Magdalena Kožená

„Man ist wie nackt!“

von Dorothea Walchshäusl

17. Oktober 2021

Allein mit dem Klavier: Die Sopranistin Magdalena Kožená. widmet sich zusammen mit dem Pianisten Yefim Bronfman Liedern, die aus der Volksmusik kommen.

CRESCENDO: Frau Kožená, Sie sind im tsche­chi­schen Brünn aufge­wachsen. Gehörten Volks­lieder zum Klang Ihrer Kind­heit?

Magda­lena Kožená: Oh ja, sehr. Brünn liegt ja in der Region Mähren, die sehr stark beein­flusst ist von der Volks­musik. Die Menschen dort sind zu Hause in den Liedern. Wenn meine Mama Geschirr abge­wa­schen oder geputzt hat, war sie immer am Singen. Und mit meinen Groß­el­tern saßen wir oft am Abend zusammen und haben Volks­lieder gesungen und die zweite und dritte Stimme dazu impro­vi­siert.

Das nennt man früh­kind­liche Prägung…

Ja, aber als ich aufge­wachsen bin, war das ganz normal für mich. Außerdem ist Mähren eine wich­tige Wein­re­gion, es gibt dort viele Wein­händler, und jedes Dorf hat seine eigene Volks­mu­sik­gruppe, seine eigenen Lieder und tradi­tio­nellen Kostüme. Das ist wirk­lich einzig­artig! Und jede Region ist sehr stolz auf ihr Brauchtum – man erkennt dort anhand der Lieder und der Streifen auf dem Hemd, aus welchem Dorf du stammst.

Auf Ihrem Album „Nost­algia“ inter­pre­tieren Sie mit The Nursery von Modest Mussorgsky, den Village Scenes von und ausge­wählten Liedern von Stücke von Kompo­nisten, die alle die Verwur­ze­lung in der Volks­musik eint. Wie kam es dazu?

Ausgangs­punkt des Programms war genau genommen die Zusam­men­ar­beit mit meinem fantas­ti­schen Kollegen, dem Konzert­pia­nisten . Bei den Programmen mit ihm denke ich immer vom Klavier her und frage mich, was Yefim so fantas­tisch spielen kann, dass die Welt es unbe­dingt hören soll. Er kann unglaub­lich fein und zart spielen, aber er hat auch eine immense Power und einen unglaub­lich dyna­mi­schen Sound – er kann wirk­lich klingen wie ein ganzes Orchester. Zudem ist Russisch Yefims Mutter­sprache, und er hat eine einzig­ar­tige Bezie­hung zur russi­schen Musik – so kamen wir auf Mussorgsky. The Nursery ist zwar keine Volks­musik im klas­si­schen Sinne, aber man spürt deut­lich den russi­schen Geist und die Tradi­tion in diesem Werk. Ich habe dann nach etwas Ähnli­chem in einer völlig anderen musi­ka­li­schen Umge­bung gesucht und bin schließ­lich bei Bartók gelandet.

»Das Leben fließt ständig dahin, und man erin­nert sich an all die schönen Dinge, die vorüber sind.«

Mit den Brahms-Liedern haben Sie zudem den Bogen zum deut­schen Lied­re­per­toire geschlagen.

Ja – ich wollte diese Stücke schon seit langer Zeit singen, habe es aber gleich­zeitig immer vermieden. Nicht, weil ich das deut­sche Lied nicht mag, ganz im Gegen­teil – ich liebe es sehr. Aber es gibt schon so viele wunder­bare Aufnahmen von Sängern der früheren Gene­ra­tion. Bei diesem Programm aber war nun die Gele­gen­heit da. Schließ­lich hat Brahms so viel von der deut­schen Volks­mu­sik­tra­di­tion in seiner Musik und eine ähnlich roman­ti­sche Melodik wie zum Beispiel Dvořák – eine Art slawi­scher Klang, der mir sehr vertraut ist.

Der Geist der Musik mag ähnlich sein, die Tonsprache unter­scheidet sich deut­lich. Wie würden Sie die verschie­denen Klang­welten beschreiben, durch die Sie auf dem Album wandeln?

