KlassikWoche 52/2020

»Ich entziehe Ihnen das ›Du‹«

von Axel Brüggemann

21. Dezember 2020

Die misslungene Feier von Beethovens 250. Geburtstag, Streit um den Intendantenposten beim Operettenfestival in Mörbisch, Tony Blair als Opernfigur

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

2020 neigt sich dem Ende entgegen – zum Glück! Aber noch ist keine Ruhe einge­kehrt: Zoff in Bayreuth, Unklar­heiten in Mörbisch, und Beet­ho­vens Geburtstag – ziem­lich in den Sand gesetzt.

PERSONA NON GRATA IN BAYREUTH

Dr. Sven Fried­rich, Leiter von Haus Wahn­fried und damit inof­fi­zi­eller Wagner-Grals­hüter, ist, ja wie soll ich das sagen, so etwas wie ein Vorzeige-Konser­va­tiver: Provo­kant, gern auf Angriff, mit aller­hand klugen Zwischen­tönen und humor­vollem Zynismus. Kurz gesagt: ein cooler Typ, der aber klare Grenzen zieht, gerade wenn es um die Vergan­gen­heit geht, um faschis­ti­sches Gedan­kengut, oder wenn das Braune Denken zum Leit­motiv für irgend­einen Wagne­rianer zu werden droht. Nun hat der Pianist und Wagner-Erklärer Stefan Mickisch den Rubikon über­schritten, als er sich auf seiner Face­book-Seite mit Hans Scholl, dem Wider­stands­kämpfer der Weißen Rose, verglich.

Fried­rich schrieb eine öffent­liche Erwi­de­rung, die unbe­dingt lesens­wert ist: „Herr Stefan Mickisch! Wir kennen uns jetzt seit gut 20 Jahren. Ich habe Sie als humor­vollen und witzigen Inter­preten und Erklärer Wagners kennen und schätzen gelernt. Aber was in aller Welt ist Ihnen bloß zu Kopfe gestiegen? (…) Eigent­lich hatten Sie da schon den Rubikon über­schritten. Der unten zitierte Vergleich ist nun nicht einmal mehr geschmacklos, sondern wider­wärtig! Indem Sie die Worte Hans Scholls im gegen­wär­tigen Zusam­men­hang der Corona-Pandemie zu Ihren eigenen machen, schänden Sie nicht nur das Andenken eines der wenigen Zeit­ge­nossen im 20. Jahr­hun­dert, auf die wir stolz sein können, sondern miss­brau­chen ihn auch noch als vermeint­li­chen Zeugen für den geis­tigen Abschaum der Gegen­wart, mit dem Sie sich so gemein machen und in eine Reihe stellen. Und Sie stellen damit unsere Regie­rung auf eine Stufe mit dem NS-Régime. Damit ist das Maß für mich persön­lich endgültig voll!“ Und dann schreibt Sven Fried­rich: „In einer Mischung aus Trau­rig­keit und Zorn entziehe ich Ihnen hiermit (und übri­gens zum ersten Mal in meinem Leben) das vertrau­liche „Du“ und erkläre Sie zur persona non grata im Haus Wahn­fried!

BLAMAGE BEET­HOVEN

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

In den letzten Tagen konnte man sich denken, zum Glück ist Beet­hoven schon einige Jahre tot und musste die Feier­lich­keiten zu seinem 250. nicht mehr miter­leben. Zufällig habe ich die Einschät­zung von Uwe Fried­rich im Deutsch­land­funk gehört, der voll­kommen zu Recht anmerkte, dass Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­meier doch wenigs­tens einen Reden­schreiber haben müsse, der irgend­eine Ahnung von klas­si­scher Musik und der Befind­lich­keit klas­si­scher Musiker in der Krise haben sollte. Denkste! Statt­dessen pala­verte er vom „Lebens­mittel Kultur“, und zu Beet­hoven fielen ihm nichts als Plat­ti­tüden ein, die so wenig neues Licht auf den Kompo­nisten warfen wie das gelang­weilte Dirigat der „Fünften“ von mit dem in dem durch Glüh­birnen zum Zirkus­zelt entstellten Opern­haus in .

