Khatia Buniatishvili

Krea­ti­vität ist Risiko

von Verena Fischer-Zernin

22. November 2020

Khatia Buniatishvili durchwandet auf ihrem Album ein musikalisches „Labyrinth“ des Lebens, der Erinnerungen, des Schmerzes, des Zweifels, der Liebe.

hat ein neues Album aufge­nommen: „Laby­rinth“. Und genau so liest sich das Kompo­nis­ten­ver­zeichnis: Scar­latti, Morricone, Pärt… Für die geor­gi­sche Pianistin ein musi­ka­li­sches Kalei­do­skop aller Sinne und ein philo­so­phi­sches Gespräch über die Spiegel der Seele.

„Die Morgen­däm­me­rung der Stadt verschlei­erte düstere Gedanken im Nebel, erweckte Träume mit verzau­bernder Wahr­haf­tig­keit.“ – Khatia Bunia­tish­vili über Gymno­pédie Nummer 1 von aus ihrem Album „Laby­rinth“

CRESCENDO: Frau Bunia­tish­vili, was hat es mit dem Titel Ihrer neuen Platte „Laby­rinth“ auf sich?
Khatia Bunia­tish­vili: Der mensch­liche Geist ist doch wie ein Laby­rinth, mit uner­war­teten Kurven und Wendungen. Was ich suche, ist die Essenz des mensch­li­chen Wesens.

Der Mensch, das sind aber dann nicht nur Sie?
Es ist ein sehr persön­li­ches Album. Aber ich glaube ganz allge­mein, dass ein Laby­rinth unsere Bestim­mung ist. Unser Leben hat Anfang und Ende. Was dazwi­schen passiert, kann man nicht beein­flussen. Ein Mensch kann sich aber auch selbst erfinden. Vorbe­stim­mung und Krea­ti­vität gehen zusammen.

Die Stück­aus­wahl macht dem Titel alle Ehre: Sie reicht von Morricone bis Scar­latti und von Pärt bis Chopin. Dazu haben Sie Kurz­texte geschrieben, die der Kombi­na­tion gera­dezu Bekennt­nis­cha­rakter verleihen. Nun ist die Musik relativ disparat. Man liest das Booklet ja nicht unbe­dingt, wenn man die Platte auflegt. Wo sehen Sie den roten Faden?
Die Musik war zuerst da. Ich habe dann zu meinen Emotionen und Gedanken diese Texte gefunden. Es gibt eine Poly­phonie in unseren Gedanken, Gefühlen, Erin­ne­rungen, Träumen, aber auch in den Sinnen. Ich wollte nicht einen einzelnen Kompo­nisten nehmen, um das hörbar werden zu lassen.

Sie leben in Paris. Die Platte haben Sie im Juni 2020 in der einge­spielt. War das schon länger geplant oder ein Corona-Ergebnis?
Wir konnten die Produk­tion nicht so lang­fristig planen. Ich wusste nur, dass die Aufnahme im Juni sein sollte. Die Daten haben sich ein biss­chen verschoben, wir mussten impro­vi­sieren, so wie alle. Die Aufnahme in der Phil­har­monie de Paris hatte Symbol­wert für mich. Das ist ein unglaub­lich schöner Saal mit toller Atmo­sphäre und fabel­hafter Akustik.

Auf Ihre Website steht schnör­kellos: „There are curr­ently no dates available.“ Das klingt, als würden Sie zurzeit gar keine Konzerte spielen?
Doch, ich spiele! Die Konzerte sind immer voll, soweit das unter den Restrik­tionen möglich ist. Ich stelle die Termine nicht auf die Website, weil ich mein Publikum respek­tiere und nicht will, dass jemand eine Karte kauft, bevor nicht sicher ist, dass das Konzert statt­findet.

