Marlis Petersen
Stepptanz, Pink Floyd und die große Oper
von Mario-Felix Vogt
17. November 2017
Marlis Petersen gehört zu den großartigsten Koloratursopranistinnen. Ihre Darstellung der Lulu machte sie berühmt. Doch ihre Karriere nahm zwischen Pop und schwäbischer Bodenständigkeit ihren Anfang.
Opernsoprane sind oft Diven. Wenn die Hotelsuite nicht den passenden Panoramablick bietet, rasten sie aus, ebenso, wenn das Mineralwasser in der Künstlergarderobe nicht richtig temperiert ist. Außerdem lästern sie gerne über Kolleginnen und ihrer Meinung nach völlig unfähige Dirigenten. So weit das Klischee, das bei so mancher Primadonna voll ins Schwarze trifft.
Glücklicherweise ist Marlis Petersen von diesem Typus des prätentiösen Stars meilenweit entfernt. Die 1968 in Sindelfingen geborene Künstlerin mit den flippig-bunten Strähnen im Haar ist bodenständig, unkompliziert und formuliert ihre Sätze im Interview mit unverkennbar schwäbischer Sprachfärbung. Obwohl ihre Eltern selbst keine Musiker sind, kommt sie schon früh mit klassischer Musik in Berührung. Ihr erstes Instrument wird das Klavier, über ihren Klavierlehrer lernt sie die ganze Bandbreite des Repertoires kennen. Sie macht schnelle Fortschritte und nimmt regelmäßig mit Erfolg an „Jugend musiziert“ teil. Später nimmt sie zusätzlich Querflötenunterricht.
Mit 16 tritt sie in den Kirchenchor ein, und ein Jahr später darf sie schon in der Tuttlinger Kirche das Sopran-Solo in einer Schubert-Messe singen – wohlgemerkt ohne jemals eine Stunde Gesangsunterricht genommen zu haben. Plötzlich werden das Klavier und die Flöte unwichtig. Marlis hat ihr Instrument gefunden: ihre eigene Stimme! Schlagartig wird ihr klar, dass das Singen ihre Berufung ist. Doch die Eltern sind skeptisch. Das „Mädle“ soll doch etwas studieren, was nicht so brotlos ist wie die freie Kunst. So einigt man sich auf ein Schulmusikstudium. Falls es dann für die Primadonnen-Karriere nicht ganz reichen sollte, hätte sie als Musiklehrerin ein sicheres Einkommen.
„Wir coverten die damaligen Hits von Whitney Houston bis Pink Floyd“
Ihre Gesangslehrerin an der Stuttgarter Musikhochschule wird Sylvia Geszty, eine renommierte ungarische Koloratursopranistin und gefragte Pädagogin. Doch bevor Marlis Petersen in die hohe Kunst der virtuosen Verzierungen eingewiesen wird, betätigt sich die vielseitig interessierte Künstlerin erst einmal als Rocksängerin. In ihrem Abiturjahr steigt sie in die Popband Square ein. „Wir coverten die damaligen Hits von Whitney Houston bis Pink Floyd“, erinnert sich Petersen. „Die Nächte waren lang, die Tage kurz, es war ein Riesenspaß und ebenso eine finanzielle Hilfe für mein Musikstudium.“
Als klar wird, dass eine Tätigkeit im Schuldienst für sie absolut nicht infrage kommt, macht sie ein Aufbaustudium mit den Schwerpunkten Oper und zeitgenössische Musik, belegt Kurse in Jazz- und Stepptanz. Bald erntet Petersen, die sich in so vielen verschiedenen Bereichen der Musik mit Verve betätigt hat, die Früchte ihrer Bemühungen: 1990 ersingt sie sich einen Preis beim Bundeswettbewerb Gesang Berlin in der Sparte Oper/Operette/Konzert, drei Jahre später im Bereich Musical/Chanson/Song.
Heute gilt Marlis Petersen als eine der größten deutschen Opernsängerinnen. Doch das Interesse fürs Musiktheater entwickelte sie erst spät. Ihre erste Erfahrung mit der Oper hatte sie im Alter von 15 Jahren, als das Pforzheimer Ensemble Rigoletto in Tuttlingen aufführte. Allerdings habe diese Begegnung „noch nichts ausgelöst“, erinnert sich die Sängerin. Sie führt dies darauf zurück, dass sie durch ihr Elternhaus nicht musikalisch vorgeprägt war und deshalb „gar keinen Anknüpfungspunkt hatte“. Sie sei „ein absoluter Opern-Spätzünder“ gewesen, erklärt sie. Erst als sie ihr erstes Engagement an der Oper Nürnberg bekommt, versteht sie, welch vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten man als Opernsängerin besitzt. Die Jahre in Nürnberg sind für Marlis Petersen eine prägende Zeit. „Sie haben den Grundstein dafür gelegt, was mich heute als Opernsängerin ausmacht“, da ist sich Petersen sicher. Unter dem progressiven Leiter der Nürnberger Oper Eberhard Kloke lernt sie nicht nur neue Inszenierungskonzepte kennen, sondern auch ausgefallene Werke wie Prokofjews Feuriger Engel, Schönbergs Opernfragment Moses und Aron, Rihms Eroberung von Mexiko ‒ und Bergs Lulu.
