Christoph Ascher

Matthias Georg Kendlinger

Mission Moderne: Musik mit Melodie

von Barbara Schulz

3. September 2021

Hybris, rufen die einen. Genialität, die anderen. Der Tiroler Komponist und Dirigent Matthias Georg Kendlinger polarisiert. Dabei will er nur die Schönheit für die Musik retten. Und damit die Menschheit. Porträt eines visionären Querulanten.

Wer ist er, dieser ? Auf alle Fälle ein Wahn­sin­niger. Nein, noch schlimmer: ein wahn­sin­niger Tiroler. Ja, viel­leicht auch ein biss­chen größen­wahn­sinnig. Seine Kritiker – und davon hat er viele – würden das fraglos unter­schreiben. Aber Kend­linger ist noch mehr – natür­lich: hoch emotional, sensibel, leiden­schaft­lich, intuitiv. Und ja, auch das: verletz­lich. Auch wenn er ruppig daher­kommen kann, knochen­hart, ein Mensch, der den Wider­stand erfunden hat. Ein Frei­geist, der in keine Schub­lade passt. Ein Visionär, der mit missio­na­ri­schem Eifer und einem inneren Auftrag die Welt reicher und die Menschen besser machen will. Das kann eine explo­sive und durchaus gefähr­liche Mischung sein, wenn der Grund für all das nicht der rich­tige ist. In seinem Fall ist er höchst ehrbar: Es ist die klas­si­sche Musik, die er hinaus­tragen will, für die er begeis­tern will, die er aus der stock­steifen und bier­ernsten Nische holen will, um die jungen Menschen dafür zu begeis­tern, um der Nach­welt nicht nur Atonales zu hinter­lassen, um die Herzen zu öffnen. All das will er, für all das arbeitet er, für all das würde er seine Seele verkaufen. Es ist – ja, eben: ein Auftrag.

Matthias Georg Kendlinger

»Ich bin Auto­di­dakt in der fünften Gene­ra­tion.«

Fast möchte man schon von einer Marke spre­chen, wenn der Name Kend­linger fällt – denn wie der Hof in früher, wird jetzt die Musik im Fami­li­en­be­trieb gema­naged. Von ungefä kommt das nicht – die Familie hat grund­sätz­lich oberste Prio­rität. Und damit ist nicht nur die aktu­elle Familie gemeint. Matthias Kend­linger wäre nicht der, der er heute ist, hätte er sich nicht auf die Suche nach seinen Wurzeln gemacht. „Ich vergleiche das mit dem goldenen Lebens­baum. Die Wurzeln sind verant­wort­lich für meine Erdung, sie sind mein Funda­ment.“ Also wollte er seine Ahnen und damit seine eigene Geschichte kennen­lernen. „Ich dachte bis dahin, ich wäre der einzig Verrückte. Aber nein! Ich bin Auto­di­dakt in der fünften Gene­ra­tion. Mein Vater hatte Maurer gelernt und war dann Polier auf den schwie­rigsten Baustellen. Mein Groß­vater war Tier­arzt ohne Ausbil­dung, sein Vater und sein Groß­vater auch schon.“ Wie es aussieht, wurde ihm also Willens­stärke, Durch­set­zungs­ver­mögen und der Mut, eigene Wege zu gehen, in die Wiege gelegt.

Die eigene Persön­lich­keit hingegen sieht er schon viel indi­vi­dua­lis­ti­scher: „Der Stamm ist die Persön­lich­keit – weil man selbst entscheidet, was in den Stamm kommen darf. Die Veräs­te­lungen sind wie Fühler, die Infor­ma­tionen sensitiv aufnehmen.“ Wie ein Filter würden die wirken, der entscheidet, was er nimmt und was nicht. Und so fülle sich nach und nach der Stamm dieses Baums mit einem Wissen, das vorher hinter­fragt und selek­tiert wird.

Das Fragen und Hinter­fragen ist ohnehin eine Passion von Matthias Kend­linger. Und er ärgert sich bis heute über unser Schul­system, das sich nur wenig von dem unter­scheidet, was er in seiner Kind­heit kennen­ge­lernt hat. „Wehe, Kinder fragen zu viel! Und vor allem zu anderen Dingen, als der Lehr­plan sie vorsieht. Dann heißt es, ‚jetzt setz dich hin und gib Ruhe‘. Ja, wie sollen Kinder denn da neugierig bleiben?“ Aber wenn einer schon Haus­auf­gaben als Frei­heits­be­rau­bung wahr­nimmt, für den ist ein starres System defi­nitiv nicht der Ort, an dem er sich entwi­ckeln kann.