Das also war der Höhe­punkt der Beet­hoven-Feier­lich­keiten? Kein Geburtstag, sondern ein Trau­er­spiel! Und dann noch das: Ich bin grund­sätz­lich heute-journal- und Claus-Kleber-Fan, aber wer bitte hat denn am 17. Dezember die Mode­ra­tion zum Beet­hoven-Jubi­läum verschru­belt? Da wurde unter anderem vom „Geburts­tagsboy“ Beet­hoven gequatscht. Offen­sicht­lich vertraut man der Klassik beim nicht mehr und entschul­digt sich inzwi­schen für jeden Musik-Beitrag, als würde man einen Porno ohne Einschalt­quote senden: „Die Mond­schein­so­nate ist so oft gespielt worden, dass es einem schon auf die Nerven geht“, wurde dem Kleber da in den Mund gelegt, „aber nicht, wenn Herr Levit sie spielt.“ Und dann spielte der Herr Levit die Mond­schein­so­nate, quasi als Begleit­musik für einen nichts­sa­genden Beitrag, in dem auch der Herr Levit nicht zu Wort kam. Mensch, , es ist gut, für irgend­welche Bäume zu kämpfen. Aber hättest Du 2020 nicht auch gegen dieses mediale Trau­er­spiel protes­tieren und einen derar­tigen Beitrag einfach mal boykot­tieren können?

KEIN WITZ: CURR­ENTZIS MIT GOTT­SCHALK 

Teodor Currentzis und Thomas Gottschalk

Wenn wir irgend­etwas im Jahre 2020 gelernt haben, dann, dass es immer noch schlimmer geht! Was, lieber SWR, habt Ihr Euch denn dabei gedacht? Das Neujahrs­kon­zert der ARD wird dieses Mal den Diri­genten und den Enter­tainer Thomas Gott­schalk zeigen, bezie­hungs­weise ein Best-of der Curr­entzis-Programme aus der Konserve mit Talk (die spielen öffent­lich-recht­lich auf )? Ist die ARD wirk­lich so verzwei­felt, dass sie dem ZDF ihren OPUS-Klassik-Mode­rator abluchst? Es passiert selten: Aber mir fehlen die Worte.

MÖRBI­SCHE UNKLAR­HEITEN

Haben die Fest­spiele im öster­rei­chi­schen Mörbisch nun zwei Inten­danten? Der amtie­rende Chef, Peter Edel­mann, pocht in der Wiener Zeitung auf die Erfül­lung seines Vertrages, nachdem das TV-Mann Alfons Haider als Gene­ral­inten­danten einge­setzt hat, zuständig für das Operet­ten­fes­tival Mörbisch und eine Opern­reihe namens „“ in Jenners­dorf. Haider, 63-jähriger Bühnen­dar­steller und Mode­rator, soll das neue Amt (de facto eine Doppel­in­ten­danz) ab Januar bekleiden. Zwar steht Haider mit der leichten Muse auf Du und Du, hat das Open Air Festival mehr als zehn Sommer mit Musi­cals bespielt. Nach Jahren des soliden Stadt­platzg­la­mours und manch künst­le­ri­schem Bauch­fleck („C’est la vie“) trennte sich die Stadt aller­dings aus Kosten­gründen vom Inten­danten und dem Musi­cal­fach. Mich erreichten zahl­reiche Zuschriften von Künst­lern, die über diesen Schritt nicht infor­miert wurden, und die nicht wissen, ob die abge­schlos­senen Verträge Bestand haben. Sicher ist, dass das Burgen­land seine kost­spie­ligen Kultur­be­triebe in Zukunft wohl ähnlich orga­ni­sieren will wie das Land mit der Kultur-Gesell­schaft NÖKU. 

PERSO­NA­LIEN DER WOCHE

Opernhaus Stuttgart

Kennen Sie Ulrich Fuchs? Sollten Sie viel­leicht – der deut­sche Kultur­ma­nager und Dozent mit Wohn­sitz tingelt nach Stationen als Kultur­haupt­stadt-Manager und Jury­vor­sit­zender als oberster Nach­hil­fe­lehrer für Bewer­ber­städte über den Konti­nent und berät Bewerber-Städte. Die SZ beschreibt seine Machen­schaften in einem span­nenden Text. +++ Nun kehrt Ex-Premier­mi­nister Tony Blair (67) zurück auf die Bühne – aller­dings nur als Haupt­figur einer Oper. „Tony! (A Tony Blair Rock Opera)“ soll vom 4. bis 6. Februar im Londoner Turbine Theatre gezeigt werden. Das Stück solle Blairs Leben „schnell und locker mit den Fakten“ erzählen, teilte das Theater am Montag mit.