Die Sprache von Brahms in seinen Liedern ist sehr klas­sisch und melo­disch, hier gibt es keine harmo­ni­schen Über­ra­schungen. Die Schön­heit liegt in genau dieser Schlicht­heit: Das ist pure Anmut. Mit Bartók gehen wir musi­ka­lisch nach Osteu­ropa. Er verwendet andere Skalen und ist harmo­nisch viel exoti­scher und moderner unter­wegs als Brahms. Span­nend finde ich auch die Rolle der Beglei­tung: Bartók imitiert hier den Klang der tradi­tio­nellen Instru­mente, die bei den Liedern auf dem Dorf oft mitge­spielt haben. The Nursery von Mussorgsky wiederum steht unver­wech­selbar für sich und ist extrem persön­lich. Allein diese Idee, dass ein Kind mit seiner Nanny spricht, ist ja wunder­schön und prägt den kommu­ni­ka­tiven Charakter des Stücks.

Ihr Album trägt den Titel „Nost­algia“ – was verbinden Sie mit diesem Begriff?

Beim Wort „Nost­algie“ schwingt für mich ein biss­chen Melan­cholie mit und etwas Sehn­suchts­volles, nicht in einem schreck­lich trau­rigen Sinne, sondern eher als Refle­xion über die Zeit. Das Leben fließt ja ständig dahin, und man erin­nert sich an all die schönen Dinge, die vorüber sind. Das ist ein ganz beson­deres Gefühl – glück­lich und traurig im selben Moment.

»Die Poesie in Liedern ist oft dichter als in Opern.«

Sie sind im Lied­ge­sang ebenso zu Hause wie auf der Opern­bühne. Was bedeutet Ihnen die Ausein­an­der­set­zung mit dem Lied?

Das Lied ist für mich absolut essen­ziell, und es ist sehr wichtig für mich, diese intime Form zu pflegen, bei der man wie nackt ist, allein mit dem Klavier. Man kann hier unglaub­lich intensiv ins Detail gehen, und die Poesie in den Liedern ist oft viel dichter als in Opern. Außerdem hat man bei einem Lieder­abend eine ganz andere Bezie­hung zum Publikum. Man schaut die Leute direkt an und sieht genau, wie sie reagieren. Auch wenn die Zuhörer nichts sagen, hat man einen Dialog mit ihnen. Das ist sehr persön­lich.

Und das ist in der Oper anders?

Ja, defi­nitiv. Bei der Oper inter­agiert man eher mit den Kollegen, man sieht das Publikum nicht, es ist dunkel, man ist nicht man selbst, sondern in einer Rolle … Gleich­zeitig ist natür­lich auch jedes Lied eine Art kleine Oper. Letzt­lich berei­chern sich beide Genres gegen­seitig – die Detail­ar­beit beim Lied kann einem bei der Oper helfen, umge­kehrt lernt man vom Schau­spiel auch etwas für die Inter­pre­ta­tion eines Lieds. Für mich ist es sehr wichtig, beides zu machen. Ich würde mich nie entscheiden wollen.

Ob im Lied­ge­sang oder in der Oper: Wie gehen Sie bei der Erar­bei­tung neuer Werke vor, und welche Bedeu­tung hat der Text dabei?

Das ist wie ein Mosaik, das man zusam­men­baut. Erst mal lese ich viel über das jewei­lige Werk, versuche, etwas über den histo­ri­schen Kontext heraus­zu­finden und ein Bild davon zu bekommen, was der Dichter und Kompo­nist damit sagen wollte. Erst dann konzen­triere ich mich auf den Text und singe ihn nicht gleich, sondern spreche ihn erst einmal so, als wäre ich eine Schau­spie­lerin. Dabei spüre ich, wo die natür­li­chen Akzente sind und wo die Sprache fließt. Das ist ganz wichtig für mich, denn wenn man sich nur auf die Musik konzen­triert und auf die Noten­längen, verliert man manchmal das natür­liche Gefühl dafür, was man da eigent­lich singt.

