KlassikWoche 37/2021
Das Klassik-Triell und die Stille in Afghanistan
von Axel Brüggemann
13. September 2021
Der Stellenabbau beim Met-Orchester, Michael Sturmingers Film Die Unschuldsvermutung. Die Verurteilung von Maria Kalesnikava in Belarus
Willkommen in der neuen KlassikWoche,
pünktlich zum Triell habe ich einen Brief an die Parteien geschrieben – Wie halten Sie es eigentlich mit der Klassik? Ich warte noch auf Antwort. In den USA wird derweil an der Oper gespart, und in Afghanistan werden Musikinstrumente verbrannt. Schwere Zeiten für Schönheit.
MET-ORCHESTER WIRD KLEINER
Ich hatte vorletzte Woche über die Einigung zwischen MET-Intendant Peter Gelb und seinem Orchester in New York berichtet, das zunächst aufgrund von Corona geschasst, dann doch wieder geholt wurde. Nun bekam ich Anrufe: „Ja, schon, aber…“ Und dieses „Aber“ ist schockierend: „… die Einigung geht mit einem Stellenabbau einher. Das Orchester der größten US-Oper wird von 96 MusikerInnen auf 83 geschrumpft.“ Wie man diesen Operntanker mit so wenig Festangestellten durch das Jahr führen will? Keine Ahnung.
Die New York Times scheint derzeit eher auf Kuschelkurs zu sein. Sie schreibt zwar, dass 11 Musiker das Orchester während der Pandemie verlassen hätten oder in Rente gingen, verschweigt aber, dass die Stellen wohl nicht neu besetzt werden. Peter Gelb redet all das derweil schön: „Die MET ist vielleicht etwas zerbrechlich, aber sie ist eine Familie.“ Einige seiner MusikerInnen haben diesen Familiengeist in den letzten anderthalb Jahren dagegen schmerzlich vermisst (auch die Einigung mit den BühnenarbeiterInnen ist erst in letzter Sekunde zu Stande gekommen). Ach ja, fast schon müßig, zu fragen, was Musikdirektor Yannick Nézet-Séguin derweil eigentlich so tut: Selfies mit Hund für Insta? Seine Piano-Solo-Tour? Oder einfach nur: Urlaub?
FREMDSCHÄMEN FÜR MICHAEL STURMINGER
Es war wie ein Unfall: Eigentlich wollte ich Fußball auf RTL schauen, aber meine Glotze war auf ARD geschaltet, und dann konnte ich vor Schreck einfach nicht mehr wegschauen. Lieber Michael Sturminger, Sie haben einen ziemlich belanglosen „Jedermann“ in Salzburg und eine stinklangweilige „Tosca“ bei den Osterfestspielen in Salzburg inszeniert – geschenkt! Aber Ihr Spielfilm „Die Unschuldsvermutung“ über die Salzburger Festspiele, zu dem Sie das Buch geschrieben und Regie geführt haben – ich habe mich in meinem leeren Wohnzimmer 90 Minuten lang ununterbrochen fremdgeschämt. Fremd geschämt vor der Kunst der Oper, die Sie, lieber Michael Sturminger, in abgegrabbeltster Rosamunde-Pilcher-Manier auf derart hanebüchene Stereotype von #metoo und Machtmissbrauch heruntergebrochen haben, dass Sie damit billigstes Unterhaltungsfernsehen auf Kosten aller Opfer sexueller Übergriffe im Kulturbetrieb betrieben haben. Abgesehen von Ihren lächerlichen Stereotypen von Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser (wie absurd, dass dieser Film explizit ihr 100. Festspiel-Jubiläum feiert) und davon, wie billig Sie sich über (oder mit) „Plácido“ über Damen-Begegnungen im Fahrstuhl lächerlich machen, scheinen Sie noch nie wirklich in Bayreuth gewesen zu sein, sonst wäre wenigstens Ihre Telefon-Katharina-Wagner ein bisschen, sagen wir, „fränkischer“ ausgefallen.
Ach ja, und wäre ich das Hotel Sacher in Salzburg – ich würde die nächste Schokotorte, die Sie bestellen, mit einer Portion scharfen Senfs dekorieren statt mit Marille. Lieber Michael Sturminger, ich kann mich nicht erinnern, je so einen Scheiß gesehen zu haben, der zur besten Sendezeit klassische KünstlerInnen, die Oper, vor allem aber den ernsthaften Kampf von Dirigentinnen und die tatsächlich existenzielle Situation von Machtmissbrauch in der Kulturszene derart lächerlich macht und desavouiert wie Sie und dafür noch ein ahnungsloses Star-Ensemble um Ulrich Tukur über die Klamauk-Klinge springen lässt.
