängt. Ich habe viele Autoren­freunde, die das Resultat ihrer Geschichte nicht von vorn­herein kennen. Aber ich brauche diese Sicher­heit. So kannte ich bei Der letzte Sessel­lift nicht nur das abso­lute Ende, sondern auch die letzten drei, vier Kapitel von Anfang an. Ich glaube, dass sich viele Schrift­steller von heute nicht so sehr am Plot orien­tieren. Aber in Sachen Roman­ar­chi­tektur bleibe ich hart­nä­ckig dem 19. Jahr­hun­dert verhaftet.

John Irving

»Leider ist unser Leben kein Roman, sondern ein Durch­ein­ander«

Der letzte Sessel­lift ist ein Symbol für das Ende des Lebens, das die Prot­ago­nisten in eine neue Exis­tenz­form beför­dert. Gibt es das auch für uns?

Leider ist unser Leben kein bewusst konstru­ierter Roman, sondern ein großes Durch­ein­ander. Wir können uns nicht aussu­chen, wie wir aus diesem Leben scheiden. Im realen Leben bekommt man Krebs, man tut alles ihn zu stoppen, aber wahr­schein­lich stirbt man daran.

Inwie­weit war für Sie das Schreiben nötig, um einen Sinn in diesem chao­ti­schen Leben zu finden?

Sagen wir es so: Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie mein Leben sonst ausge­sehen hätte. Ich kann von Glück sagen, dass ich für meinen vierten Roman, Garp und wie er die Welt sah, öffent­liche Aner­ken­nung bekam, denn das ermög­lichte es mir, haupt­be­ruf­lich als Autor zu arbeiten. Wenn das nicht geklappt hätte, hätte ich wohl als Lehrer oder als Trainer gear­beitet und wäre nicht imstande gewesen, so viel zu schreiben. Unter den Umständen wäre ich viel­leicht für meine Familie weniger umgäng­lich gewesen, weil mir eben die Zeit zum Schreiben gefehlt hätte.

Würden Sie sich als glück­lich bezeichnen?

Sehr glück­lich (sagt Irving auf Deutsch). Auch weil ich das Glück hatte, eine Frau zu finden, die ich liebe und mit der ich eine gute Ehe führe. Ich hatte auch das Glück, immer mit guten Lektoren zu arbeiten. Und aus all diesen Gründen bin ich als Autor viel produk­tiver geworden. Wenn ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann, dann nicht, weil ich mir große Sorgen mache, sondern weil ich über den Roman nach­denke, den ich gerade schreibe.

Sie machen sich auch keine Sorgen, dass das Publikum für Ihre großen Epen geringer wird, weil die Menschen in der digi­talen Ära eine immer gerin­gere Aufmerk­sam­keits­spanne haben?

Zuge­geben, ich bin mir bewusst, dass ich Der letzte Sessel­lift aus kommer­zi­ellen Gründen vor zehn Jahren hätte schreiben sollen. Die Leser­schaft für diese – wenn man so will – lange, altmo­di­sche Geschichte, ist viel­leicht nicht mehr so groß, wie sie das einmal war. Das kann ich gut akzep­tieren. Wobei das nicht der Grund ist, weshalb meine künf­tigen Romane kürzer werden. Aber in der Tat scheint das moderne Publikum nicht mehr die gleiche Konzen­tra­tion aufzu­bringen. Weil es einfach immer mehr Geräte gibt, die unsere Aufmerk­sam­keit bean­spru­chen. Als ich in den 1980er-Jahren in New York lebte, bin ich zur Stoß­zeit immer mit der U‑Bahn gefahren – nicht, weil ich irgendwo hinmusste, sondern weil ich sehen wollte, was die Leute für Bücher lesen. Wenn ich jetzt in Toronto in die U‑Bahn steige – so schön sie auch ist – dann ist das eine depri­mie­rende Ange­le­gen­heit: Alle schauen in ihre Smart­phones, obwohl die Verbin­dung gar nicht so gut ist. Wenn ich dann doch mal jemanden sehe, der sich mit einem Buch in ein Eck verkrü­melt hat, dann muss ich mich zurück­halten, um diese Person nicht zu umarmen, ihr einen Kuss zu geben und zu sagen: (Irving wieder auf Deutsch) ‚Vielen Dank.‘

John Irving

»Ich denke nicht gerne an mich selbst. Deshalb schreibe ich Romane«

Das Leben könnte sich wiederum bei Ihnen bedanken, indem es Ihnen den Lite­ra­tur­no­bel­preis beschert. Sie werden ja immer wieder als einer der mögli­chen Kandi­daten genannt.

Ich habe mich aber nie als solchen betrachtet. Es sind andere, die mich darauf anspre­chen. Seit vielen Jahren gehöre ich zu den Autoren, von denen das Nobel­preis-Komitee Empfeh­lungen einholt. Ich habe damit inter­es­sante Erfah­rungen gesam­melt. Zwei, drei Jahre lang habe ich Leute empfohlen, aber niemand schien darauf zu hören, sodass ich damit aufge­hört habe. Und kaum hatte ich damit aufge­hört, haben diese Kandi­daten gewonnen. Bei Günter Grass war das so, bei auch, und bei Alice Munro ist es eben­falls passiert. Einmal habe ich spaßes­halber einen Brief ans Komitee geschrieben: ‚Ich habe diese Person empfohlen, aber ihr habt ihr den Preis nicht gegeben. Wie wäre es denn, wenn ihr ihn mir verleiht?‘ Ich bin mir sicher, dass sie den Scherz verstanden haben.

Wer ist denn Ihr aktu­eller Favorit?

Dieses Jahr habe ich keinen Vorschlag einge­reicht. Das Gremium nimmt wahr­schein­lich an, dass ich inzwi­schen gestorben bin. Ich glaube jeden­falls nicht, dass sie mich in Betracht ziehen. Ich denke sowieso nicht gerne an mich selbst. Deshalb schreibe ich Romane. Denn so bleibt mir keine Zeit für Nabel­schau.

Fotos: B. Cannarsa Opale / photolaif / Diogenes Verlag