Die Schule war ihm immer zu eng, er fühlte sich in der eigenen Krea­ti­vität einge­schränkt, seine Neugierde wurde weder geweckt noch gestillt. Und so vertraute er viel mehr als schu­li­schem Wissen seiner Intui­tion. Was ihm sinnlos und der Beach­tung nicht wert erschien, das schob er beiseite. Grenzen aufbre­chen, unab­hängig und frei sein, das war sein Weg. Sein stän­diger Begleiter dabei: Selbst­zweifel. Weil er spürte, dass er anders ist.

Matthias Georg Kendlinger
Hat sich vom Musi­kanten zum Musiker entwi­ckelt, sich das Diri­gieren beigebracht und irgend­wann auch das Kompo­nieren: Matthias Georg Kend­linger
(Foto: © Chris­toph Ascher)

Ob Kend­linger diesen Selbst­zwei­feln zum Trotz den Kurs nicht verän­dert hat, oder ob er nicht anders konnte, sei dahin­ge­stellt. Aber die Musik war immer da, und sie blieb: zunächst im Kinder­chor, dann in der Blas­ka­pelle, seine ersten Enga­ge­ments. Dass er nach der Schule eine Ausbil­dung zum Kauf­mann machte, scheint nur schlüssig. Denn wer seinen Weg selbst gehen will, abseits vom System, der sollte mit Zahlen umgehen können. Schließ­lich war er Konzert­ver­an­stalter, als Geschäfts­führer Grün­dungs­mit­glied bei den Tiroler Fest­spielen, grün­dete ein Orchester, einen Chor, ein Ballett, ein Musik­fes­tival. Und während all dieser Zeit hat er sich vom Musi­kanten zum Musiker entwi­ckelt, hat sich das Diri­gieren beigebracht und irgend­wann auch das Kompo­nieren. „Weil ich über­gehe vor Ideen. Ich weiß gar nicht, wann ich das alles kompo­nieren soll!“

Selbst­über­schät­zung? Natür­lich sind die Kritiker getrig­gert, seine Sinfo­nien und seine Kammer­musik entspre­chend zu degra­dieren. Da kommt so ein „einfa­cher Tiroler Bauernbub – und das bin ich immer noch am liebsten“ – daher und füllt plötz­lich Konzert­säle. Ohne jegliche akade­mi­sche Vorbil­dung. Aber irgend­etwas scheint er ja richtig zu machen. Ein biss­chen erin­nert das an Enoch zu Gutten­berg, wenn der sich auch nicht zur Kompo­si­tion verstiegen hat. „Ich hab ihn nie kennen­ge­lernt, aber ich spüre schon eine Nähe“, meint Kend­linger.

Matthias Georg Kendlinger

»Wir sollten der Schön­heit wieder mehr Wert zuge­stehen.«

Die spürt er auch zu Beet­hoven – was nicht zu über­sehen ist, spaziert man während seines 2017 gegrün­deten Matthias Georg Kend­linger Music Festival durch das ukrai­ni­sche Lemberg, das inzwi­schen auch Welt­kul­tur­erbe ist. Ein Zufall hatte ihn hier­her­ge­führt: Oleh Stan­ke­vych, ehema­liger Lehrer in Lemberg, war vor 20 Jahren mit den soge­nannten Tscher­nobyl-Kindern nach Schwendt gekommen, also in die Heimat von Kend­linger. Es wurde eine frucht­bare Freund­schaft daraus, mit Kend­lin­gers Ehefrau Larissa war bald die Idee zur „Klas­sik­schmiede“ DaCapo geschmiedet und umge­setzt, die Zusam­men­ar­beit wurde enger, inten­siver, und schließ­lich gründet er in Lemberg sein Orchester, die K&K Phil­har­mo­niker, außerdem den K&K Opern­chor, das Öster­rei­chi­sche K&K Ballett. K&K, das ist einer­seits eine Refe­renz an die gemein­same Geschichte Lembergs und Öster­reichs, „aber es kann natür­lich auch für Kend­linger & Kend­linger stehen, denn das Unter­nehmen gründet ja auf der Arbeit und vor allem auf dem Risiko meiner Frau Larissa und mir“.

Aber zurück zu Beet­hoven: Die über­le­bens­großen Plakate, die während des Festi­vals über ganz Lemberg verteilt sind, rufen im schnellen Vorbei­gehen unwei­ger­lich die Asso­zia­tion zum Titan hervor: grim­miger Blick, wildes Haar, das Hemd hoch­ge­schlossen – der „Look“ ist unver­kennbar. Spielt er mit dem Bild? 