»Bei Online-Live-Auftritten verliert man die Kommu­ni­ka­tion und den Austausch der Energie.«

Die Corona-Pandemie hat den Dialog mit dem Publikum jäh unter­bro­chen. Wie haben Sie diesen Ausnah­me­zu­stand erlebt?

Ich glaube, in dieser Zeit hat wirk­lich jeder gemerkt, wie essen­ziell die Rolle des Publi­kums ist – sowohl für die Künstler als auch für die Zuhörer selbst. Natür­lich war ich dankbar, dass es all diese Tech­no­lo­gien und Möglich­keiten gab, um trotzdem online irgendwie weiter­zu­ma­chen. Aber letzt­lich konnten die Online-Live-Auftritte keine rich­tigen Konzerte ersetzen, und ich kam nach einiger Zeit an einen Punkt, an dem ich gemerkt habe: Ich will und kann das nicht mehr.

Woran lag das?

Man verliert die Kommu­ni­ka­tion und den Austausch der Energie. Wenn man ansonsten vor einem Konzert nervös ist und dann auf die Bühne geht, ist die Nervo­sität oft schnell vorbei, denn dann sieht man ja die Zuhörer und reali­siert, dass das auch nur Menschen sind und dass es völlig ok ist und schlicht mensch­lich, wenn mal ein Fehler passiert.

Und dieser mensch­liche Aspekt ging bei den Online-Über­tra­gungen verloren?

Ja, teil­weise schon. Das ist eine wirk­lich selt­same Situa­tion, wenn Sie da in einer voll­kommen leeren stehen und singen. Sie sehen keinen Menschen und wissen gleich­zeitig, dass da Leute zu Hause vor den Bild­schirmen sind. Diese Mischung ist tatsäch­lich ein biss­chen gruselig – einer­seits live zu singen und ande­rer­seits zu wissen, dass die Aufnahme ab diesem Moment für immer im Internet ist. Das erzeugt eine eigen­artig unter­kühlte Atmo­sphäre.

Ist das vergleichbar mit der Situa­tion bei einer Studio­auf­nahme?

Nicht wirk­lich. Natür­lich soll auch eine Studio­auf­nahme möglichst „live“ klingen. Aber das ist eine völlig andere Arbeit. Es ist eben nicht live, man nimmt verschie­dene Takes auf, feilt an kleinen Details… Das hat ein biss­chen was von einer OP. Das kann schon auch Spaß machen, aber letzt­lich singe ich viel lieber live. Das ist viel­leicht weniger perfekt, aber leben­diger.

»Beim Singen muss die Energie durch den gesamten Körper strömen.«

Die Stimme ist das persön­lichste Instru­ment über­haupt und gleich­zeitig nicht greifbar. Macht einem das manchmal Angst?

Ja, das ist verrückt. Wir können die Stimme nicht sehen, sie hat ja genau genommen nur zwei Zenti­meter – und dabei sind auch diese nur ein kleiner Teil des Ganzen. Es ist so schwer, über das Singen zu spre­chen – schließ­lich muss die Energie ja durch den gesamten Körper strömen, die Muskeln müssen in perfekter sein, und der Atem muss fließen… Gerade die Funk­tion des Atems ist oft fast noch wich­tiger als die Stimm­bänder selbst – sofern diese gesund sind natür­lich. Wenn man im Stress ist, kann man mitunter zunächst nicht mehr spre­chen, auch die Emotionen spie­geln sich im Atem, man durch­lebt verschie­dene Lebens­pe­ri­oden, bekommt Kinder, wird älter… Und all das beein­flusst einen beim Singen.

Ein heraus­for­dernder Prozess – der vermut­lich niemals endet?

Absolut. Das ist eine konstante Verän­de­rung, die man annehmen muss. Um immer wieder neue Wege zu finden muss. Das Faszi­nie­rende ist ja: Wenn es nicht funk­tio­niert, ist es oft sehr schwer heraus­zu­finden, wo das Problem liegt, schlicht, weil da so vieles zusam­men­spielt. Wenn es aber funk­tio­niert und man den rich­tigen Zugang und das rich­tige Gefühl findet – dann ist Singen die einfachste Sache der Welt.

Fotos: Julia Wesely