Franz Wittenbrink

Meine Agenda war die Revo­lu­tion!

von Maria Goeth

12. März 2018

Er war Soziologiestudent, ­Maschinen- und Klavierbauer, Müllwagenfahrer und Barpianist, bevor er sich zu einem der berühmtesten Arrangeure von szenischen Liederabenden entwickelte.

Als sechstes von 13 Kindern geboren, war Franz Witten­brink Sozio­lo­gie­stu­dent, ­Maschinen- und Klavier­bauer, Müll­wa­gen­fahrer und Barpia­nist, bevor er sich zu einem der berühm­testen Arran­geure von szeni­schen Lieder­abenden entwi­ckelte.

Crescendo: Herr Witten­brink, Ihre szeni­schen Lieder­abende sind im deutsch­spra­chigen Raum seit Jahr­zehnten eine Sensa­tion. Laufen Sie mit Abenden wie „Männer“, „Sekre­tä­rinnen“ oder „Mütter“ nicht Gefahr, sich in Stereo­typen zu verfangen?

: Den Vorwurf des Klischees kann man jedem machen, der an zentralen Themen andockt. Das Inter­es­sante am Leben ist, dass es oft dem Klischee unglaub­lich nahe­kommt. Meine Idee ist, Klischees zu benutzen, um die Aufmerk­sam­keit zu bekommen, und sie dann zu unter­laufen und auszu­dif­fe­ren­zieren. Eindi­men­sio­nale Figuren gibt es bei mir kaum. Sie haben immer eine Fall­höhe zwischen Wollen und Können. Etwa eine Arro­ganz, hinter der dann plötz­lich der jämmer­liche kleine Junge auftaucht. Deshalb sind bei aller Lustig­keit meine Abende immer auch trau­rige.

Sie haben Ihre musi­ka­li­sche Karriere bei den Regens­burger Domspatzen begonnen, wo Sie auch Miss­brauch erfahren haben. Hat sich das auf Ihre Arbeit ausge­wirkt?

Ich habe mit dem Berliner Ensemble einen Abend über Kindes­miss­brauch gemacht („Schlafe, mein Prinz­chen“). Da mache ich bewusst keine Schuld­zu­wei­sung nach rechts oder links, sondern stelle klar, dass das ganze Ideo­lo­gie­ge­quat­sche meis­tens ein Ablen­kungs­ma­növer ist. Der erste Teil geht um die Domspatzen, die nicht explizit genannt sind, aber es spielt in einem goti­schen, über­mäch­tigen Dom. Im zweiten Teil geht es um die Oden­wald­schule – also zwei ganz konträre Ideo­lo­gien: einmal der katho­li­sche Hoch­kon­ser­va­tismus, zum anderen die linke Vorzeig­ei­dylle zur Befreiung der Mensch­heit. In beiden sind die Kinder geknechtet, kaputt­ge­macht und verge­wal­tigt worden – mit der glei­chen Verlo­gen­heit gegen­über den Eltern und den glei­chen sozialen Abstu­fungen. Auch an der Oden­wald­schule wurden nicht die Kinder von Weiz­sä­cker und anderen Promi­familien zu den Sexwo­chen­enden gezwungen, sondern die Sozi­al­fälle, bei denen die Eltern glück­lich waren, dass die Kinder über­haupt die Schule besu­chen konnten. Bei uns bei den Domspatzen war das genauso: Ich bin zwar nackt verprü­gelt worden, was semi­se­xuell ist, musste aber keine harten sexu­ellen Hand­lungen ausführen, weil ich der Neffe des baye­ri­schen Minis­ter­prä­si­denten war.

„Meine Idee ist, Klischees zu benutzen“

Und jetzt? Ihre Haltung zur aktu­ellen #MeToo-Debatte?

Das ist relativ einfach! Der große Fort­schritt, der geschehen ist, nachdem dieser Teil der Kindes­zer­stö­rung öffent­lich disku­tiert worden ist, ist die höhere Sensi­bi­li­sie­rung. Egal ob im Verhältnis Mann/​Frau, Mann/​Kind und Gewalt oder Sexua­lität, die Konstel­la­tion und die Gefahr werden bleiben. Aber es ist ein Unter­schied, ob ich als Kind zaghaft versuche zu sagen: „Da hat der Herr Pfarrer aber dies und jenes mit mir gemacht!“ oder ob man mir heute wirk­lich zuhören würde. Heute wüsste ich, dass ich eine Möglich­keit habe, da raus­zu­kommen! Das ist in der #MeToo-Debatte dasselbe. Ich gehöre nicht zu den Anar­chisten, die sagen, es gibt eine macht­freie Gesell­schaft. Eine Gesell­schaft von vielen Millionen Menschen kann ohne Macht­struk­turen über­haupt nicht exis­tieren! Gleich­zeitig hat Ballung von persön­li­cher Macht und Abhän­gig­keiten auto­ma­tisch und immer die Gefahr der Ausnut­zung – ob sexuell oder, wie das viele Regis­seure machen, durch die Vernich­tung eines schwä­cheren Schau­spie­lers, um den anderen zu demons­trieren, wie stark man ist.

Sie kommen aus einem sehr katho­li­schen, CSU-nahen Eltern­haus, traten später aus der Kirche aus und waren Mitbe­gründer des Kommu­nis­ti­schen Bunds West­deutsch­lands. War das echte Ideo­logie oder eine Art „Dagegen“-Haltung?

