KlassikWoche 47/2023

Ein Dudel­sack­pfeifer und der Latte-Mann

von Axel Brüggemann

20. November 2023

Der GEMA-Streit der Weihnachtsmärkte, das Statement des Dirigenten Omer Meir Wellber zur Situation in Israel, Abschied von Franz Xaver Ohnesorg.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit aller­hand Abrech­nungs­kram, einer viel zu großen Latte, Abschied von und einer Nacht­kritik zum Wiener Schwanda von .

Kling-Käss­chen, Klin­ge­lin­ge­ling I

Bereits letzte Woche hatte ich über den GEMA-Streit der Weih­nachts­märkte berichtet – und bekam Leser­post. Dort wurde ich auf einen umfang­rei­chen Bericht des rbb hinge­wiesen. Der beschreibt das Problem genau: Die GEMA hat die Märkte groß­flä­chig über­prüft und rechnet inzwi­schen nicht nach Laut­spre­cher­größe, sondern nach Größe des Veran­stal­tungs­be­rei­ches ab. Das Ergebnis: sehr hohe Rech­nungen. Und ein kompli­ziertes Abrech­nungs­system: Alte Klas­siker wie Oh Tannen­baum oder Ihr Kinder­lein, kommet sind gebüh­ren­frei – es sei denn, es werden Umar­bei­tungen und Neufas­sungen gespielt, deren Urheber noch nicht seit 70 Jahren gestorben sind.

Bleibt die Frage: Warum handeln die Städte nicht eine GEMA-Pauschale aus? Und warum hat noch niemand eine GEMA-freie Weih­nachts­lied-Play­list erstellt (oder gibt es die schon? Dann bitte an mich schi­cken, und ich werde sie kommende Woche noch einmal bewerben.) 

Kling-Käss­chen, Klin­ge­lin­ge­ling II

Tja, und dann gibt es auch bei Spotify noch einen neuen Abrech­nungs­modus, der beson­ders die Musi­ke­rInnen jenseits des Main­streams in Rage bringt: Neuer­dings schüttet der Strea­ming-Riese über­haupt erst Geld aus, wenn ein Song mindes­tens 1000 Mal gehört wurde. Spotify spart dadurch wahr­schein­lich Millionen – und die Musi­ke­rInnen, die es eh schwer haben, werden weiter gegen­über den Big-Playern benach­tei­ligt.

Kai Uwes Mega-Latte

Unser Freund Kai Uwe Laufen­berg (so nennen ihn seine Freunde am Theater) steht vor dem Ende seiner Amts­zeit als Inten­dant des Wies­ba­dener Staats­thea­ters. Auch, weil seine Ära ziem­lich desas­trös war: Gene­ral­mu­sik­di­rektor  verließ entnervt das Haus, es tobt ein Dauer-Zoff mit Geschäfts­führer Holger von Berg, ein Auftritt von fand gegen den Willen der Landes­re­gie­rung statt, und dass Kai Uwe mich einst einen „Para­siten“ schimpfte, blieb eben­falls nicht ohne Konse­quenzen. Damals entschul­digte er sich mit den Worten: „Das soll nicht wieder vorkommen.“ Doch nun geht Kai Uwe wieder auf einen kriti­schen Jour­na­listen los: Latte – Korre­spon­denz mit einem Redak­teur heißt das Programm, das er ankün­digt, gemeint ist der kriti­sche und recher­chie­rende Kollege des Wies­ba­dener Kuriers. Das Theater verspricht „ein Sitten­bild unserer heutigen Zeit sowie der scheinbar über­wun­denen Corona-Krise und den Zustand der Hessi­schen Landes­haupt­stadt Wies­baden.“ Andere vermuten eher eine öffent­liche Demü­ti­gung eines Kriti­kers. Will Kai Uwe die Pres­se­frei­heit durch die Kunst­frei­heit austreiben? Jour­na­lis­tInnen in ganz Deutsch­land zeigen sich scho­ckiert, auch die FAZ hat klar Posi­tion bezogen.

