Klaus Heymann
»Letztlich sind wir heute viel profitabler«
28. November 2019
CRESCENDO-Verleger Winfried Hanuschik im Gespräch mit Klaus Heymann, dem Gründer des weltweit agierenden Plattenlabels Naxos, über die Zukunft der Musikindustrie
Klaus Heymann ist ein Urgestein der Musikindustrie. Zum Verständnis ein kurzer Lebenslauf: Heymann studierte Romanistik und Anglistik in Frankfurt und London, an der Sorbonne in Paris und schließlich an der Universität in Lissabon, brach jedoch sein Studium ohne Abschluss ab.
Sein Studium finanzierte sich Klaus Heymann als Tennislehrer.
Nebenbei gesagt: Verdient hatte er es sich als Tennislehrer. Für eine amerikanische Wochenzeitung ging er schließlich im Jahr 1967 als Anzeigenverkäufer nach Hongkong, um deren Asien-Vertrieb zu organisieren. Nebenbei baute er ein eigenes Versandgeschäft für Uhren, Kameras und HiFi-Geräte auf.
Nachdem er die japanische Violinistin Takako Nishizaki geheiratet hatte, gründete er für sie 1982 das Plattenlabel „Marco Polo“, für das seine junge Frau selten gespielte Werke aufnahm.
1987, inzwischen 50-jährig, startete er noch mal durch: mit der Gründung des Start-up-Unternehmens Naxos. Und gilt damit als Erfinder des „Budget“-Segments in der Klassik: Bei Naxos kosteten CDs nur die Hälfte! 1999, als „online“ für die meisten Menschen noch Hokuspokus war, gründete er die weltweit erste Website für Besprechungen von Klassikalben, „Classics Today“, die er später verkaufte. Der Grund dafür: die Angst, die Nutzer würden den Rezensionen nicht glauben, wüssten sie, dass die Firma zu seiner Plattenfirma gehört.
Es war das Jahr 1996, als er mit www.hnh.com klassische Musik erstmals per Streaming zugänglich machte. Daraus entwickelte er 2002 die „Naxos Music Library“ mit inzwischen über 147.000 Titeln. Zum Vergleich: Die vermeintlichen Entrepreneure des Musikstreaming-Dienstes „Spotify“ gingen 2008 online, sechs Jahre nach Heymann.
Seit über 50 Jahren lebt Klaus Heymann in Hongkong und Neuseeland. Und es gibt definitiv nur wenig Menschen, die im internationalen Musikmarkt – insbesondere in Asien – so gut vernetzt sind wie er und einen wirklich kosmopolitischen Blick auf die Welt der klassischen Musikwirtschaft haben.
Winfried Hanuschik: »Ich habe großen Respekt vor Klaus Heymanns Lebensleistung: als Mensch und als Unternehmer. Und ich freue mich immer, wenn ich ihn treffe: von Mensch zu Mensch und von Unternehmer zu Unternehmer.«
Warum spielen die großen Plattenfirmen im Musikvertrieb heute keine Rolle mehr, sondern „Quereinsteiger“ wie Apple, Amazon und Spotify?
In der Frühzeit des Downloads haben die großen Plattenfirmen, die „Majors“, irgendwie versucht, ihre eigenen Plattformen aufzubauen. Das hat alles nicht funktioniert, bis auf einmal Apple mit iTunes kam – da konnte man auf einmal alles finden. Die Hörer wissen ja meist gar nicht, bei welchem Label ein Künstler ist. Die suchten etwa nach „ABBA“, wurden zum Beispiel bei Warner nicht fündig und gingen darum nicht mehr auf deren Seite. Bei iTunes aber konnte man auf einmal nahezu jeden Song oder jedes Stück finden. Darum wurde es so ein Erfolg. Letztlich ist das ja auch der große Vorteil unserer Naxos Music Library (NML): Mittlerweile haben wir fast alles im Bereich der klassischen Musik.
Klaus Heymann: »Ich schätze, dass wir in drei Jahren nur noch zehn Prozent aller Alben im Presswerk herstellen. Alles andere wird manufacturing on demand.«
Wie geht es mit der klassischen CD weiter?
