Lotte Tobisch
Das Künstlerheim des »schlimmen Mädchens aus gutem Hause«
6. April 2017
Lotte Tobisch – Inbegriff der Salondame, Ikone des Opernballs, Vertraute Theodor Adornos – tut alles, um Künstlern einen erfüllten Lebensabend unter ihresgleichen zu ermöglichen.
„Das Problem des Alters ist, dass alle tot sind, mit denen man sein Leben verbracht hat. Man hat niemanden mehr zum Reden. Bei uns aber schon.“ Prof. Lotte Tobisch-Labotýn weiß, wovon sie spricht. Vor wenigen Tagen feierte sie ihren 91. Geburtstag – aber wer sie in ihrer Wohnung am Wiener Opernring trifft und als vor Esprit sprühende Gesprächspartnerin erlebt, der kann diese Zahl nur für ein absurdes Gerücht halten. „Bei uns“: Das ist nicht ihr privates Zuhause, sondern das Heim, für das sie arbeitet. Kaum zu glauben, dass sie als Präsidentin des Vereins „Künstler helfen Künstlern“ sich schon seit 1996 um das Schicksal von Zunftkolleginnen und ‑kollegen kümmert, die zum Teil noch einige Jährchen jünger sind als sie selbst. Zumal es kein bloßes Ehrenamt für sie ist: Mehrmals pro Woche sieht sie persönlich nach dem Rechten im 25 Kilometer entfernten Baden bei Wien. In dem Thermalbadeort mit kaiserlicher Vergangenheit hat Beethoven an der 9. Sinfonie gearbeitet, dort spielt der erste Akt der Fledermaus, dort hat die Operette bis heute eine Hochburg – und dort unterhält der Verein auch sein „Hilde Wagener Künstlerheim“. Darin verbringen heute bis zu 30 Menschen in Zimmern oder Apartments ihren Lebensabend, die auf der Bühne, auf dem Podium oder im Atelier Beruf und Berufung hatten vereinen können. „Unser kleines Haus hat einen Vorteil, der nicht nur für Künstler gilt: die Wahlverwandtschaft der Bewohner. Wir bilden eine Art Familie. Und jeder weiß, wovon die Red« ist“, erklärt sie.
Bei Hofmannsthal heißt das bekanntlich, man habe „doch einen Ton miteinander“ – einen gemeinsamen Grundklang. Und das sei wesentlich für ein Wohlfühlen im Alter, findet Lotte Tobisch: „Menschlich finde ich nur Heime mit höchstens 40 Bewohnern, überschaubare Gemeinschaften aus Leuten, die miteinander können, die ähnliche Interessen haben. Natürlich ist das eine Geldfrage für die öffentliche Hand, und wir können uns nicht beklagen, da das soziale Netz in Österreich eng geknüpft ist. Wenn ich da an die 30er-Jahre zurückdenke …“ Aber niemand sollte in einem anonymen Moloch seine letzten Tage fristen müssen. Vielleicht spielt auch die Angst vor solchen Auswirkungen eine Rolle dabei, dass viele Menschen den Gang ins Heim scheuen.
„Dank sozialer Fürsorge bleiben die Leute so lang wie möglich zu Hause, Sie sehen das auch bei mir. Ich hab das Glück, dass alles noch funktioniert, vor allem mein Kopf. Aber so gut wie alle, die sich vorher geziert haben, sagen dann, wenn sie eine Zeitlang bei uns in Baden wohnen: Hätte ich gewusst, wie wohl ich mich hier fühle, wäre ich schon vor fünf Jahren gekommen!“ Anders als etwa in der berühmten Casa Verdi, wo viele Sänger und Musiker leben, die sich früher aus dem Beruf verabschieden (müssen), absolvieren die Senioren in Baden aber kaum mehr Auftritte vor den anderen – „aus Altersgründen“, wie Tobisch klarstellt: „Bei uns kommen Gäste als Unterhaltungsprogramm, spezielle Interessen befriedigen wir eher in kleinerer, privater Runde. Aber eine Kreativtrainerin bastelt und malt mit den Bewohnern, eine Handvoll immerhin interessiert das.“
Besondere Geld- oder Platzfragen stellen sich bei alldem nicht: „Wir sind sehr günstig, sogar billiger als andere Altersheime. Bei uns wohnen auch Menschen mit Mindestpension, da springt der Verein ein, auch für 200 Euro Taschengeld.“ Leerstände sind gewöhnlich nur kurz, es bildet sich auch keine Warteliste: „Es geht sich immer irgendwie aus“, heißt das auf gut Österreichisch. Dass es so ist, und dass etwa auch Moribunde bleiben können, liegt freilich auch an der streitbaren Lotte Tobisch. „Wenn der Arzt sagt, es sei etwa nur noch die Frage von einigen Wochen, dürfen die Menschen auch bei uns sterben. Bis das möglich war, hatten wir schreckliche Schwierigkeiten mit den Ämtern. Zugegeben, wir sind kein Pflegeheim, da gibt es rechtliche Probleme, aber für solche Einzelfälle setze ich mich ein.“