„Dass ich im Denken Beet­hoven nahe bin, das ist logisch. Er war auch ein Revo­luzzer. Ihm waren die Menschen­rechte wichtig, er hat gesehen, was da alles läuft in der Politik. Nicht umsonst ließ er sich von Napo­leon zu seiner Eroica inspi­rieren. Das ist schon alles sehr ähnlich. Ich hab einmal einen Marsch Barack Obama gewidmet – nach einem halben Jahr, als ich gesehen habe, dass er Kriege beginnt, hab ich ihn wieder umbe­nannt. Ich dachte, er sei einer, der Kriege beendet.“

Nein, Scheu vor großen Namen hat er nicht. Aber viel­leicht ist es ja genau diese Mischung, die ihn so anders macht als die anderen, die Intel­lek­tu­ellen, wie er sie nennt, wenn es um die zeit­ge­nös­si­sche Musik geht. Die zeit­ge­nös­si­sche Avant­garde ist defi­nitiv nicht seins – ihm fehlt die Melodie, die Harmonie. „Wir sollten der Schön­heit wieder mehr Wert zuge­stehen. In der Archi­tektur ist es doch nicht anders, da legt man doch auch Wert darauf. Modern, aber schön.“

Und genau da sieht er seine Musik, dort will er sie verorten. „Zeit­ge­nös­si­sche melo­diöse Klassik, damit die Nach­welt sieht, dass wir nicht nur schräge Musik gemacht haben. Was soll es denn, dass ein Klari­net­tist mit einem Fuß in einem Eimer voller Steine rühren muss, wie ich es in einer Konzert­probe der Konzert­reihe musica viva einmal erlebt habe. Wenn wir nur atonale Musik hinter­lassen, werden die Menschen in hundert Jahren sich fragen, was wir hier getan haben. Ob wir alle bescheuert waren…“

Matthias Georg und Maximilian Kendlinger
Matthias Georg Kend­linger mit seinem Sohn Maxi­mi­lian, der in des Vaters Fußstapfen tritt
(Foto: © Chris­toph Ascher)

Und so bewegt sich seine Musik zwischen Jazz, Film­musik und Klassik. Er selbst versteht sich dabei als Brücken­bauer. Nicht nur zwischen den Genres, sondern auch zwischen Musik und Mensch, zwischen Gene­ra­tionen, zwischen Gesell­schafts­schichten. Und obwohl es ihm in der Haupt­sache um die Melodie geht, steckt doch auch immer eine Botschaft in seinen Werken. Mani­pu­la­tion, Der Priester, Heilung, Heimweh und natür­lich Larissa, ein Klavier­kon­zert als Hommage an seine Frau. Fast alle seine Werke beginnen ein wenig düster, mitunter martia­lisch. Und doch weiß er sie am Ende immer aufzu­lösen, die Span­nung, die Bedro­hung, die Fessel. „Das ist mein Ziel: Die Probleme, die ja deut­lich da sind – Mani­pu­la­tion, Menschen­rechte … Wir haben die Macht, sie zu lösen.“ Ein Kompo­nist mit Erlö­ser­syn­drom.

Mit diesem Auftrag löst sich auch für ihn etwas auf: Im Oktober kehrt er zurück nach Erl, das er nach Span­nungen mit dem Gründer Gustav Kuhn verlassen hat. In diesem Jahr zunächst mit der Vorstel­lung seiner Auto­bio­gra­phie „Der verlo­rene Sohn“ vor seinem Besuchs­kon­zert, ab nächstem Jahr mit einem neuen Festi­val­kon­zept. Nun, wo Kuhn seine Ämter beim Tiroler Musik­fes­tival Erl nach heftigen Vorwürfen nieder­ge­legt hat, ist es Zeit, zurück­zu­kehren. Und er wäre nicht Kend­linger, würde er das ohne Vision tun: „Mit ‚« will ich ein neues, ein multi­me­diales Format einführen. Das futu­ris­ti­sche Fest­spiel­haus Erl ist genau der rich­tige Ort dafür, um Klassik und Moderne zu verbinden. Die Idee war, dass ich das „MK Festival Lviv“ mit meiner Musik nach Erl bringen sollte. Ich wollte aber nicht das gleiche Festival dorthin tragen. Das bin ich Lemberg auch schuldig. Man hat dort so lang an mich geglaubt, dass ich das nicht wegziehen will.“