Die CD wird es auch in zehn Jahren noch geben, weil viele Hörer, Künstler, Orchester und auch viele Kritiker das physische Produkt haben wollen. Die Kritiker, vor allem die älteren, nehmen immer noch keinen Download an, noch nicht einmal in „High Resolution“. Sie wollen immer noch eine CD in der Hand haben. Auch Konzertverkäufe, Geschenke – all das wird weiterlaufen. Aber ich schätze, dass wir in drei Jahren nur noch zehn Prozent aller Alben im Presswerk herstellen. Alles andere wird dann „manufacturing on demand“, sozusagen ein digitales Lager mit 50.000, 100.000 Titeln auf einem Server. Kommt dann ein Auftrag, drückt man auf einen Knopf, und die CD wird in Einzelanfertigung hergestellt, inklusive Print, Cover, Booklet, Inlay Card. Wir haben das jetzt in den USA und werden uns auch in Deutschland und Japan die Maschinen anschaffen. Das rechnet sich, weil die kostenintensive Pressung und Bevorratung von Millionen CDs und der Versand vom Zentrallager in München in die ganze Welt entfällt.
Klaus Heymann: »Im Bereich der klassischen Musik spielt das Streaming in Deutschland eine untergeordnete Rolle.«
Machen Streaming-Angebote die CD kaputt?
Ich habe mit vielen Label-Chefs gesprochen, die alle sagen: „Ich investiere so viel in diese Aufnahme, und dann steht sie im Internet – das zerstört meine physischen Verkäufe.“ Darum hatten wir ursprünglich eine „Quarantäne“: Brachten wir eine CD neu heraus, haben wir sie erst drei Monate später im Internet zur Verfügung gestellt. Wir haben das alles getestet. Im Ergebnis machte es bei den Verkäufen kaum einen Unterschied. Anscheinend sind das unterschiedliche Kunden: Der CD-Käufer ist ein anderer Kunde als der Streamer, der sich Playlists anhört. Die Neugierigen, die nur mal eben reinhören wollen, die verliert man, die können ihre Neugierde jetzt auf Spotify oder Apple Music befriedigen. Aber die anderen kaufen trotzdem, weil ihnen der Besitz, die Soundqualität und das haptische Erlebnis einer CD wichtig sind. Im Bereich der klassischen Musik spielt das Streaming mit ca. 20 Prozent in Deutschland aktuell noch eine untergeordnete Rolle, aber im Pop-Bereich sind die Einnahmen aus Streaming inzwischen höher als die aus CD-Verkäufen.
Klaus Heymann: »Für die unabhängigen Labels ist die Music Library die größte Einnahmequelle.«
Streaming ist für den Kunden nur ein anderer Zugangsweg zur Musik. Bequem, sogar auf dem Handy, überall und jederzeit mit einem Fingertipp verfügbar – wenn die Internetverbindung schnell genug ist. Bei manchen Anbietern inzwischen auch in hoher Wiedergabequalität. Welche Rolle spielen die verschiedenen Streaming-Portale?
Für die unabhängigen Labels ist die Music Library immer noch die größte Einnahmequelle. Dann folgen Spotify, Apple Music mit iTunes und Amazon Prime. Bei den Internet-Radios sind Pandora und iHeartRadio unsere größten Kunden. Und von den kleineren Anbietern läuft Qobuz noch ganz gut.
Was bekommen Label und Künstler von den Streaming-Portalen?
Statt ca. zehn Euro pro verkaufter CD bekommen wir von Spotify etwa 0,4 Cent und bei Apple Music 0,7 Cent pro Track. Die Naxos Music Library zahlt besser, etwa sechs Cent pro Track. Das kommt daher, dass die anderen Anbieter sowohl Pop als auch Klassik anbieten, während bei der Naxos Music Library die Klassik unter sich bleibt. Da Klassikhörer gezielter hören und die Musik meistens nicht den ganzen Tag nebenbei laufen lassen, bleibt mehr Erlös pro Track.