Ja, auch übers Sterben, die natürlichste Sache der Welt, spricht Lotte Tobisch ganz unbefangen – und muss es auch. „Die Fluktuation ist hoch: Die meisten kommen erst mit Ende 80. Früher sind sie mit 75 eingezogen und sind knapp 90 geworden, jetzt kommen sie mit 88 und werden 95.“ Sieben Menschen sind während ihrer Amtszeit über 100 geworden; 2016 sind erstmals fünf gestorben. „Der Tod ist traurig, es ist schade, wenn ein Mensch weg ist, den alle gern hatten – aber in dem Alter ist das kein Grund zum Weinen. Danach setzen wir uns meist zum Kaffee zusammen – und ich schau darauf, dass es ein bisschen heiter wird, dass man sich an den Erinnerungen an den Menschen erfreut.“
Wie alles begann? Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs der Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung Böhmens und Mährens vor den alliierten Truppen floh oder von den Tschechen vertrieben wurde, kamen auch die Angehörigen der deutschen Theater in Olmütz oder Brünn als vielfach mittellose Flüchtlinge nach Wien. Um diesen helfen zu können, organisierte die Schauspielerin Hilde Wagener zunächst bunte Abende mit Burgtheatergrößen, deren Erlöse den Bedürftigen zugute kamen, und gründete schließlich 1949 den Verein „Künstler helfen Künstlern“. Ein Offizierserholungsheim in Baden wurde gekauft und adaptiert – das heutige „Hilde Wagener Künstlerheim“. Schon diese Anfänge hat die junge Schauspielerin Lotte Tobisch miterlebt – und geholfen.
Als „schlimmes Mädchen aus gutem Hause“ war sie aus einem goldenen Käfig geflohen, ging eine damals skandalträchtige Beziehung mit dem 37 Jahre älteren Schriftsteller und Dramaturgen Erhard Buschbeck ein, wurde Schülerin des Burgtheaterstars Raoul Aslan und erlangte nach ihrer Bühnenkarriere vor allem als Organisatorin des Wiener Opernballs breite Popularität. Parallel dazu engagierte sie sich als Vorstandsmitglied von „Künstler helfen Künstlern“ – und beerbte schließlich 1996 ihre Opernball-Vorgängerin Christl Schönfeldt auch als Präsidentin des Vereins. Außerdem ist sie Ehrenmitglied der Österreichischen Alzheimer-Gesellschaft.
Mit dem eigenen Alter geht Lotte Tobisch locker um. „Es kommt viel auf die Einstellung an. Schwierig macht man es sich, wenn man um jeden Preis jung bleiben will. Ein jüdisches Sprichwort sagt, von den Jahren allein wird man auch älter. Das stimmt, die bekommt man auch mit Botox nicht mehr weg. Nimmt man aber das Unausweichliche zur Kenntnis, ist es halb so schlimm. Meine wunderschöne Mutter ist mir mit schlechtem Beispiel vorangegangen: Sie hat ab 50 unter ihrem Alter gelitten. Das passiert mir nicht, war immer mein Vorsatz. Sicher, da zwickt es und dort zwickt es, aber mir ist es egal. Es hat sogar Vorteile: Irgendwann kann man alles sagen, was man will.“ Hinterm Berg halten mit ihrer Meinung etwa über manche Politiker, über ihre Leidenschaft für Gummibärchen oder darüber, dass sie einen k.u.k.-Orden des Herrn Großpapa als Anhänger um den Hals trägt („Monarchisten wären entsetzt!“), das tut sie nicht. Letztes Jahr wurde sie, die sich für den Opernball stets vom Wiener Modezaren Fred Adlmüller hat einkleiden lassen, zu ihrem Amüsement im Rahmen der Vienna Awards for Fashion and Lifestyle zur Mode-Ikone gewählt.
„Wo ich arbeiten lasse, hat man mich gefragt. Ich kaufe viel bei unserem Flohmarkt in Baden, war meine Antwort. Das haben sie dann prompt nicht zu schreiben gewagt!“ Und dann kommt es auch noch aufs Loslassen an. „Ich habe viele blöde Sachen gemacht, aber eines war gescheit: der Bitte nicht nachzugeben, doch den Opernball noch länger zu organisieren. Ich hatte es 15 Jahre lang getan, mein 70. Geburtstag kam und zugleich wurden 1.000 Jahre Österreich gefeiert – das war mein Moment zu gehen. Ich habe so viele Menschen erlebt, die diesen Punkt verpasst und dann darunter gelitten haben – das wissen wir doch von vielen Kollegen, die nicht aufhören können. Wenn ich heute höre, ich sei die ‚Ikone des Opernballs‘, dann lache ich und sage: Das verdanke ich nur meinem rechtzeitigen Abgang! Drei Jahre später hätte es garantiert geheißen: Was, die Alte ist immer noch da?