Khatia Buniatishvili über György Ligeti
(Foto: © Esther Haase)

»Die Farbig­keit der Sehn­süchte und die Leere der Realität brachten sie aus dem Gleich­ge­wicht: Beim Zuschauen spürte sie, wie sich ihre Wahr­neh­mungen Farbe für Farbe in den Schichten eines Regen­bo­gens auflösten – seine Harmonie und Schön­heit verloren ihren Sinn und Geschmack.«

Khatia Bunia­tish­vili über Arc-en-ciel von

Von der preis­ge­krönten Nach­wuchs­künst­lerin haben Sie sich in wenigen Jahren in den Kreis der inter­na­tional gefei­erten Pianisten empor­ge­spielt. Wer sind Ihre pianis­ti­schen Vorbilder?
Man kann in ethi­schen Fragen Vorbilder haben, aber in der Kunst mag ich das Wort nicht. Kunst ist etwas Unli­mi­tiertes und Freies. Natür­lich kann man von jemandem inspi­riert werden. Ich habe immer Pianisten geliebt, die etwas Einzig­ar­tiges waren, wie die großen Pianisten des 20. Jahr­hun­derts: Richter und Gould, Rubin­stein und Horo­witz, Rach­ma­ninow, Cziffra … Sie waren alle sehr unter­schied­lich. Sie sind ehrlich, genial, authen­tisch und haben etwas zu sagen.

Vermissen Sie das bei heutigen Pianisten?
Es gibt natür­lich auch heute große Künstler. Aber sehr oft liegt die Beto­nung nicht auf der Persön­lich­keit, sondern die Spieler suchen einen Rahmen. In diesem Rahmen versu­chen sie etwas zu finden, von dem sie denken, es würde in die heutige Zeit passen. Bei den Wett­be­werben wollen viele Teil­nehmer vor allem so spielen, dass die Jury ihnen nicht gefähr­lich wird.

Werden die Inter­pre­ta­tionen uniformer?
Ich finde schon. Das liegt auch am Internet. Dass man dort so vieles findet, hat große Vorteile. Es hat aber auch Nach­teile. Ich mag es nicht, wenn jemand versucht, eine Inter­pre­ta­tion zu kopieren. Die großen Virtuosen des 20. Jahr­hun­derts waren einfach viel über­ra­schender. Was ich heute beob­achte, ist eine mecha­ni­sche Einstel­lung zur Musik. Das heißt, Musik wird nicht im Sinne einer Virtuo­sität verstanden, die die gesamte künst­le­ri­sche Persön­lich­keit einbe­zieht.

Glauben Sie, dass jemand, der eine ausge­prägt indi­vi­du­elle Stimme hat, sich von dieser Allver­füg­bar­keit korrum­pieren lässt?
Es gibt natür­lich Gegen­bei­spiele. Boris Bere­zovsky zum Beispiel geht unge­heure Risiken ein. Er ist ein echter Virtuose. Aber Kunst und Risi­ko­lo­sig­keit vertragen sich nicht. Etwas ohne Risiko machen zu wollen, tötet die Krea­ti­vität.

Khatia Buniatishvili über Johann Sebastian Bach
(Foto: © Esther Haase)

»Das Leben lockte sie ein weiteres Mal in einen Strudel aus Leid und Glück. Je schwerer die Last der Erfah­rung, desto tiefer und fataler war der Sturz. Umge­kehrt war es leicht, sich wieder zu erheben.«

Khatia Bunia­tish­vili über ihr Arran­ge­ment von Johann Sebas­tian Bachs Orgel­kon­zert BWV 596 nach

Wenn Sie ein Werk einstu­dieren, was ist Ihr Ziel?
Am wich­tigsten ist mir der Geist des Kompo­nisten. Ich will sein Universum verstehen. Verstehen, was er mit seinen Zeichen sagen wollte. Jeder Kompo­nist ist so anders. Ich respek­tiere seine Indi­vi­dua­lität und seine Sprache. Diese Indi­vi­dua­lität ist stärker als der Stil, stärker als die Bedin­gungen, unter denen er das Werk schuf.

