Künstler privat
Wilfried Hiller
26. Juni 2022
Liest man, was den Komponisten Wilfried Hiller so alles inspiriert, dann wundert es nicht, dass seine Werke bei aller Komplexität eine bezaubernde Naivität vorgaukeln – weil er sich das Kindsein nicht abgewöhnt hat. So schafft er Opern und Werke für die ganze Familie.
Name: Wilfried Hiller
Geburtsdatum: 15. März 1941
Geburtsort: Weißenhorn, Landkreis Neu-Ulm
Wohnort: München und Fournoi
Lebenspartner/in: Isabella Schwarz und Elisabeth Woska (nicht gleichzeitig, sondern hintereinander)
Kinder: Carl Raphael Amadeus Hanael Magnus (das ist kein Witz, er heißt wirklich so, das hat auch den Wiener Standesbeamten so verwirrt, dass er mich in der Geburtsurkunde als Mutter eingetragen hat und meine Frau als Vater).
Sternzeichen: Fisch
Wie fühlen Sie sich gerade?
Ich fühle mich beschissen, denn ich habe einen Fragenkatalog mit 88 Fragen zu beantworten, was mich total nervös macht. Ich hatte die Fragen heute Nacht schon unterm Kopfkissen, dann habe ich aber gealbträumt und sie wieder auf den Bettvorleger gelegt. Damit waren die Fragen aber auch noch nicht beantwortet. Warum gerade 88 Fragen? Weil das Klavier 88 Tasten hat und weil es 88 Sternbilder gibt? Ich könnte zu jeder Frage auch das jeweilige Sternbild anmerken. Mein großes Vorbild Athanasius Kircher sagte mal: „Omnia nodis arcanis connexa – Alles ist durch geheime Knoten verbunden.“ Mit ihm (Frage 64) würde ich gerne mal essen gehen. Die Summe (8+8) ist 16, das ist eine Zahl der Vollkommenheit: Eine ideale Frau soll 16 Schönheitszeichen haben und 16 Schmuckstücke besitzen. Mein Lehrer Carl Orff starb im 88sten Lebensjahr. Die liegende 8 ist ja das Symbol der Unendlichkeit, die doppelte 8 ist die doppelte Unendlichkeit.
Ihre charakteristischste Eigenschaft?
Pünktlichkeit
Was inspiriert Sie?
Das kann alles Mögliche sein: das Lächeln einer schönen Frau, ein Gedicht von Nelly Sachs, ein buntes Gemälde von Chagall oder verschiedene Geräusche: das Rauschen eines Wasserfalls, das Zirpen der Zikaden auf einer kleinen griechischen Insel, das Rufen der Tauben im konsequenten 5/4‑Takt, das Bellen eines angeketteten Hundes auf dem Land, das Gackern eines Gockels, ein sinnliches Parfüm, der strahlend helle Orion am Herbsthimmel, ein Film von Charlie Chaplin, eine CD der Nuova Compagnia di Canto Popolare aus Neapel, tibetische Mönche, eine nordindische Klangschale auf A, gregorianische Gesänge, ein Klarinettenseufzer von Martin Fröst, eine Lilith-Statue in Bronze von Antje Tesche-Mentzen, ein altgriechisches Fragment von Sappho, ein rituelles Schlagzeug-Solo von Iannis Xenakis, „Music for a Summer Evening“ von George Crumb, Gerhard Stolze als klagender Oedipus in Carl Orffs gleichnamigem Musiktheater, ein Schnurpsengedicht von Michael Ende, die strahlenden Augen meiner 4‑jährigen Enkelin Romy, wenn sie gesalzene Erdnüsse will, das herzhafte Lachen eines Engels (im Gegensatz zu Michelangelo sind für mich Engel ausschließlich weiblich), die Stille eines No-Theaters, der Lärm in der Athener Innenstadt, ein leckeres Essen am Simssee, ein Schumannlied mit Christian Gerhaher und Gerold Huber, eine Kathedrale von Antoni Gaudí, das Gemälde „Niobe“ von Edgar Ende, ein Fragebogen von Marcel Proust, ein Blues von Ravel, ein Gespräch mit Olivier Messiaen auf Lateinisch, Menhire in der Bretagne, die geheimnisvollen Skulpturen auf der Osterinsel, die Statue der Julia am alten Münchner Rathaus, Klaviermusik von Bartók, George Crumb, „Scarlatti-Sonaten“ mit Tanja Huppert, ein Dialog zwischen Karl Valentin und Liesl Karlstadt und, und, und …
Was nehmen Sie sich immer wieder vor?
