KlassikWoche 42/2021

Liebe Klassik, wir müssen reden!

von Axel Brüggemann

18. Oktober 2021

Die Seligsprechung Anton Bruckners, das ausbleibende Klassik-Publikum, die neue Oper von Daniel Behle

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit aller­hand Denk­an­stößen: Muss sich die Klassik neu erfinden? Wie finden wir eine gemein­same Corona-Stra­tegie? Und vor allen Dingen: Welcher Kompo­nist wird bald persön­lich vor Gott diri­gieren?

SPRICHT BENE­DIKT BRUCKNER SELIG?

Bruckners Ankunft im Himmel, Schattenbild, 1914

Mein lieber Gott, das klingt viel­leicht verrückt, aber das Domradio in Wien berichtet von einer Initia­tive um Adel­heid Geck, die daran arbeitet, den Kompo­nisten selig spre­chen zu lassen. Geck schrieb bereits einen Brief an den dama­ligen Papst Bene­dikt XVI. Bis heute hätten sich über 100 Personen gefunden, die eine Selig­spre­chung befür­wor­teten. Dazu gehört der ehema­lige Würz­burger Bischof und vorma­lige Kölner Weih­bi­schof Fried­helm Hofmann. Hilfe sicherten zu Lebzeiten auch Herr­schaften zu, die inzwi­schen einen kürzeren Weg zu Gott haben: der Ehren­prä­si­dent des Allge­meinen Cäci­lien-Verbandes Wolf­gang Bret­schneider und Papst-Bruder Georg Ratz­inger.

Geck hat die Unter­stützer-Liste nun der Bruckner-Gesell­schaft über­geben und hofft auf ein Voran­treiben der Selig­spre­chung. Für viele erfülle Bruckner durch sein Leben und sein Werk das „Bild eines heiligen Künst­lers“, so Geck. Sollte ihre Initia­tive Erfolg haben, dürfte Anton Bruckner der erste Kompo­nist über­haupt sein, der selig- oder sogar heilig­ge­spro­chen wird. Welches Wunder Bruckner voll­bracht hat, wird im Artikel nicht verraten, gesi­chert ist, dass er – quasi als Vorleis­tung – seine Neunte Sinfonie bereits Gott gewidmet hat, mit dem Zusatz „wenn er sie nehmen mag“. 

DEBATTE: QUO VADIS, KLASSIK?

Schön, dass dieser News­letter immer mehr zum inter­ak­tiven Debat­ten­forum wird. Nachdem ich letzte Woche den Gedanken des zurück­hal­tenden Publi­kums hier gesponnen hatte, habe ich ihn in einem Kommentar für den SWR ausge­baut: Können wir wirk­lich das Publikum dafür verant­wort­lich machen, dass es zu Hause bleibt? Oder muss die Klassik auch ihr Angebot und ihre Erzähl­formen über­denken? Nicht nur, dass Norman Lebrecht das Thema nun aufge­nommen hat – auch auf meiner Face­book-Seite entspannt sich eine lebhafte Debatte: „Span­nendes Thema“, schrieb Karl­heinz Schö­berl, „aber für den Publi­kums­schwund gibt es mehrere Ursa­chen.“ Er führt unter anderen das Ausbleiben der Touristen an, Konkur­renz durch Fern­sehen, zu teure Preise und: mangelnde Bildung. Sängerin Chris­tina Sidak erklärte, dass Projekte nahe am Publikum mit neuen Formaten wie ihre Auffüh­rung von „Mama macht Lala“ durchaus Publikum fänden. Regis­seur André Turn­heim schreibt: „Der Glaube, Promis, Unter­hal­tung und leichte Muse würden das Publikum zurück­holen, ist ein Irrglaube.

Nermina Kukic gibt zu bedenken, „die Auslas­tung öffent­li­cher Thea­ter­be­triebe war schon vor Korona gering“, und Sven Fried­rich vom Haus Wahn­fried kommen­tiert: „Ein wenig Geduld, Langmut und Vertrauen in die Kunst und ihre Wirkungs­kraft wären viel­leicht hilf­rei­cher, als in zeit­geis­tiger Panik vermeint­lich attrak­tive neue Säue durchs Dorf zu treiben.“ Tenor berich­tete mir auf Face­book aus , wo junges Publikum mit Zehn-Euro-Tickets gelockt wird. Ulrich Khuon, Inten­dant des Deut­schen Thea­ters , erklärte in der Süddeut­schen Zeitung dass ein „gefühltes Viertel“ der Zuschaue­rinnen und Zuschauer derzeit noch abwarte. Er gehe davon aus, dass ein Teil vor allem der über 70- und 80-Jährigen nicht mehr zurück­kehren wird. Er erwartet einen Einbruch von zehn bis 15 Prozent. Alarm schlägt er deswegen nicht: „Das wird eine Anstren­gung werden, aber keine Horror­er­fah­rung. Es kann auch lust­voll sein, sich neu auszu­pro­bieren und Zuschauer zu gewinnen.“ Die Debatte hat gerade erst begonnen, ich weiß, dass sie auch auf der Konfe­renz der Gene­ral­mu­sik­di­rek­toren geführt werden wird – und bin gespannt, ob dieser Diskurs nicht auch Energie für Neues bringen kann. 