„Ich liebe Mozarts Musik und Ausdruckskraft, die sich trotz der klassischen Form einer jeden Seele mitteilen kann“
Die Lulu in Bergs gleichnamiger Oper wird die Rolle ihres Lebens. 2002 debütiert Marlis Petersen als Lulu an der Wiener Staatsoper, 2003 spielt sie die verführerische Kindfrau an der Hamburgischen Staatsoper in der ebenso gewagten wie erfolgreichen Lulu-Inszenierung von Peter Konwitschny. Hier glänzt sie nicht nur mit stupend sicher dargebotenen Zwölfton-Koloraturen und einer Darstellung der Protagonistin jenseits schmieriger Rotlicht-Klischees, sondern unterstützt den ausgelassen-triebhaften und selbstbewussten Charakter ihrer Lulu zusätzlich durch akrobatische Einlagen auf der Bühne. Die Mühe lohnt sich: Im selben Jahr wird sie für die Hamburger Lulu vom Fachblatt Opernwelt als Sängerin des Jahres ausgezeichnet. Weitere Aufführungen in dieser Rolle hat sie 2005 im Athener Megaron, 2008 in Chicago und 2010 an der New Yorker Met.
Neben der Lulu ist Marlis Petersen auch regelmäßig in Mozart-Opern zu erleben, etwa in der Zauberflöte als Pamina, in der Entführung aus dem Serail als Konstanze und in Le Nozze di Figaro in der Rolle der Susanna. Mozarts Werke sind der Sängerin besonders nahe: „Ich liebe seine Musik und Ausdruckskraft, die sich trotz der klassischen Form einer jeden Seele mitteilen kann.“ Für sie ist seine Musik „immer wieder ein Korrektiv, wenn ich meine Stimme nach einer Lulu, Medea oder auch Traviata wieder zum kleinsten Kern zurückführen möchte“.
Auch in zeitgenössischen Opern und als Konzertsängerin bringt sich Marlis Petersen mit Leidenschaft ein. Und mit einer Gattung beschäfigt sie sich seit einigen Jahren besonders intensiv: dem Lied. So nimmt sie 2010 ein viel beachtetes Album mit Goethe-Liedern unterschiedlicher Komponisten auf und widmet 2015 ein weiteres dem Liedschaffen des Spätromantikers Walter Braunfels.
Ihr aktuelles Album beim Label Solo Musica ist ebenfalls eine Liedplatte und heißt „Dimensionen – Welt“ mit dem Untertitel „Mensch & Lied“. Es ist der erste Teil einer Trilogie, die sich mit der menschlichen Seele und verschiedenen Wahrnehmungszuständen befasst, die beiden folgenden Alben werden sich jeweils um die „Anderswelt“ und die „Innenwelt“ drehen. Für das aktuelle Album wählte Marlis Petersen 22 Lieder der Romantik und Spätromantik aus, darunter Werke von Schubert, Clara und Robert Schumann, Brahms und Wagner. Manche sind berühmt, wie Schumanns Mondnacht, andere wiederum kaum bekannt, wie das imposante Lied Die Berge oder die stimmungsvolle Abendhymne An die untergehende Sonne von Schubert. Außerdem erklingen auf dem Album Lieder von zwei Komponisten, die heutzutage vollkommen in Vergessenheit geraten sind: dem durch Schumann und Wagner beeinflussten Braunschweiger Hans Sommer (1837–1922) sowie dem jung verstorbenen Schweden Sigurd von Koch (1879–1919).
Marlis Petersen und ihr Klavierpartner Stephan Matthias Lademann nähern sich den Liedern mit viel Klangsinn und Liebe fürs Detail. Petersen agiert mit großer Intensität und trifft stilsicher die jeweiligen Charaktere, während Lademann klangfarblich und agogisch differenziert einen feinen Begleitteppich knüpft. Eine unmittelbar berührende Einspielung, die neugierig macht auf die beiden nächsten Alben.