Konstantia Gourzi
„Wer ein Musikstück entdeckt, entdeckt sich selbst.“
von Maria Goeth
8. August 2021
Konstantia Gourzi ist Komponistin, Dirigentin und Pädagogin – vor allem aber ist sie eine unermüdliche Wegbereiterin für die Neue Musik.
Konstantia Gourzi strebt in ihren Kompositionen nach dem antiken Verständnis von Spiritualität. Sie öffnet geistige Räume und bringt ihre Zuhörer zum Schweben. Inspiriert von den Skulpturen des Künstlers Alexander Polzin, hat sie unter dem Titel „Anájikon“ ein Album mit dem Geiger Nils Mönkemeyer und dem Pianisten William Youn sowie dem Lucerne Academy Orchestra und dem Minguet Quartett herausgebracht.
CRESCENDO: Frau Gourzi, was sind die aktuellen Probleme der Musikwelt?
Konstantia Gourzi: Aktuell gibt es viele Künstler, die sich einfach ihrer Rolle fügen – egal, wie gut sie sind. Die meisten jungen Musiker lernen ihr Instrument, um eine Stelle zu bekommen, anstatt Geist und Bewusstsein zu entfalten, um mit dem Instrument kreativ zu sein. Wir sind an den Hochschulen in einem Status, in dem wir uns systematisch wiederholen: Wir fördern Musiker, um Orchester zu füllen. Wir fördern nicht primär kreative Geister. Die Frage ist, wie wir der Kunst dienen und nicht der Rolle, die wir vermeintlich in der Kunst zu erfüllen haben.
Die Möglichkeit, heute in Hongkong zu spielen, morgen in Barcelona und übermorgen in New York kann nicht zur Kunst führen. Wer jeden Tag woanders ist, muss der Rolle dienen – denn jeder Tag verlangt, dass man liefert. Dabei besteht die Gefahr, die Kunst zu vergessen. Vielleicht erleichtert Corona hier sogar einen Neuanfang. Musik braucht Zeit. Die Kunst insgesamt braucht Zeit. Und wir brauchen Zeit, sie zu interpretieren, indem wir nahe bei uns selbst sind.
»Ich versuche, die Freude in meinen Studenten zu wecken, nie gehörte Stücke zu spielen.«
Sind Sie als Hochschullehrerin nicht Teil dieses Systems?
Ja, aber ich kämpfe sehr dafür, es von innen zu verändern. Als ich 2002 nach München kam, gab es kaum ein Ensemble für Neue Musik. Ich habe mit wahnsinnigen organisatorischen Schwierigkeiten eins aufgebaut, außerdem ganz früh schon gegen alle Widerstände unter anderem einen YouTube-Kanal. Auch viele meiner Studenten haben später neue Ensembles gegründet. Ich versuche, die Freude in ihnen zu wecken, nie gehörte Stücke zu spielen. Wer ein Musikstück entdeckt, entdeckt sich selbst! Es hilft nichts, nur die Vergangenheit zu wiederholen! Man muss sich der Tradition bewusst sein und dann einen Schritt weitergehen.
Wie sollte die Zukunft der Neuen Musik aussehen?
Wir brauchen Musik heute genauso notwendig wie vor Tausenden von Jahren, weil sie Teil unserer Kommunikation ist. Die Menschen wollen berührt werden – geistig und emotional. Um zu kommunizieren, braucht man Bewusstsein und Authentizität, die das System teilweise verhindert, weil es sofort bewertet: Das ist gut, das ist schlecht. Es wäre ein riesiger Schritt, die Dominanz der Bewertung abzuschaffen! Man braucht also drei Dinge: Authentizität, Bewertungsfreiheit und das Bewusstsein, dass die Musik das Heute spiegelt! Wenn die Komponisten und die Veranstalter diese drei Dinge beherzigen, wird die Neue Musik automatisch anders klingen, als sie das heute tut.
»Das Unsichtbare gab mir die Freiheit, etwas ebenso Unsichtbares von mir selbst preiszugeben.«
Auf Ihrem neuen Album Anájikon gibt es ein Duo für Viola und Klavier, ein Orchesterwerk und Ihr drittes Streichquartett. Letztere haben einen Bezug zu Engeln. Was hat es damit auf sich?