Ich habe bei Hessens Minis­terin für Wissen­schaft und Kunst, , nach­ge­fragt. Ihre Antwort (hier ganz zu lesen) wurde inzwi­schen in vielen Medien zitiert und lautet zusam­men­ge­fasst: „Art und Weise der Ankün­di­gung lassen ein frag­wür­diges Verständnis des Verhält­nisses von Kunst- und Pres­se­frei­heit befürchten. Auch nur den Eindruck zu erwe­cken, die Pres­se­frei­heit mit der Auto­rität eines Inten­danten infrage zu stellen, schä­digt aus Sicht der Träger den Ruf des Staats­thea­ters, da dies als Versuch einer Einschüch­te­rung gedeutet werden könnte. (…) Die ersten öffent­li­chen Reak­tionen lassen befürchten, dass schon die Ankün­di­gung der Veran­stal­tung geeignet ist, dem Ansehen des Staats­thea­ters Schaden zuzu­fügen. Kunst­mi­nis­terin Angela Dorn und Ober­bür­ger­meister Gert-Uwe Mende haben dem Inten­danten in einem gemein­samen Schreiben mitge­teilt, dass sie erwarten, dass er die aufge­zeigten Grenzen mit Blick auf seine Verant­wor­tung für das Ansehen des Staats­thea­ters und zum Schutz der Kunst­frei­heit vor Miss­brauch beachtet.“ Die Muster ähneln sich: Bedenken, eine Mahnung und leises Drohen – das hat Problem-Inten­dant Kai Uwe noch nie beein­druckt. Der Image­schaden, den seine Amts­zeit hinter­lässt, trifft nicht nur das Theater, sondern den Kultur­be­trieb und das öffent­liche Bild seines Berufs­standes an sich. Einziger Trost: Es ist nicht davon auszu­gehen, dass Kai Uwe in Deutsch­land noch einen besseren Job bekommen wird – viel­leicht suchen sie in Sotschi ja noch einen Regis­seur. 

Russ­land-Gott Gergiev

Nach Veröf­fent­li­chung der Zypern-Papiere zeigt sich, dass man den Einfluss Russ­lands auf Kultur und Sport in Europa gar nicht über­schätzen kann. Selbst der für ARD und ZDF tätige Jour­na­list und Buch­autor Hubert Seipel wurden mit 600.000 Euro bedacht. Als Autor dieses News­let­ters macht mich das beson­ders wütend. Es ist schließ­lich nicht schwer, derar­tige Gelder einfach abzu­lehnen – und unab­hängig zu bleiben. Ich kenne das aus eigener Erfah­rung. Einen von Gazprom mitfi­nan­zierten Film habe ich natür­lich bereits nach der Anne­xion der Krim durch Russ­land ausge­schlagen, ebenso wie jour­na­lis­ti­sche Projekte unter Regie­rungs­be­tei­li­gungen von AfD oder FPÖ. Man muss dafür einfach nur Nein sagen!

Und, ja, es ist viel­leicht mal ganz wichtig, zu sagen, dass der Druck auf kriti­sche Jour­na­lis­tInnen inzwi­schen mindes­tens so groß ist wie die Beloh­nung für Kolle­gInnen, die mit dikta­to­ri­schen Systemen koope­rieren. Gerade deshalb war es selten so wichtig, stand­haft zu bleiben, wie in diesen Tagen. Doch für viele scheint das Mitspielen in Macht­sys­temen offen­sicht­lich inter­es­santer zu sein. beför­derte den lini­en­treuen Musiker Valery Gergiev gerade. Der ehema­lige Chef­di­ri­gent der Münchner Phil­har­mo­niker soll nicht nur das Mari­inski-Theater in St. Peters­burg leiten, sondern auch das Bolschoi-Theater in Moskau. Damit wird er Wladimir Urin ersetzen. Der fiel nach dem völker­rechts­wid­rigen Angriff Russ­lands auf die Ukraine beson­ders durch seine libe­rale und kriti­sche Haltung auf. 