Das heißt also, jemand müsste ein Album, je nachdem wie man rechnet, etwa 500-mal von vorn bis hinten durchhören, bis das einem einzigen CD-Verkauf entspricht. Bei aller Liebe, aber das ist doch eher die Ausnahme… Wie soll man da als Künstler und Plattenfirma von den Streaming-Einnahmen überhaupt noch eine Aufnahme finanzieren?
Weil viel mehr Geld reinkommt aus Ländern, von denen wir nie Geld gesehen haben, weil es dort gar keinen Plattenhandel in dem Stil gab, wie wir das in Deutschland für normal halten: aus Brasilien, aus Argentinien, aus Chile, vom Mittleren Osten, aus Südostasien. Wir verdienen damit so viel mehr, dass wir neulich sogar darüber gesprochen haben, dass wir auch mit den Berliner Philharmonikern aufnehmen sollten, denn jetzt können wir’s uns endlich leisten. Glauben Sie mir: Davon träume ich seit Langem!
Aber man braucht halt einen Riesenkatalog, dass man wirklich alle Hörerwünsche befriedigen kann, also Playlists, die etwas Passendes anbieten. Das ist harte Arbeit. Wir haben Leute, die zum Beispiel Spotify Playlists und Musik vorschlagen. Wir haben sogar einen, der vorher bei Spotify angestellt war, angeworben. Der ist jetzt bei unserer schwedischen Niederlassung und hat das ganze Playlist-Fachliche bei denen angeleiert. Aber letztlich sind wir heute viel, viel profitabler als zu Hochzeiten von Naxos, als wir von einem Album 500.000 Stück verkaufen konnten.
Und was ist mit den traditionellen Klassik-Tonträgermärkten?
Also die USA sind immer noch die Größten, gefolgt von England, Japan, Frankreich, Deutschland, Skandinavien, glaube ich. Das Haupteinkommen generiert sich immer noch aus den großen Märkten. Aber es kommen jetzt viele kleinere Beträge dazu. Brasilien liegt jetzt bei drei Prozent. Da hat man früher null CDs verkauft.
Okay, von null auf drei Prozent, das ist eine ordentliche Menge.
Und ganz ordentliches Geld. Das kommt von den Playlists. Wenn man einen Track in eine Playlist von Spotify, Apple oder Amazon heben kann, lohnt sich das.
Es kommt also nicht auf die Verfügbarkeit in Streaming-Diensten an, sondern es zählt, was in eine Playlist kommt?
Genau. Wir haben auch eigene Playlists, teilweise mit 500.000 oder einer Million Follower. Naxos hat eine Playlist, die heißt „Piano de Fundo“, die verdient ein enormes Geld. Das ist Hintergrund-Klaviermusik.
Klaus Heymann: »Ich bin im Geschäft, um neues Repertoire und neue Künstler zu entdecken.«
Das ist kaufmännisch sicherlich erfreulich, mit Klassik in seiner Vielfalt und Qualität hat das aber nicht viel zu tun. Neue Aufnahmen kann man sich da eigentlich sparen und stattdessen um Playlist-Plätze ringen?
Nein, also ich mache das nicht so. Wir haben ja immer noch 200 neue Aufnahmen im Jahr allein bei Naxos. Zusammen sind es mit unseren anderen Labels vielleicht 350 Neuvertonungen im Jahr.
Aber warum eigentlich? Wenn sich das schlecht verkauft oder es jeder schon in einer anderen Einspielung hat?
Aber deswegen bin ich ja im Geschäft: neues Repertoire zu entdecken, neue Künstler zu entdecken. Sonst macht das keinen Spaß mehr. Mit dem immer gleichen Standardrepertoire wird’s tatsächlich schwierig, auch für Top-Künstler.
Klaus Heymann: »Zum Bruckner-Jubiläum planen wir ein Projekt mit 24 Versionen aller Bruckner-Sinfonien.«
Playlists verändern die Kunst. Wir hören kein Werk mehr, wir hören nur noch Tracks?
Natürlich ist da immer auch ein Link zum jeweiligen Album, obwohl die meisten das kaum nutzen. Außer es sind spannende Projekte und Reihen. Wir machen zum Beispiel alle 24 Versionen aller Bruckner-Sinfonien in den nächsten drei, vier Jahren für das Bruckner-Jubiläum. Solche Projekte können wir uns heute leisten, weil das Geld über’s Streaming reinkommt.