Über György Kurtág lernte ich Anfang der 90er-Jahre in Berlin den Bildhauer Alexander Polzin kennen. Er hat eine Reihe von vier Skulpturen mit insgesamt fünf Engeln gestaltet. Eines Morgens wachte ich auf, rief ihn an und sagte: „Alexander, ich muss für jede Skulptur ein Stück schreiben!“ Engel beschäftigen mich seit meiner Kindheit. Nicht die Engel, wie man sie kennt, sondern als Symbol für das Unsichtbare. Dieses Unsichtbare gab mir die Freiheit, etwas ebenso Unsichtbares von mir selbst preiszugeben. Indem ich für das Projekt komponierte, fühlte ich mich freier und geschützter als sonst. So entstand bei mir auch eine neue kompositorische Sprache. Ich hatte in meinem Leben oft das Gefühl, dass neben mir eine Energie steht, die mir hilft. Diese Energie war mir sehr vertraut, aber bis dahin hatte ich sie noch nicht in meiner Musik offen thematisiert.
Das hat also nichts mit einer konkreten Religion zu tun, sondern mit einer besonderen Form von Spiritualität?
Genau. Ich will keine bestimmte Engelsfigur oder Form von Religion interpretieren. Es geht eher um ein altgriechisches Verständnis von Spiritualität: In dem Moment, in dem man die Erweiterung des Bewusstseins sucht, ist man schon in einem spirituellen Raum, in dem es eine Menge Neues zu erfahren gibt. Um diese Möglichkeit der Bewusstseinserweiterung ging es mir.
Was ist das Besondere an Ihrer Musik?
Sie gibt die Möglichkeit zu schweben! Und ich hoffe, dass sie einen Raum für den Zuhörer öffnet, in dem er sich selbst finden kann – ohne Esoterik oder Meditation. Die Musik der Romantik erweckt zum Beispiel tolle Gefühlswelten, die Dramaturgie und die Form sind aber bekannt. Jede Komposition gibt mir die Möglichkeit, ein neues Gerüst zu bauen! Ich fange jedes Mal bei null an!
Klingt aber auch anstrengend.
Das ist, als würde man immer wieder auf einen Berg steigen, auf den man selbst den Weg finden muss. Spannend, ja, aber es kann auch sehr mühsam sein, erfordert Mut, Glauben und Disziplin. Aufrichtig mit sich zu sein, ist dabei sehr wichtig. Ich hinterfrage mich, ich versuche zu ergründen, warum ich schreiben muss. Ich möchte hundertprozentig meinen, was ich komponiere. Ob das gefällt oder nicht, ist eine andere Sache, die dann nicht mit mir zu tun hat, sondern mit dem Zuhörer.
»Als Künstler müssen wir eine Metamorphose einleiten, nicht reproduzieren. Dann kann die Musik kathartisch wirken.«
Sie haben auch hoch brisante Werke geschrieben, zum Beispiel Transformation – ein musikalisch-szenisches Signal gegen Kindesmissbrauch, bemerkenswerterweise ein Auftragswerk der katholischen Kirche. Was trauen Sie Musik zu?
Alles! Man muss, was einen beschäftigt, durch Musik transformieren! Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder transformiert man etwas bewusst künstlerisch wie bei dem Stück über Kindesmissbrauch – die Auseinandersetzung damit war wahnsinnig schmerzhaft für mich. Oder man setzt das, was einen politisch oder gesellschaftlich ärgert, eins zu eins um: Man könnte auch ein Stück nur mit Schreien komponieren. Aber was hilft es? Wir gehen alle weiter im Leben! Als Künstler müssen wir transformieren, was uns bewegt und was wir erleben, eine Metamorphose einleiten, nicht reproduzieren. Dann kann die Musik kathartisch wirken. Im alten griechischen Theater wusste man, wie Musik heilen kann. Diese Information gibt es seit Tausenden von Jahren, und wir haben sie vergessen. Als Komponist und Interpret kann ich entscheiden, welches „Elixier“ ich verwende, um meine Botschaft übertragen zu können.
Musik bleibt doch abstrakt!
Aber Musik erweckt Gefühle! Ich darf nicht sagen, dass eine Musik schlecht ist, nur weil sie zum Beispiel Aggressionen erweckt. Sondern ich muss mich fragen, warum ich aggressiv geworden bin. Der Zuhörer entdeckt durch Musik sich selbst! Also ist im Grunde jede Reaktion auf Musik gut? Man muss zumindest jede Reaktion wahrnehmen. Und bewusst damit umgehen. Kann der Zuhörer Antworten auf seine eigenen Empfindungen geben über das, was die Kunst in ihm auslöst, dann glaube ich, sind wir in der Gesellschaft gemeinsam einen Schritt weitergekommen!
(Titelfoto: © Astrid Ackermann, Kleine Porträts: © Giorgios Mavropoulos)
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Konstantia Gourzi unter: konstantiagourzi.com