Perso­na­lien der Woche

Diri­gent hat im Hamburger Abend­blatt ein starkes State­ment zur Situa­tion in Israel vorge­legt. Seine Haupt­bot­schaft: „Wir müssen für eine Zukunft ohne die Hamas und ohne Netan­jahu kämpfen.“ +++ Pianist Igor Levit über­legt auf Grund des Anti­se­mi­tismus in Deutsch­land, auszu­wan­dern. Sein Konzert gegen Anti­se­mi­tismus mit Wolf Bier­mann, Joana Mall­witz, Dunja Hayali und wird in der ARD-Media­thek über­tragen. +++ Das Chicago Symphony Orchestra bestreitet sein Jahr mit einem 1,4‑Millionen-Defizit. Das berichtet Norman Lebrecht auf seiner Seite.

Ich freue mich für die litaui­sche Diri­gentin Giedrė Šlekytė. Ich habe sie zum ersten Mal bei den Wohn­zim­mer­kon­zerten der Wiener Sympho­niker getroffen. Sie gehört zu jener Gene­ra­tion von Diri­gen­tInnen, die nichts mehr behaupten müssen, sondern einfach diri­gieren dürfen. Und das macht sie ziem­lich souverän. Nachdem die kommende USA-Tournee der Staats­ka­pelle Berlin absagen musste, springt Šlekytė (neben und Yannick Nézet-Séguin) ein und postet ihre Freude mit den herz­er­fri­schenden Worten: „I mean … Pinch me!“ +++ In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? spre­chen Doro und ich über Joana Mall­witz und viele andere Themen der Klassik-Woche. Viel Spaß beim Hören.

Abschied von Franz Xaver Ohnesorg

Ich glaube, wir alle aus der Klassik-Branche kennen die Anrufe von Franz Xaver Ohnesorg. Gern am frühen Morgen, gern am Handy und meist: mit einer „ganz span­nenden Sache“. Ein Roboter, der Blumen beim Klavier­fes­tival Ruhr vergibt, das Lineup des nächsten Festi­vals – in der Regel Super­la­tive des Tasten­in­stru­ments. Oder er rief einfach nur zum Small­talk an, um uns am Ende einzu­laden, oder nein: Uns zu erin­nern, dass er uns erwartet – bei seinem Festival. Zu Weih­nachten verschickte er Blöcke und Stifte vom Klavier­fes­tival Ruhr, stets mit launigem, hand­schrift­li­chen Gruß. Und das beschreibt ihn wahr­schein­lich am besten: seine groß­zü­gige Hand­schrift. Franz Xaver Ohnesorg war ein Hand­schlag-Impres­sario. Einer, der das Zwischen­mensch­liche als Geschäfts­grund­lage verstand. Für den Musi­ke­rinnen und Musiker Freunde waren und wir Kritiker streit­bare Geister, mit denen man keine Meinungs­ver­schie­den­heit nicht aus dem Weg schaffen konnte. Seinen ersten Coup landete er als Orches­ter­di­rektor der Münchner Phil­har­mo­niker, als er – zu aller Über­ra­schung – verpflich­tete.

