Marx Brothers, Roman Polanski u.a.
Schießen Sie auf den Pianisten!
von Stefan Sell
5. September 2019
Die inspirierende Kraft des Klaviers auf die anderen Künste. Das Klavier fand Eingang in den Film, die Literatur und sogar den Comic.
Das Klavier! Die Vielfalt des magischen Tastenkastens hat alle Künste inspiriert. Als Metapher, Symbol und Ausdrucksform. Im Film werden Pianisten ermahnt, sie sollen sich nicht in kriminelle Machenschaften hineinziehen lassen, denn ehe sie sich versehen, geraten sie in die Schusslinie ihrer Kontrahenten. Charles Aznavour macht das in Truffauts Klassiker Schießen Sie auf den Pianisten! augenfällig.
In Ein Tag beim Rennen dient Harpo Marx das Klavier auf offener Bühne als Schutzwall, müssen doch seine Verfolger verzweifelt hinter dem Bühnenvorhang zusehen, wie er „Wreckmaninoff“ spielend Taste für Taste, Bauteil für Bauteil durch die Luft wirbelt und den ganzen Konzertflügel in Grund und Boden spielt, nur um am Ende im entstandenen Chaos erneut die Flucht anzutreten. Das Klavier als Zuflucht. Doch Vorsicht! Schießen Sie nicht auf den Pianisten, denn er könnte zurückschießen. Die Musik George Antheils war im Paris der 20er-Jahre so unerhört, dass sein öffentliches Klavierspielen stets von Tumulten, Aufruhr und Skandalen begleitet war. Antheil soll stets eine Pistole bei sich getragen haben, um sich zur Not den Fluchtweg freizuschießen. Auch von Franz Liszt erzählt man, dass er mithilfe einer Pistole das scharenweise aufgeregte Publikum in Schach hielt, um sich Gehör zu verschaffen.
Stan und Ollie transportieren im Oscar-prämierten Kurzfilm The Music Box als Umzugsfirma Laurel & Hardy Transfer Co. ein elektrisches Klavier. Als Geburtstagsgeschenk gedacht, überlebt das Klavier wie ein Wunder den Transport über endlose Stufen, tausenderlei Stürze und Brunnenbäder, nur, um endlich angekommen, vom vermeintlich Beschenkten mit einer Axt kurz und klein geschlagen zu werden.
Das Piano der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion erzählt die Geschichte eines Klaviers, das sich mit einem tragischen Frauenschicksal verbindet. Ada, eine junge, verstummte Frau (Holly Hunter), legt ihren ganzen Ausdruck ins Klavierspiel. Von Schottland aus wird sie nach Neuseeland zwangsverheiratet. Das Klavier begleitet sie bis zur Ankunft, strandet von Wellen gekost und bleibt im Sande stehen. Ihr Zukünftiger sieht dafür keine Verwendung. Durch einen Gegenspieler kommt das Klavier zunächst in ihre Hände, doch letztlich wird es als Metapher für ein selbstbestimmtes Leben und die Schönheit eines eigenständigen Ausdrucks qualvoll, aber malerisch inszeniert auf den Meeresgrund sinken. In männlich dominierter Liebesbalz löst Ada zwischen Verweigerung und Hingabe eine Klaviertaste aus und verwandelt sie in einen Liebesbrief.
Ein jüdischer Musiker überlebt den Holocaust. In Erinnerung an die eigene Kindheit erzählt Roman Polanski eine wahre Geschichte: Der Pianist. „Musiker eignen sich einfach nicht zum Verschwörer. Sie sind zu musikalisch“, scherzt ein Freund des Pianisten. Tatsächlich besitzt Władysław Szpilman (Adrien Brody) weder das Talent zum Widerstandskämpfer noch zum Mitläufer. Er kann nur Klavier spielen, und das rettet ihm das Leben.
In der Literatur erfahren wir vom 29-jährigen Autor Beka Adamaschwili aus Georgien: „Das Leben ist wie das Klavier eines Menschen, der in den neunten Stock umzieht – schwer, aber tragbar.“ Das meint zumindest seine Figur Pierre, ein erfolgloser Schriftsteller, in dem Roman Bestseller.