Franz Wittenbrink
Foto: privat

Ideo­logie ist eines meiner großen Lebens­themen. Mit dem Katho­li­zismus bin ich aufge­wachsen. Mit dem Älter­werden denkt man nach und bekommt den Verdacht, dass er dem Wohl des Menschen gar nicht so nah ist. Ich habe die Kirche nicht als menschen- und kinder­freund­liche Insti­tu­tion erlebt. Und über die Frage von Schuld, Sünde und Gottes Exis­tenz kann man ohnehin streiten. In den Kommu­nismus bin ich frei­willig geraten. Davon waren mindes­tens 80 Prozent freu­digst aufge­nom­mener Zeit­geist. Man kommt aus einer verklemmt katho­li­schen Familie, macht Abi 1968 zur Hippie-Zeit – was für ein Spaß! Meine Freundin und ich haben uns mit Plaka-Farben als Ganz­kör­per­skulptur im Niki-de-Saint-Phalle-Stil bemalt. So sind wir bunt bemalt und fast nackig und bester Laune durch die Fußgän­ger­zone in gelaufen. Die Omis sind vor Schreck fast in Ohnmacht gefallen. Da war Euphorie, Spaß und Spiel.

„Ideo­logie ist eines meiner großen Lebens­themen“

Das änderte sich dann?

Schlimm wurde es, als sich die Bewe­gung in ein paar Rest-Hippies und die Leni­nisten, Stali­nisten und andere kommu­nis­ti­sche Pseudo-Parteien aufspal­tete. Da wurde es menschen­feind­lichste Ideo­logie. Für die Leute in den Folter­kel­lern ist es egal, ob sie von rechts oder links kaputt­ge­macht werden. In den letzten drei Jahren beim Kommu­nis­ti­schen Bund West­deutsch­lands war ich schon in innerer Oppo­si­tion, hatte aber ein schlechtes Gewissen, weil ich so viele Leute rein­ge­quatscht hatte. Dann wollte ich möglichst viele Leute aus dieser Sekte raus­bringen, das ist mir nicht gelungen. Die Realität hat nicht inter­es­siert. Wir mussten Berichte schreiben, wie revo­lu­tionär die Betriebe sind und wie faschis­tisch der Staat ist, denn dann war der Zusam­men­bruch des Kapi­ta­lismus nah. Es gab von den Radi­kalen-Erlass im öffent­li­chen Dienst. Daraufhin haben wir die Lehrer gezwungen, kommu­nis­ti­sche Volks­zei­tungen in der Schule zu verkaufen, damit sie raus­fliegen und wir Märtyrer haben. Das brau­chen alle! Das ist das Dilemma an Europa. Europa hat keine Märtyrer, keine Führer, keine Opfer. Deshalb inter­es­siert das keinen Menschen, obwohl ich es für einen der größten Fort­schritte seit Menschen­ge­denken halte.

Zum Kommu­nismus kamen Sie im Bundes­wehr­knast?

Der Fähn­rich gab mir ein Kommu­nis­ti­sches Mani­fest, und mir schien es, als würden mir Schuppen von den Augen fallen.

Warum waren Sie über­haupt im Knast?

Ich war rebel­lisch, habe immer den Gehorsam unter­mi­niert. Zum Beispiel habe ich bei Schieß­übungen immer dane­ben­ge­schossen und nur aus Trotz die letzten drei haar­genau versenkt. Beim Marschieren machte ich immer die gegen­läu­fige Armbe­we­gung zum Rest der Truppe und sagte zum Spieß: „Ich bin unmu­si­ka­lisch und weiß nicht, wie man richtig geht!“ Und nachts auf den Klein­druck­ma­schinen der Kaserne haben wir Flug­blätter gegen die Nato geschrieben, weil wir sie kriegs­trei­be­risch fanden – auf bundes­wehr­ei­genem Papier!

„Wir Flug­blätter gegen die Nato geschrieben“

Würden Sie sich heute als Sozi­al­de­mo­krat bezeichnen?

Dieser Begriff ist zu sehr konta­mi­niert. Ich gehöre zur radi­kalen Mitte! Ich will eher dazu beitragen, dass die Mensch­heit ein Vergnügen daran findet, ohne Märtyrer auszu­kommen. Man muss nicht so verna­gelt sein, dass man immer erst mal ein paar Menschen töten muss, damit eine Idee ein Funda­ment kriegt.

Versu­chen Sie, diese Demo­kratie-Idee selbst umzu­setzen?

Inner­halb des Thea­ter­schaf­fens versuche ich das sehr stark. Zwar braucht es im Theater eine gewisse Führung, aber ich versuche nie, mit Gewalt Dinge durch­zu­pressen. Mein Weg ist nicht die Ansage, sondern die Verfüh­rung!

Ist Theater nicht per se eine Enklave des Tota­li­ta­rismus?

Das stimmt, und es hat auch in gewisser Weise seinen Sinn.
Wenn ich ein Ensemble von sieben Leuten habe und will, dass eine Produk­tion ein Profil und Kanten hat, dann kann ich es nicht demo­kra­tisch orga­ni­sieren, weil sieben Menschen sieben verschie­dene Geschmä­cker haben und es sich sonst auf eine gefäl­lige Mitte abschleift.

Und nun ein von Ihnen kompo­niertes Pumuckl-Musical am Münchner Gärt­ner­platz­theater. Ist das nicht Aufspringen auf einen Nost­algie-Zug?

Es gibt eine Möglich­keit, Kinder­stücke so zu machen, dass man auch jenseits der Nost­algie Spaß hat. Beim Pumuckl geht das sehr gut: Er ist eigent­lich ein kleiner Anar­chist mit hohem Lieb­reiz und sympa­thi­schen Schwä­chen, und da er nicht aus der mensch­li­chen Welt kommt, hat er einen Außen­blick. Er hinter­fragt Wörter und Begriffe, geht in Oppo­si­tion. Pumuckl ist ambi­va­lent, eine Figur, die auch für eine Erwach­se­nen­welt sehr span­nend ist.

Fotos: privat