Wie wichtig ist Ihnen der Kontext der Entste­hung?
Ich betrachte alles. Aber äußere Infor­ma­tion können trüge­risch sein. Nur die Musik selbst kann nicht falsch sein. Da kann der Kompo­nist seine Gefühle und Gedanken nicht verste­cken. Es ist alles da. Durch die Noten finde ich die Wahr­heit, meine subjek­tive Wahr­heit. Und nicht durch irgend­welche Geschichten, die sich um die Entste­hung ranken. Die sind ja nie wirk­lich verbürgt.

Würden Sie für Ihre Inter­pre­ta­tion über die Grenze des Noten­texts hinaus­gehen?
Der Noten­text hat keine Grenze. Aber ich habe beim Einstu­dieren noch nie etwas gesehen, das ich hätte anders machen wollen, als es dastand. Der Noten­text ist unglaub­lich reich. Er sagt mir oft mehr als die Buch­staben. Nehmen wir das Wort „crescendo“, also wört­lich „Stück für Stück lauter werdend“: Es steht bei jedem Kompo­nisten. Aber es heißt deswegen nicht bei jedem Kompo­nisten das Gleiche. Es ist viel reicher.

Khatia Buniatishvili über John Cage und seine Komposition der Stille
(Foto: © Esther Haase)

»Früh­ling auf dem Friedhof. Für wen sind die Blumen – für einen Bewohner oder für einen Besu­cher? Sind wir geduldig genug, um die Stille auszu­halten, von der wir nicht wissen, ob sie endet oder ewig ist? Fragen für einen Besu­cher. Die Stille für den abwe­senden Bewohner.«

Khatia Bunia­tish­vili über 4′ 33″ von

Welche Rolle spielt für Sie Schön­heit als Inter­pre­ta­ti­ons­ideal?
Sie ist ein Teil, aber nicht alles. So wie die Ästhetik in der Philo­so­phie ihre Rolle und ihren Platz hat, aber nicht alles bedeutet, so ist es meiner Ansicht nach auch in der Musik. Oder in der Kunst. Schön­heit gehört zu der Palette an unter­schied­li­chen Sicht­weisen auf ein Stück oder auf das Leben oder auf Menschen.

Und abseits der Musik? Sie sind bekannt dafür, sich bei Ihren Auftritten extra­va­gant zu kleiden.
Brauche ich eine Erlaubnis von jemandem, wie ich mich kleide? Wer entscheidet darüber? Oder ist das meine Wahl?

Wonach wählen Sie Ihre Garde­robe denn?
Dass ich auf der Bühne Abend­kleider trage, liegt auch daran, dass das eine Tradi­tion ist und ich diese Tradi­tion respek­tiere. Aber die Sinn­lich­keit, über die man oft spricht, die kommt nicht von der Klei­dung. Die kommt von nackten Emotionen, die ich mit dem Publikum teile, weil ich nicht anders kann. Wenn ich auf der Bühne bin und spiele, kann ich meine Emotionen nicht verste­cken. Da zeigt sich meine verwund­bare Seite.

Drückt sich in der Wahl Ihrer Garde­robe Ihre Persön­lich­keit aus?
Ich bin eine Frau, und ich schaue jeden Tag mindes­tens einmal in den Spiegel. Manchmal sehe ich Schön­heit, manchmal sehe ich Häss­lich­keit. Ich habe Zweifel im Leben, ich habe schöne Momente und Momente, in denen ich mir meiner selbst sehr sicher bin. Manchmal fühle ich mich sexy und will das auch offen und groß­zügig zeigen, und manchmal fühle ich, dass ich für mich bleiben will. Dann ziehe ich sehr einfache Sachen an. Das ist ganz unter­schied­lich. Aber natür­lich zeigt sich in jedem Fall mein Verständnis von Ästhetik.

>

Aktuelle Auftrittstermine und weitere Informationen zu Khatia Buniatishvili unter: www.khatiabuniatishvili.com

Fotos: Esther Haase