Nicht wieder ein Stück nach einem Text von Michael Ende zu schreiben. Und dann schreibe ich – wie jetzt mit „Lenchens Geheimnis“ – wieder ein Stück nach einer Vorlage von ihm, weil er einfach genial ist.
Was würde niemand von Ihnen vermuten?
Dass ich als Fisch keine Meerestiere vertrage
Welche natürliche Gabe hätten Sie gern?
Vogelstimmen zu erkennen wie mein Bruder
Ein großes „Beinahe“ in Ihrem Leben?
Beim Wettbewerb um die Olympia-Fanfare 1972 kam ich unter den 600 Teilnehmern auf den zweiten Platz. Mein Stück war mit 16 Trompeten und 4 Schlagzeugern zu extravagant.
Ihre Vorstellung von Glück?
Eine reine Quinte, das Symbol des „DU“
Was wäre für Sie das größte Unglück?
Wenn Russland den Krieg gewinnt
Was wollten Sie als Kind werden?
Pfarrer oder Theaterdirektor. Ich hatte von beiden Berufen keine Ahnung. Den Pfarrer sah ich jeden Sonntag in einem schwäbischen Dorf bei seinen Ritualen, die mir zum Teil ganz unerklärlich und rätselhaft erschienen. Theaterdirektor wollte ich werden, nachdem meine Mutter mir Handpuppen zu Weihnachten geschenkt hatte – Kasperl und Gretel, den Räuber Boldrian und die Hexe, den König und die Prinzessin (eine Königin gab es nicht). Als ich mit 10 Jahren für 1 1⁄2 Jahre in eine Lungenheilanstalt gesteckt worden war, brachte mir meine Mutter zusammen mit meinem Bruder die Figuren mit dem Fahrrad nach Mittelberg im Allgäu. Das hat mich dann zum Theater gebracht, aber nicht als Direktor, sondern als Autor, denn ich schrieb alle Stücke selbst und spielte als krankes Kind für andere Kranke. Nachdem ich dann (zu lange) in einem Kloster-Internat war, wollte ich auch kein Pfarrer mehr werden.
Wobei bzw. wann werden Sie schwach?
Zum einen beim sechsten Satz „Jardin du sommeil d’amour“ aus der „Turangalîla-Sinfonie“ von Olivier Messiaen. Reinstes Fis-Dur zur Zeit der seriellen Musik. Der Kerl hat sich was getraut! Und zum anderen beim „Valse triste“ von Jean Sibelius, den ich immer wieder gerne auf dem Klavier spiele. Es handelt sich hier um eine Schauspielmusik zu „Kuolema“, in dem der Tod auftritt und mit einer schönen Frau einen letzten Walzer tanzt. Sibelius hat das Thema in den Schluss seiner 7. Sinfonie hineingeheimnist. Sein Arzt hatte ihm gesagt, dass er mit 62 Jahren sterben würde, also schrieb er seine angefangene 8. Sinfonie nicht mehr, sondern wartete 30 Jahre lang auf seinen Tod.
Ihr größtes Talent?
Nonsens-Gedichte
Was können Sie gar nicht?
Kochen
Woran zweifeln Sie am meisten?
An mir selbst
Wovor haben Sie Angst?
Vor Mückenstichen. Ich hatte als Kind einmal 35 Stiche an einem Tag. „Der hat halt süßes Blut“, versuchte der Arzt meine Mutter zu beruhigen.
Was ertragen Sie nur mit Humor?
Den späten Strawinsky
Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Ein gutes Glas Lugana vor dem Einschlafen
Ihre originellste Ausrede?
Wagner-Opern kann ich nicht mehr besuchen, da macht meine Blase nicht mit.
Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?
Dass es eine Brille für Farbenblinde geben wird
Das Credo Ihres Lebens?
„Freunde, das Leben ist lebenswert!“
Ihre Lieblingsbeschäftigung/Ihr Hobby?
Partituren studieren
Ihr Lieblingsland?
Griechenland
Ihre Lieblingsstadt?
Venedig
Ihr Lieblingsgericht?
Penne arrabiata
Ihr Lieblingsgetränk?
Lugana
Ihr Lieblingstier?
Der Elefant
Ihre Lieblingsblumen?
Rote Rosen
Ihr Lieblingsbuch?
„Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“
Ihr Lieblingsschriftsteller?
Michael Ende
Ihr Lieblingsfilm?
Charlie Chaplins „Rampenlicht“
Ihr Lieblingsmaler/darstellender Künstler?
Marc Chagall
Ihr/e Lieblingskomponist/in?