AUSWEICH­QUAR­TIER BEIM REICHS­PAR­TEI­TAGS­GE­LÄNDE

Kongresshalle auf dem Reichparteitagsgelände in Nürnberg

Vielen Kommunen in fällt es schwer, Kultur über­haupt noch zu finan­zieren. Unter den Spar­maß­nahmen musste in beson­ders die Klassik leiden: Ein neues Konzert­haus wurde auf Eis gelegt. Wohl auch ein Grund, warum Chef­di­ri­gentin ihren Vertrag nicht verlän­gerte. Sicher dagegen ist: Das Opern­haus soll von 2025 an in langen zehn Jahren für statt­liche 700 Millionen Euro saniert werden. Rund 200 Millionen Euro liegen für ein Ausweich­quar­tier bereit. Wo das nun liegen soll, darüber streitet die Politik. CSU und Grüne haben sich auf die Kongress­halle als Inte­rims­standort fest­ge­legt, die SPD zögert. Sie debat­tiert die histo­ri­sche Nähe zur Umge­bung der Reichs­par­tei­tage, schließt einen Umzug in die Kongress­halle aber auch nicht aus. „Nur weil es schnell gehen soll, dürfen aber keinen offenen Fragen ausge­blendet werden“, sagt SPD-Stadtrat Ulrich Blaschke.

Sicher ist: Die Politik glaubt, „dieser beson­dere Ort braucht eine Rück­kop­pe­lung mit der Bürger­schaft“, sagt SPD-Stadt­rätin und Bauex­pertin Chris­tine Kayser. Auf die Tube drückt derweil der Förder­vereinKonzert­haus plus“. Er will den nie fertig­ge­stellten Nazi-Bau auf dem Reichs­par­tei­tags­ge­lände zum Kultur-Campus machen. Im Innenhof soll zusätz­lich noch ein Konzert­saal entstehen. Übri­gens: Das hat ein neues Jugend­or­chester ins Leben gerufen. Auf die Initia­tive von Mall­witz haben Nach­wuchs­mu­si­ke­rinnen und ‑musiker die Möglich­keit, an mehreren Proben­phasen und Konzert­pro­jekten teil­zu­nehmen. Noch bis zum 21. Oktober können sich Inter­es­sierte für die Vorspiele und eine Aufnahme in die Junge Staats­phil­har­monie bewerben.

WIR MÜSSEN REDEN

Die Zerris­sen­heit der Klassik-Gesell­schaft zeigt sich in meinem Post­fach: Einen Tag fragt jemand, wie es sein kann, dass promi­nente Sänger ihre Auftritte an der MET absagen, während sie zur glei­chen Zeit spontan in Moskau auftreten – ob diese Zusa­ge­po­litik mit dem Impf­status zu tun hat? Auf der anderen Seite berichtet eine promi­nente Sängerin von einer weniger promi­nenten Kollegin in der Provinz, die sich nicht impfen lassen will und deshalb – trotz Fest­an­stel­lung – keine Rollen mehr bekäme. Nur zwei von vielen Beispielen, in denen vor allen Dingen eines abzu­lesen ist, dass die Wut auf Seiten der Impf­gegner und der Geimpften groß ist. Mit einigen Ausnahmen (ich habe letzte Woche über die Konzert­ab­sage von berichtet) findet der Streit weit­ge­hend hinter verschlos­senen Türen statt. Doch die Emotionen kochen immer höher.

Das Grund­pro­blem scheint, dass die poli­ti­sche Entschei­dung an die (dafür in der Regel unge­eig­neten) Inten­dan­tinnen und Inten­danten weiter­ge­geben wird. Und die reagieren voll­kommen unko­or­di­niert und unein­heit­lich. Sowohl was die Ensem­bles als auch, was das Publikum betrifft. Ich habe diese Woche mit einer Klassik-Lieb­ha­berin aus Berlin gespro­chen. Sie hatte Veran­stal­tungen in der Phil­har­monie, der Staats­oper und der Deut­schen Oper besucht – überall galten andere Hygie­ne­re­geln. Ähnlich ist es in München. Fakt ist auch: Die Gefahr ist noch nicht vorbei. Bei einer Chor­probe in Bremer­haven infi­zierten sich 20 Personen mit dem Corona-Virus – fast alle waren geimpft, was wohl Schlim­meres vermieden hat.