Doch Ideen bezie­hungs­weise Einfalls­lo­sig­keit waren noch nie sein Problem. Und so fühlt er sich buch­stäb­lich beflü­gelt (das Plakat zeigt ihn in einer Collage mit zwei Flügeln, vor denen er steht) und inspi­riert von der Heraus­for­de­rung: „Ich will eine Initia­tive gründen: Fifty-Fifty. Will heißen: 50 Prozent alte Musik und 50 Prozent melo­diöse Klassik unserer Zeit. Außerdem über­lege ich, einen Wett­be­werb auszu­rufen, wo junge bzw. zeit­ge­nös­si­sche Kompo­nisten sich bewerben können und wir in der einen Hälfte des Konzerts ihre Musik spielen. Seit ich im Konzert­be­trieb bin, stelle ich mir die Frage, warum vor 180 Jahren 90 Prozent aktu­elle Musik gespielt wurde und nur zehn Prozent alte, heute spielen wir 98 Prozent alte Musik und nur zwei Prozent zeit­ge­nös­si­sche. Das hat natür­lich damit zu tun, dass man mit der atonalen neuen Musik so gegen die Hörer arbeitet.“ Auch einen Geigen­wett­be­werb will er initi­ieren, zwei Instru­mente à 25.000 Euro wurden ihm schon ange­boten. Am Ende sollen die Preis­träger auch zum Festival einge­reichte Stücke der Kompo­nisten spielen.

Matthias Georg Kendlinger

»Ein gutes Konzert gelingt nur, wenn Publikum und Künstler verschmelzen.«

Da ist sie wieder, seine Mission, die zeit­ge­nös­si­sche Musik hörbarer zu machen. Und vor allen Dingen nahbarer zu machen: „Ein gutes Konzert gelingt doch nur, wenn Publikum und Künstler verschmelzen. Wenn der Besu­cher das Gefühl hat, dass er auf der Bühne ist, dass er Teil des Ganzen ist. Und das wollen wir multi­me­dial stützen – nur sphä­risch. Wenn zum Beispiel eine ruhige Strei­cher­stelle beginnt, würde ich das mit Licht unter­stützen. Auch Videos wird es an der ein oder anderen Stelle geben. Ich will das Grund­kon­zept ja nicht verän­dern oder ein Popkon­zert daraus machen. Aber ich will einen Weg starten, von dem man später mal sagen wird: Okay, ab dem 21. Jahr­hun­dert hat man mal etwas umge­stellt in der Klassik. Und sich der Zeit ange­nä­hert.“ Darüber hinaus ist ihm die Programm-Drama­turgie, die er oft zu zufällig, belang- und effektlos findet, ein großes Anliegen.

Was ihm aber vor allem an Herzen liegt – und da redet er sich in schönstem und kehligstem Tiro­le­risch voller Leiden­schaft ins Thema: Jedes seiner Konzerte soll ein Fest werden. Jeder einzelne Abend. „Schluss mit ‚Ich besuche ein Konzert«. ‚Ich bin Teil eines Fests« muss es sein.“ Deshalb ist sein Pilot­kon­zert in Erl jetzt so geplant, dass der zweite Teil des Konzerts „nur“ ein Fest ist: „Da wird das Streich­sextett mit Akkor­deon spielen, ich werde erzählen, was die Idee ist und wie sich das in Zukunft alles entwi­ckeln soll und kann. Heißt: Ich kommu­ni­ziere mit den Menschen. Der Chor wird ukrai­ni­sche Volks­lieder singen, Wassily spielt Akkor­deon, es gibt Getränke. Der Konzert­gast soll merken: Ich will es ernst­haft betreiben, aber die Über­ernst­haf­tig­keit verlassen. Wenn er nach Hause geht, soll er sagen: super Musiker, super Stim­mung! Und ich war nicht nur Besu­cher, sondern ich habe das Fest auch zu dem gemacht, was es war.“

Es ist alles nicht wirk­lich neu, was er vorhat, der Matthias Georg Kend­linger. Und dann irgendwie doch. Weil er die Menschen erreicht. Weil er eben nicht nur Selbst­dar­steller ist, sondern auch Zweifler. Nicht nur der wahn­sin­nige Tiroler, sondern auch ein lustiger, kommu­ni­ka­tiver. Nicht nur Prophet, sondern wirk­lich ein Brücken­bauer. Und weil er neben dem Musiker immer auch Musi­kant geblieben ist. Das kann man jetzt auch mit der Kriti­kern eigenen Häme schreiben. Man kann aber auch sagen: Chapeau! Da hat einer doch irgendwie alles richtig gemacht.

Matthias Georg Kend­linger: „Violin­kon­zert Galaxy u.a.“, Robert Stepa­nian, K&K Phil­har­mo­niker, Taras Lenko, Maxi­mi­lian Kend­linger (K21)

Matthias Georg Kend­linger: „Der verlo­rene Sohn“. Musik – Brücke zwischen Suche und Erkenntnis“ (Goldegg)

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Weitere Informationen zur Veranstaltung Galaxy of Kendlinger am 30. Oktober 2021 im Tiroler Festspielhaus Erl unter: kkphil.at

 

Fotos: Christoph Ascher