Leoš Janáček
Ihr Lieblingswerk/Ihre Lieblingsoper?
„Káťa Kabanová“, „Herzog Blaubarts Burg“, „Prometheus“
Ihr Lieblingsalbum?
Carl Orff mit Herbert Kegel
Ihr Lieblingsinstrument?
Harfe (mit der dazugehörigen Spielerin)
Das beste Konzert Ihres Lebens?
Berlioz« „Requiem“ mit dem Chor und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Charles Munch, 1968
Ihr beglückendster musikalischer Moment?
303 Vorstellungen an der Wiener Staatsoper
Was bedeutet Ihre Kunst für Sie?
Nahrung für die Seele
Der beste Auftritt Ihres Lebens?
Als ich für einen erkrankten Sänger die Rolle der Hexe im Gärtnerplatz singen durfte. Ich erfuhr es 5 Minuten vor Vorstellungsbeginn.
Gibt es Rituale für ein gelingendes Konzert?
Es ist wie bei einem Fußballspiel alles nicht vorhersehbar.
Die Minuten vor dem Auftritt?
Keine Zeit für Aufregung
Und die Zeit danach?
Totale Erschöpfung
Ihr größtes musikalisches Missgeschick?
Als ich bei einer Probe im Symphonieorchester des BR unter Rafael Kubelík meinen Einsatz nicht fand und Kubelík abbrach mit den Worten: „Wo ist Tam-Tam?“ Ich antwortete nervös: „Ich sehe ihre „Drei“ nicht.“ Da sagte er in seinem wunderbaren tschechischen Deutsch: „Nicht kucken! Sie missen fihlen!“
Welche Musik mochten Sie als Kind/als Jugendlicher?
„Die Zauberflöte“ mit Fritz Wunderlich als Tamino
Ein Werk, das Ihr Leben verändert hat?
Die neapolitanische Volksoper „La Gatta Cenerentola“ von Roberto De Simone, 1978
Welche Person/welches Ereignis hat Sie als Musiker/in maßgeblich geprägt und warum?
Carl Orff mit seiner unglaublichen Neugier auf alles, was in der Musik geschah. Ich sah ihn bei allen Konzerten von Louis Armstrong, Ella Fitzgerald oder Count Basie.
Welches Werk wollen Sie unbedingt noch aufführen?
Mein Oratorium „Dawid“ nach einem Text von Stefan Ark Nitsche
Wann haben Sie zuletzt bei Musik geweint?
Da kann ich mich im Moment nicht erinnern, weil bei mir immer gleich die Tränen fließen.
Mit welcher/m Musiker/in der Vergangenheit würden Sie gern einen Abend verbringen?
Maurice Ravel
Welche Künstler beeindrucken Sie?
Sängerschauspieler: Gerhard Stolze, Hertha Töpper, Annelies Kupper, Martha Mödl, Christian Gerhaher, Joan Carroll
Welches Musikerklischee würden Sie gern geraderücken?
„Vorsicht! Mädchen weg, da kommt ein Komponist!“
Kuriose Orte, an denen Sie musiziert/geübt haben?
In einem Kellerstudio für Hausfrauengymnastik am Lenbachplatz. Da durfte ich ab 21 Uhr die ganze Nacht üben, was keinen Menschen störte.
Welche drei Musikstücke würden Sie auf die berühmte Insel mitnehmen?
Olivier Messiaen: „Saint François d’Assise“ (leider wiegen die acht Szenen insgesamt 14 Kilo und 800 Gramm, das ist zu schwer fürs Handgepäck) b) „Prometheus“ von Carl Orff c) „Der versiegelte Engel“ von Rodion Schtschedrin
Wenn morgen die Welt unterginge, welche Musik würden Sie spielen/singen?
Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“
Wenn Sie nicht Ihr Instrument spielen bzw. singen würden, welches würden Sie wählen?
Das Pyrophon – das gibt es wirklich, es ist ein Röhreninstrument. In jeder Röhre ist eine Kerze, die brennt; die Töne werden durch eine Tastatur zum Klingen gebracht. (Bei einer Vorführung brannten alle Röhren ab.)
Gibt es weitere Interessen/Leidenschaften neben der Musik?
Bildende Kunst, Filme, Literatur, Astronomie, nordindische Klangschalen
Ihr persönlicher Bühnenalbtraum?