Nach mehreren Debat­ten­runden hat sich das Bürger­forum zur Sanie­rung der Staats­oper in für den umstrit­tenen Umbau des denk­mal­ge­schützten Gebäudes ausge­spro­chen. Der Litt­mann-Bau solle die zentrale Opern- und Ballett­spiel­stätte im Herzen von Stutt­gart bleiben, heißt es in einem Votum, das Vertreter des mit 57 Zufalls­bür­gern besetzten Gremiums am Mitt­woch an Poli­tiker von Stadt und Land über­gaben. +++ bleibt weitere fünf Jahre Chef­di­ri­gent des RIAS Kammer­chors in . Sein Vertrag ist bis Ende Juli 2027 verlän­gert worden. +++ Für alle, die es inter­es­siert: Thilo Komma-Pöllath vom Bad Blog hat die Causae Igor Levit, Helmut Mauró und anderer Prot­ago­nisten aus wie Sieg­fried Mauser noch mal spek­ta­kulär aufge­drö­selt. +++ Ernst-Moritz Lipp, Vorsit­zender des Stif­tungs­vor­stands der Kultur­stif­tung Fest­spiel­haus teilte mit, dass Förderer und der Freun­des­kreis mehr als sechs Millionen Euro aufbrachten, um das von Corona gebeu­telte Haus zu unter­stützen. Allein durch Spenden von Eintritts­karten seien 500.000 Euro zusam­men­ge­kommen. +++ Der große Chor­leiter der „Turn­vater Jahn des Gesangs“, Gott­hilf Fischer, ist gestorben, es gab viele Nach­rufe, u.a. in der FAZ und beim Deutsch­land­funk.

UND SONST SO, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ich bin ja selber in die Auffüh­rung der Zehnten Beet­hoven-Sinfonie von der Deut­schen Telekom invol­viert, die durch Künst­liche Intel­li­genz kompo­niert wird. Das hält mich aber nicht davon ab, mich über diesen bitter­bösen Text von Drama­tiker Moritz Rinke in der FAZ zu freuen: „Ich stelle mir vor, wie Beet­hoven dann am ersten Tag auf ein Bankett der Deut­schen Telekom gerät, kurz vor dem Ausbruch von Corona. Er sieht Menschen, zu seiner Enttäu­schung fast nur Männer, die sich perma­nent die Hände schüt­teln (…) Die Männer sagen sogar Telekom und Beet­hoven in einem Atemzug. Irgend­wann tippt Beet­hoven einem Telekom-Mann auf die Schulter: ‚Entschul­digen Sie, Beet­ho­vens Zehnte ist gar nicht voll­endet, da gibt es nur ein Notiz­buch, ein rotes, mit Skizzen, mit Frag­menten.‘…“ Weiter­lesen unbe­dingt empfohlen!

Zu Weih­nachten schicke ich Ihnen nun noch einen Gruß aus meiner Heimat­stadt: hier der Solo­hor­nist der , Matthias Berkel, mit seiner Version von „Mary, did you know“.

Ich wünsche Ihnen eine besinn­liche Weih­nachts­zeit einen guten Rutsch, danke allen, die mich 2020 an dieser Stelle begleitet haben, Freunde und Kritiker, und mache nun zwei Wochen Pause. In der Zwischen­zeit werden meine Kolle­gInnen von CRESCENDO Sie jeden Montag mit aktu­ellen Strea­ming-Tipps der Platt­form FOYER​.de unter­halten. Und am 11. Januar lesen wir uns dann an dieser Stelle wieder. 

Bis dahin: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

P.S.: Für die ganz Starken unter Ihnen, die glauben, man muss erst ins Dschun­gel­camp, um ganz unten anzu­kommen, oder Plat­ten­la­bels würden ihre Sänger im Zwei­fels­fall schützen, klicken Sie (ACHTUNG, ICH HABE SIE GEWARNT!!!!) einfach diesen Link.