Viele renommierte Labels wurden in den letzten Jahren verkauft und produzieren nur noch eine Handvoll neuer Aufnahmen.
Die haben alle geschlafen. Sie meinten, es gehe immer so weiter: teuer produzieren und zum Hochpreis verkaufen – das geht heute einfach nicht mehr.
Aber bei Spotify, Amazon und Apple gehen doch so ambitionierte Produktionen trotzdem völlig unter?
Darum ist ja die Naxos Music Library für die Klassik so wichtig. Na gut, wir arbeiten auch schon seit 16 Jahre daran. Aber sagen wir mal so: Die Music Library selbst trägt sich eigentlich nicht. Es ist enorm teuer, so eine Plattform zu betreiben. Wir zahlen allein drei Millionen Dollar im Jahr an ein Content Distribution Network, das die Musik via Internet an die Hörer ausliefert. Dazu kommen etwa 100 Leute für die Datenpflege, Kundenservice, Entwickler und Computerspezialisten – das kostet ein Heidengeld. Aber es hilft natürlich in all den anderen Bereichen, die wir machen. Wir können uns das hauptsächlich leisten, weil wir auch sehr viele eigene Aufnahmen auf der Naxos Music Library draufhaben.
Klaus Heymann: »Man kann Yu Long als den Begründer der klassischen Musikkultur in China sehen.«
Sie waren ja schon sehr früh in China tätig – für die meisten Europäer war Asien damals noch am Ende der Welt. Welche Rolle spielt klassische Musik in China?
Zum Beispiel die Provinz Sichuan, beziehungsweise die Stadt Chengdu, möchte gern eine Zentrale für Musik sein. „Chengdu can do“ läuft da im Fernsehen. Ich kenne den Dirigenten. Das ist einer unserer Hausdirigenten, der das Orchester dort aufbaut. Der will richtig investieren. Es gibt auch immer wieder Stimmen innerhalb der Politik, die diese Hinwendung und diese Investments in die Kultur als Verwestlichung kritisieren. Man muss immer vorsichtig sein, dass nicht doch mal wieder ein Rückschlag kommt.
Oder Long Yu, der Initiator des Bejing Music Festivals…
Den kenne ich, seit er zwölf Jahre alt war. Sein Großvater ist Ding Shande, der berühmte chinesische Komponist der Langer-Marsch-Sinfonie. Die Rechte dafür hatte ich erworben, da war Long zwölf Jahre alt. Und sein Bruder, der inzwischen mein Geschäftspartner in China ist, war acht Jahre alt. So lange bin ich da schon. Man kann Yu Long wirklich als den Begründer der klassischen Musikkultur in China sehen. Die Familie ist enorm gut politisch vernetzt. Seine Mutter war mal Direktorin einer meiner Firmen. Eine gute Pianistin, sie hat auch für uns aufgenommen. Und die Tante ist Geigenlehrerin am Konservatorium in Schanghai.
Gibt’s inzwischen auch ein Publikum?
Ja, aber selten ein zahlendes Publikum. Das gibt es nur für bekannte chinesische Künstler, zum Beispiel beim Bejing Music Festival, aber was in den Provinzen stattfindet, da wird noch viel investiert. Es gibt inzwischen einen Klassik-Videokanal und 80 Orchester. 1982 gab’s nur zwei: eins in Peking und eins in Schanghai. So hat sich das entwickelt.
Welche Künstler verkaufen sich in China? Sind das die europäischen Stars oder chinesische Künstler?
Bei den Violinisten sind es Siqing Lu, Tianwa Yang, Ning Feng und der Cellist Liwei Qin. Bei den Pianisten natürlich Lang Lang, aber auch Yuja Wang. Also die chinesischen verkaufen sich wirklich sehr gut – die Chinesen sind da recht patriotisch.
Weitere Informationen zu Neuerscheinungen des Labels: www.naxos.de
Die Naxos Music Library – zum Exklusivangebot für Leser und Abonnenten der CRESCENDO PREMIUM-Ausgabe: crescendo.de