AFGHANISTAN UND BELARUS: AKTUELLE POLITISCHE EXKURSE
Wir behaupten immer wieder, dass die Klassik mitten im Leben steht. Ja, das tut sie. Und das tat sie, die gesamte Musik, auch in den letzten 20 Jahren in Afghanistan. Ich empfehle jedem den Artikel von Paula Lochte für Bayern 2, in dem sie Musiklehrer zu Wort kommen lässt, die Musiker in Afghanistan ausgebildet haben: „Auch den afghanischen Musikjournalisten Ahmed Hamid Ehsan, der seit 2017 im Exil in Deutschland lebt, erreichen Hilferufe“, schreibt Lochte. „Am Telefon berichtet er: ‚Die Taliban wollen zum Beispiel die Frauen, die gesungen haben, entweder umbringen oder einfach wie eine Sklavin nutzen. Und die Taliban machen das! Sie wollen Angst machen, damit die Leute nicht weiter singen. Deshalb sind alle Leute in Sorge. Und die Leute als Sänger und Sängerinnen haben keine Chance mehr in Afghanistan zu bleiben.‘“
Ebenfalls lesenswert, vor allen Dingen aber animierend, um immer wieder an Ungerechtigkeit zu erinnern, ist das Gespräch, das Hartmut Welscher mit Christine Fischer vom ECLAT Festival über ihre Freundin Maria Kalesnikava geführt hat, die gerade zu 11 Jahren Haft in Belarus verurteilt wurde. Ich finde, es ist die Aufgabe von uns allen, immer und immer wieder die Freiheit, den Humanismus und die Menschlichkeit einzuklagen, die zum Musikmachen existenziell sind!
PERSONALIEN DER WOCHE
Schauspielerin Cate Blanchett soll die Dresdner Philharmoniker dirigieren – für einen Film. Sie spielt darin eine aufstrebende Dirigentin. Nun ja: schlimmer als Sturmingers „Unschuldsvermutung“ kann es ja nicht werden. +++ Igor Levit wird nicht müde, zu erklären, dass sein Gehirn beim Proben für sein neues Schostakowitsch-Album andauernd „geblutet“ habe. Nach seinem Satie-Projekt mal wieder eine Exposition des Leidensmannes für die Kunst. Warum muss eigentlich immer das, was man gerade macht, das schmerzhafteste, das, was man gerade spielt, das Beste (heute: „Bach ist mein Gott“, morgen „Keiner ist größer als Beethoven“) sein? Wir lernen: Der Superlativ ist immer da, wo Levit ist.
Eine neue CD dokumentiert das letzte Konzert von Nikolaus Harnoncourt in Zürich samt Probenmitschnitt zu Beethovens Fünfter Sinfonie. „Es rückt die Plötzlichkeit ins Zentrum des Erlebens“, findet Jan Brachmann in der FAZ. +++ Es wird eine harte Saison für die Wiener Sängerknaben: Auf Grund der Corona-Pandemie haben sie sämtliche Auslandstourneen abgesagt. +++ Der plötzliche Tod des Cellisten Sebastian Hess schockierte die Klassik-Szene. Der sehr nahe Nachruf von Moritz Eggert beginnt so: „Sebastian (der unglaublich viele Spitznamen für andere Menschen hatte, wir beide nannten uns gegenseitig konsequent „Schnucki“ aus irgendeinem Grund) war einer der ungewöhnlichsten Menschen, die ich kannte. Ich glaube, niemand, der ihn erlebte, wird ihn so schnell vergessen, denn er füllte jeden Raum mit einer Präsenz, die nur wenige Menschen besitzen.“
UND WO BLEIBT DAS POSITIVE, HERR BRÜGGEMANN?
Ja, wo zum Teufel bleibt es nur! Vielleicht in der kommenden Wahl. Der Kulturrat hat zu Recht beklagt, dass der Wahl-O-Mat keine einzige Frage zu Kulturthemen aufwies. Ich hatte die spontane Idee, die Parteien anzuschreiben. Zwei haben bereits auf meinen Fragenkatalog geantwortet, die Grünen baten um ein Wochenende Bedenkzeit. War ja auch sehr spontan. Ich werde die Antworten auf Fragen nach Perspektiven für Soloselbstständige, nach der Höhe von Kultursubventionen und nach der Rolle der öffentlich-rechtlichen Radiosender für die Musik auf nächsten Montag verschieben.
Eine meiner Fragen war auch, welchem Klassik-Stück die Parteien sich besonders verbunden fühlen. Hier schon mal einige Vorschläge: Würde Rossinis „La Cenerentola“ nicht perfekt zu Annalena Baerbock passen, die den richtigen Prinzen sucht, und gleichzeitig allerhand Arien trällert, die Rossini von sich abgeschrieben hat? Und die Geschichte von Idomeneo und dem geopferten Sohn könnte auch ein Gleichnis für Armin Laschet und die CDU sein. Für die FDP fällt mir natürlich Hofnarr Christian-„Rigoletto“-Lindner ein, und, klar: Einen blasseren Opernhelden als den „Zauberflöten“-Tamino gibt es in der Musikgeschichte wohl kaum, aber am Ende ist ausgerechnet er der Sieger im Kampf um den siebenfachen Sonnenkreis – ebenso wie Olaf Scholz und seine SPD?
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
FOTOS: MET, ARD, BR, RTL