Das Problem sind die immer offe­neren und verbis­senen Graben­kämpfe, die sich eine kleine Gemein­schaft wie die Klassik eigent­lich nicht leisten kann. Die Posi­tionen radi­ka­li­sieren sich, das Zuhören wird immer schwerer. Ich glaube, es ist Zeit für einen Runden Tisch! Wie könnten Musi­ke­rinnen und Musiker sich auf Regeln einigen? Welche Verant­wor­tungen wollen und können sie über­nehmen? Und wie lässt sich errei­chen, dass Impf-Skep­tiker und Impf-Befür­worter gemein­same Wege finden? Wir sollten diese Fragen nicht länger in den Kate­go­rien von Hass und Gegen­hass, Boykott oder stiller Strafe debat­tieren – sondern mit offenem Visier und ohne Angst vor Repres­sa­lien. 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Musical-Ikone Andrew Lloyd Webber sprach in einem langen und lesens­werten Inter­view mit Clas­sical Music über das Versagen der Politik in der Pandemie, darüber, warum er gegen den Staat geklagt hat und über seine Zukunfts­pläne: Wenn er einen guten Stoff findet, wird er sich sofort an ein neues Werk setzen. +++ Tenor hat zwei Jahre lang 604 Seiten Partitur geschrieben. Nun hat er dem NDR verraten, worum es geht und Daniel Kaiser auch einige Takte vorge­sungen. Die Hand­lung: „Ein Bier­brau­wett­be­werb zwischen zwei nord­deut­schen Dörfern mit vielen Anspie­lungen auf andere Opern und einer Menge Gags. Kate­gorie: Schen­kel­klopfer. ‚Das Bier aus dem Kloster St. Demenz/​jeder mag’s keiner kennt’s‘, kichert Behle. ‚Das ist das Terzett im ersten Akt.‘ In der Wolfs­bucht wird dann, frei nach dem Frei­schütz, in einer Nacht das Frei­bier gebraut. Der Liebes­kummer ist die ‚Wunde von Bernd‘. Zwei Figuren heißen Senta und Klaus – wenn sie sich erregt beim Namen nennen, klingt das nach dem Weih­nachts­mann.“ Auf Face­book veröf­fent­lichte er nun auch ein Auffüh­rungs­datum: den 14. Januar, aus dem Ort macht Behle noch ein Geheimnis.

wird ab 2022 die neue Gene­ral­mu­sik­di­rek­torin des Teatro Comu­nale di Bologna. Der Vertrag gilt zunächst für drei Jahre. +++ über­nimmt als erste Frau in der Geschichte des Atlanta Symphony Orchestra den dortigen Chef­posten. Sie ist die zweite Frau über­haupt, die eines der großen US-Orchester leitet. Die 56-jährige Fran­zösin wurde als klas­si­sche Sängerin auf Opern- und Konzert­bühnen berühmt. +++ Wie das mit dem Ringen um Publikum eher nicht geht, musste die gerade erfahren: Ihr Face­book-Post, in dem sie dem Opern­chor gratu­liert, die Partie aus „Eugen Onegin“ inner­halb eines Tages einstu­diert zu haben, da der Gast­chor aufgrund von Corona ausfiel, sorgte für Hohn und Spott: Wisse denn niemand, dass die Oper durchaus zum Reper­toire des Hauses gehöre? Und warum über­haupt sei man auf einen Gast­chor ange­wiesen? +++ Die Next Gene­ra­tion der Freunde der bekommt eine neue Spitze: Chris­tian Renner über­nimmt den Vorsitz, Ulrike Köstinger wird stell­ver­tre­tende Vorsit­zende. +++ Tragödie und Komödie liegen so oft so nahe zusammen: Im Verfahren um einen der brutalsten Raub­morde Öster­reichs kam nun auch ein anderes Detail zum Vorschein: Ein Sänger der Staats­oper sollte zuvor über­fallen werden. Aber er schlug die Täter (und späteren Mörder) durch seine ausge­bil­dete Stimme in die Flucht. Wir lernen: Gesangs­stunden können Leben retten!

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht kommt es in : Hier nerven Minister Nitin Gadkari die Auto­hupen. Nun plant er ein Gesetz, wonach nur tradi­tio­nelle indi­sche Musik als Geräusch für Auto­hupen zuge­lassen werden soll. Außerdem über­lege er, die Sire­nen­töne von Kran­ken­wagen und Poli­zei­autos mit netteren Klängen zu ersetzen, damit sich die Leute besser fühlten. Gadkari will mehr „Flöten, Tabla-Trom­meln, Violinen und Mund­har­mo­nikas“ im Stadt­bild, äh: Stadt­KLANG! Wäre das nicht auch ein Thema für Rot-Grün-Gelbe Verhand­lungen? Wagner im Stau, mit Mozart ins Kran­ken­haus und mit Bach in den Knast? Ich wäre dafür.

Und dann noch das: Die genauen Daten und Zeiten für die Kino­tour mit meinem neuen Film „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ stehen inzwi­schen auch fest (siehe Link).

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

AXEL BRÜG­GE­MANN

brueggemann@​crescendo.​de 

FOTOS: Wikis­ource, Museen der Stadt Nürn­berg, dpa, Phil­adel­phia Orchestra