In den USA, an der Carnegie Hall kam man mit seiner Hemds­ärm­lig­keit nicht ganz so gut klar. Also ging Ohnesorg zu den Berliner Phil­har­mo­ni­kern, wickelte die schwie­rige Schluss-Ära von ab und holte , bevor er selber ging – über die Gründe wurde Still­schweigen verein­bart. Ich persön­lich kann nur sagen: Selbst als ich bei der Welt am Sonntag kriti­sche Töne anschlug, war Ohnesorg stets ein Gentleman. Viel­leicht, weil er vor allen Dingen eines war: ein Menschen- und Musik­lieb­haber. Das sah man beim Klavier-Festival Ruhr. Allein, wie gern die großen Pianisten zu ihm kamen (siehe Foto). Und dann das Jugend­pro­jekt, das er mit viel Kraft und Wollen in Duis­burg-Marxloh initi­ierte. Franz Xaver Ohnesorg: ein Mensch, der Menschen verführen wollte – für seine Leiden­schaft. Und das auch tat. Er hatte selbst die Größe, seinen eigenen Abschied einzu­leiten, die Über­gabe an Katrin Zagrosek gründ­lich vorzu­be­reiten. Er hatte sich selber schon ein Abschieds­kon­zert zusam­men­ge­stellt: Martha Arge­rich, Lang Lang, , . Es wird nun sein Gedenk­kon­zert. Wie sehr hätte man ihm gewünscht, sein eigenes Festival als begeis­terter Stamm­gast zu besu­chen. Franz Xaver Ohnesorg starb am 17. November voll­kommen über­ra­schend mit 75 Jahren. Nicht nur seine Anrufe werden uns fehlen. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier – ich war vorges­tern bei der Première von Jaromír Wein­ber­gers Schwanda, der Dudel­sack­pfeifer. Regis­seur Tobias Kratzer hat das Märchen um den Dudel­sack­pfeifer, seine Frau und den Räuber Babinsky in ein Ambi­ente von Schnitz­lers Traum­no­velle und die Film­äs­thetik von Eyes Wide Shut gegossen. Eine sinn­volle Idee: Die Werke entstanden zur glei­chen Zeit und handeln von Eifer­sucht, eroti­scher Sehn­sucht und vom Ausloten der Grenzen einer Ehe. Alles beginnt bei Kratzer in einem IKEA-Ehe-Höllen-Ambi­ente: Babinsky hat es sexuell sowohl auf Schwanda als auch auf seine Frau Dorota abge­sehen – mit der er zur Ouver­türe, man muss das so sagen: fickt. Auslöser dafür, dass das Ehepaar nun durch Sex-Welten aus Masken-Erotik, SM-Kellern und Gay-Visionen torkelt. Es gibt viele offene Hosen­ställe an diesem Abend, aber scho­ckieren tut das nicht mehr – und erregen eigent­lich auch nicht. 

Warum berührt Kratzer uns nicht mehr so seelen­tief wie in seinem genialen Bayreuth-Tann­häuser? Viel­leicht weil er sich selber inzwi­schen näher kommt als seinen Charak­teren? Und weil auch seine Side-Kick-Videos nicht mehr so tief ausge­ar­beitet sind? Kein Toter bei Burger King, der die Hand­lung auf den Kopf stellt wie in Bayreuth, sondern zwei Jungs am Würs­tel­stand mit zwin­kernden Transen oder irgend­welche Massen­or­gien. Das sind visu­elle Quickies statt blei­bender Opern-Eindrücke. 

Der desi­gnierte Chef­di­ri­gent der Wiener Sympho­niker, , bril­liert bei seinem Opern-Einstand in Wien, setzt bei seinem tsche­chi­schen Lands­mann Wein­berger aber haupt­säch­lich auf das Derbe, das Volks­mu­si­ka­li­sche, weniger auf die psycho­lo­gi­sche Seelen­ro­mantik. Stimm­ge­waltig und spiel­freudig das Sänger­ensemble: als lyrisch beweg­li­cher Schwanda, als schmie­riger Testo­steron pulsie­render Babinsky und Krešimir Stražanac als Teufel aus einer abge­fuckten Keller-Sex-Kneipe. Von Vera-Lotte Boecker könnte sich noch drama­ti­sches Spiel abschauen – abge­sehen von ihrer starken, großen und pathe­tisch verzwei­felten Vokal­k­raft. 

Am Ende war all das mehr Polka als Jazz-Suite, mehr Sex als Sehn­sucht, kurz: mehr Tom Cruise als Sky du Mont. Eyes Wide Shut ist ein Film­klas­siker, wirkt heute aller­dings lang­weilig. Dieser Schwanda wird sicher­lich kein Opern­klas­siker – aber lang­weilig ist er selten.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

brueggemann@​crescendo.​de 

Fotos: Matthias Baus