Das Klavier selbst ist Protagonist im autobiografischen Roman von Avner und Hannah Carmi, Das unsterbliche Klavier. Wie der Untertitel verrät, ist es „die abenteuerliche und wahrhaftige Geschichte von dem verschollenen und wiedergefundenen Siena Klavier“, das „manchmal wie eine Harfe und manchmal wie ein Spinett und dann wie ein ganzes Orchester klingt“. Avner Carmi war über seinen Großvater zum Klavierbau gekommen und entwickelte später als Klavierstimmer eine eigene Art und Weise, die Saiten in Stimmung zu bringen. Das Siena-Piano wurde aufgrund seines einzigartigen Klangs die „Harfe Davids“ genannt und soll aus den Holzsäulen eines Tempels von König Salomon gebaut worden sein. Es hat eine so zauberhaft barocke Auskleidung, dass man es fast für eine Skulptur halten könnte. 1867 spielte darauf Camille Saint-Säens im italienischen Pavillon der Weltausstellung in Paris, und ein Jahr später in Rom ließ Liszt, vielleicht wieder bewaffnet, auf dem Siena-Klavier seine Campanella erklingen.
In Tolstois Erzählung Kreutzersonate wird das Klavier zum Objekt der Eifersucht. Vermeintlicher Held der Geschichte ist Posdnyschew, der in rasender Eifersucht seine Frau ermordet. „Sie beschäftigte sich wieder angeregt mit dem Klavier, das sie vorher völlig gelassen hatte. Und damit fing alles an.“ Als sie den Geiger Truchatschewski kennenlernt, mit ihm regelmäßig musizierend gemeinsam Beethovens Kreutzersonate spielt, ist das Grund genug für Posdnyschew, zum Mörder zu werden.
Lotte Kinskofer berichtet in zwei wundervollen Kinderbüchern von einem Klavierling. Ein kleines Wesen namens Crescendo lebt als Klavierling in einem Klavier. Crescendo isst ausschließlich Töne und kann falsche Töne aussortieren. Je mehr auf einem Klavier gespielt wird, desto besser geht’s dem Klavierling.
Am 7. Februar fand sich Mein blaues Klavier von Else Lasker-Schüler in der Neuen Zürcher Zeitung, die ersten vier Zeilen lauten:
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür, Seitdem die Welt verrohte.
Else Lasker-Schüler lebte in Zürich im Exil. Sie hatte Deutschland als Jüdin verlassen, weil die Nationalsozialisten dabei waren, die Welt zu verrohen. Das Klavier als Bild ihres Leids. Aus einem Tagebucheintrag geht hervor, dass sie als Kind ein blaues Klavier hatte: „Ich besitze alle meine Spielsachen von früher noch, auch mein blaues Puppenklavier.“
Wilhelm Busch war dagegen der Meinung, das Klavier selbst habe viel zu leiden:
Ein gutes Tier Ist das Klavier, Still, friedlich und bescheiden, Und muß dabei Doch vielerlei Erdulden und erleiden.
Zu den bekanntesten amerikanischen Comics zählen die Peanuts. Unter ihnen gibt es einen einzigartigen Pianisten, der nichts mehr liebt als Beethoven. Auch wenn er nur ein Kinderklavier mit aufgemalten schwarzen Tasten hat – Schroeder gibt alles, und vor lauter Hingabe bekommt er vom ständigen Liebeswerben Lucys gar nichts mit. Es vergeht kein Jahr, an dem er nicht den 16. Dezember würdigt, Beethovens Geburtstag. Als er ihn dann doch einmal vergisst, ist er am Ende.
Eine wundervolle Klaviergeschichte vermählt Orient und Okzident. Zeichnend erzählt wird sie von der aus Beirut stammenden Künstlerin Zeina Abirached in ihrer Graphic Novel Piano Oriental. Sie setzt darin ihrem Urgroßvater ein Denkmal. Abdallah Kamanja erfand ein zweisprachiges Klavier, das mittels eines Pedals auch Vierteltöne spielt und so in sich zweierlei Kulturen vereinigt. Bei all der Schießerei zu Beginn ist dies vielleicht die schönste Zukunftsvision, die ein Klavier auslösen kann.