Es gibt einen Traum, der immer wiederkehrt: Ich soll ein Werk in einem großen Saal dirigieren. Der Saal ist voll, der Inspizient schickt mich hinaus, es ist aber kein Orchester da. Ich beginne nach meinem ersten Schreck zu dirigieren, und siehe da: ein imaginäres Orchester beginnt zu spielen, alles läuft wunderbar. Tosender Applaus, der mich aufweckt. Ist das nun ein guter oder ein schlechter Traum?
In welchem Jahrhundert hätten Sie gern gelebt?
500 vor Christus, zur Zeit von Sophokles
Welche historischen Figuren bewundern Sie?
Pythagoras, Athanasius Kircher, Marius Schneider, Rainer Maria Rilke, Christian Morgenstern, Wilhelm Busch, Karl Valentin
Und welche lebenden Menschen?
All diejenigen, mit denen ich das Glück habe, arbeiten zu dürfen.
Gibt es einen Denker/Philosophen, der Sie begleitet?
Annemarie Schimmel, Hermann Pfrogner, Marius Schneider, Stefan Ark Nitsche, Martin Buber
Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie?
Es sind zu viele, das würde den Rahmen sprengen.
Die beste Reform in der Geschichte?
Die Verwandlung vom Madrigal zur Oper durch Monteverdi
Welche drei Persönlichkeiten würden Sie gern zum Dinner einladen?
Modest Mussorgsky, Alma Mahler, Leonard Bernstein
Bei wem wären Sie gern zum Dinner eingeladen?
Athanasius Kircher; Gioachino Rossini
Welche Musik würden Sie einem Klassikeinsteiger empfehlen?
Mozarts „Zauberflöte“, späte Sinfonien von Haydn, Maurice Ravel
Wären Sie manchmal gern ein/e andere/r und wenn ja, wer?
Manchmal wäre ich wieder gern der Puppenspieler, der ich als Kind war.
Was ist Ihr Seelenort?
Der kleine Ort Chrysomilia (Goldäpfelchen) auf der Insel Fournoi in der Ägäis
Gibt es einen Sehnsuchtsort?
Venedig
Wofür würden Sie Ihr Leben opfern?
Für einen Regenschauer in der griechischen Hitze
Wenn es schon sein muss: Wie und wo würden Sie gern sterben?
Natürlich in den Armen einer liebenden Frau
Wie soll man sich an Sie erinnern?
„A Hund war a scho!“
Was möchten Sie Ihren Kindern mit auf den Weg geben?
Tu, was du willst!
Wie sieht ein gelungener Tag in Ihrem Leben aus?
Wenn ich um 9 Uhr morgens von meinem Schreibtisch aufstehe und ein neues Stück abgeschlossen habe.
Welcher Illusion geben Sie sich gern hin?
Siehe das Gedicht „Ein Schnurps grübelt“ von Michael Ende
Welche Frage stellen Sie am liebsten anderen?
Wie geht es mir?
Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Mit Klavierspielen bei der Hausfrauengymnastik. Zum Schluss musste ich immer „Das Gebet einer Jungfrau“ spielen.
Was haben Sie – neben Schlüssel und Handy – immer dabei?
Ein Skizzenbuch. Ein Handy besitze ich nicht.
Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Vertrauen
Welche Eigenschaften bei einem Mann?
Zärtlichkeit
Welche Eigenschaften verabscheuen Sie am meisten?
Intrigen
Was lieben Sie an Ihrer Lebenspartnerin/Ihrem Lebenspartner am meisten?
Geduld
Eine Entdeckung, die Sie erst kürzlich gemacht haben?
Dass ein Vielleicht-Vorfahre von mir das Singspiel erfunden hat. In einer Straße in Leipzig stößt die Sebastian-Bach-Straße direkt auf die Hillerstraße. Als ich dort mal spazierte, war genau an dieser Stelle ein Schild angebracht mit dem Hinweis „Vorsicht Baustelle“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Ihre Strategie für kurzfristige Entspannung?
Spaziergang an der Isar
Welcher Urlaubstyp sind Sie? Strandschläfer, Berg- und Tal-Aktivist oder Kulturreisender?
Kulturreisender. Am liebsten reise ich in meiner Fantasie.
Tag- oder Nachtmensch? (Nachtigall oder Lerche?)
Morgenmensch – ab halb fünf
Sind Sie abergläubisch?
Ja. Als ich meinem Librettisten eines Abends das Stück „Camilles Schwester“ vorspielte, sagte er: „Mich würde interessieren, was deine Frau jetzt sagen würde.“ Da fiel in der ganzen Wohnung für kurze Zeit das Licht aus. Damit war alles gesagt.
Haben Sie ein Maskottchen?
Die Himmelsscheibe von Nebra