Moritz Eggert über Grenzenlosigkeit
Musik kennt keinen Rassismus!
von Moritz Eggert
18. Oktober 2017
Musik überwindet alle Grenzen, heißt es immer wieder. Dieses Konzept hat gerade heutzutage, während sich Europa zunehmend abschottet, einiges an Sprengkraft.
Musik überwindet alle Grenzen, heißt es immer wieder. Dieses Konzept hat gerade heutzutage, während sich Europa zunehmend abschottet, einiges an Sprengkraft. In der europäischen Kulturgeschichte spielt Musik eine große Rolle, gleichzeitig wurde die Musik Europas weltweit in andere Länder verbreitet, durch Missionare, durch Kolonialismus und auch – man kann dies nicht beschönigen – durch schlichten Kulturimperialismus, der örtliche Musikkulturen verdrängte. Dies gibt uns immer wieder die (falsche) Illusion, dass unsere Art der Musik die einzig gültige sei, dass es eherne Gesetze der „modalen Tonalität“ oder der „klassischen Harmonielehre“ gäbe, die auch bitteschön im Regenwald oder auf Bali gültig sein müssen, was natürlich nicht der Fall ist.
Faszination des Fremden
Dabei vergessen wir gerne, dass unsere europäischen Musikgeschichte gar nicht so existieren würde, hätte es nicht zahlreiche entscheidende Fremdeinflüsse gegeben. Kultureller Austausch findet meist beiderseitig statt. Die für die Entstehung der Polyphonie so wichtige Tradition der gregorianischen Choräle geht zum Beispiel auf jüdische Ritualmusik zurück, die von den frühen christlichen Gemeinden adaptiert wurde. Es gäbe kaum Schlaginstrumente und wesentlich weniger Rhythmus im klassischen Orchester, hätte es keine Faszination für osmanische Janitscharenmusik gegeben, die schon Rameau, Gluck und Mozart zur Nachahmung inspirierte. Impressionismus in der Musik mit allen Folgestilen bis hin zu Spektralmusik wäre unvorstellbar ohne Debussys Begeisterung für exotische Gamelanmusik. Ohne Jazz und Ragtime wiederum wäre die gesamte Musikgeschichte im 20. Jahrhundert vollkommen anders verlaufen, was wir letztlich der außergewöhnlichen musikalischen Begabung der aus ihrer Heimat entführten afrikanischer Sklaven zu verdanken haben.
Beethoven, Mozart und Brahms waren „Ausländer“
Dass es diese musikalische Vielfalt gibt, an der wir uns alle erfreuen und die wir auch als für unsere Kultur identitätsstiftend empfinden, ist also dem ständigen Austausch musikalischer Kulturen zu verdanken, keineswegs der Abschottung oder der Isolation. Die großen Metropolen in der Geschichte der klassischen Musik – zum Beispiel Florenz, Venedig, Paris, Wien etc. – waren zu ihren besten Zeiten immer Orte, an denen die unterschiedlichsten Nationalitäten zusammenkamen und auch Chancen fanden. Beethoven und Brahms waren Ausländer in Wien. Und selbst ein Mozart zog nach Wien ins „Ausland“, denn Salzburg war damals quasi noch Bayern, auch wenn man sich damals abgespalten hatte (Damals wie heute bedeutete die Benutzung der gleichen Sprache keineswegs, dass man sich im selben Land befand oder sich mit denselben Werten identifizierte, und natürlich war Bayern damals noch nicht „Deutschland“).
Musikgeschichte ist eine Geschichte der Grenzübertretungen
Und nicht zuletzt begründeten die vielen als „entartet“ deklarierten Komponisten die während der Nazizeit ins Ausland flohen (allesamt auch nach heutiger Betrachtungsweise Flüchtlinge und Asylanten), in den Ländern die sie rettend aufnahmen und die ihnen Chancen gaben, bedeutende musikalische Traditionen. Wo man also hinschaut – die klassische Musik, ja die Musik der Welt in ihrer Gesamtheit ist eine Geschichte der Reisen, der Wanderungen und der Grenzübertretungen. Umso merkwürdiger scheint es also, dass wir ausgerechnet jetzt in Deutschland – in einer Zeit des Wohlstandes und des Überflusses – eine zunehmend nationalistische Sicht entwickeln, in der ausländische Künstler plötzlich misstrauisch beäugt werden.
Aus internationale Konkurrenz entsteht Niveau!
Es ist eine neue Kultur der Missgunst entstanden, die ausländischen Künstlern in unserem Land ihren Erfolg nicht mehr gönnt. Als ich neulich den Stipendiums-Erfolg einer ehemaligen ukrainischen Kompositionsstudentin auf Facebook postete, gab es plötzlich Kommentare wie „Warum hat dieses Stipendium keine Deutsche bekommen können?“, obwohl es sich um ein international ausgeschriebenes Stipendium handelte. Man mag dies mit dem Wahlerfolg einer gewissen Partei begründen, dass plötzlich solche Gedanken ausgesprochen werden. Aber warum der Neid? Kommt hier etwa irgendjemand zu kurz? Es ist richtig: Deutschland ist eines der Länder, welches weltweit Künstlern aus dem Ausland enorme Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Die Studiengebühren sind am untersten Ende des internationalen Standards, es gibt zahllose Preise, Aufenthalts-und Förderstipendien, die keineswegs an die deutsche Nationalität gebunden sind. Sogar die altehrwürdige Institution des „Rompreises“ (Villa Massimo) steht inzwischen Künstlern aller Nationalitäten offen. Und das ist gut so, auch für unsere eigenen Talente, denn nur in dieser Konfrontation mit der internationalen Konkurrenz entsteht ein Niveau, das sich weltweit sehen lassen kann. Unsere Theater, Opernhäuser und Orchester sind, was die Qualität angeht, gerade deswegen im obersten Bereich der internationalen Konkurrenz. Viele der zugereisten Talente versuchen daher auch, in Deutschland zu bleiben, andere wiederum bringen das, was sie bei uns gelernt haben, in ihre eigenen Länder zurück.
Es sind genug Stipendien für alle da!
Eigentlich also eine win-win-Situation. Wir profitieren von der Talentzuwanderung, aber sowohl unsere Kultur als auch unsere Sprache werden zunehmend wichtig im Ausland. Dies wiederum wirkt sich direkt auf den Ruf unseres Landes aus, was wiederum ganz konkrete wirtschaftliche Folgen hat (Industrie, Export, Tourismus), also auch vielen, vielen Menschen zugutekommt, die mit Kultur gar nicht direkt zu tun haben. Gleichzeitig gibt es aber auch eine reiche Landschaft zur Förderung unserer eigenen Talente, die in anderen Ländern ihresgleichen sucht. Von „Jugend Musiziert“ angefangen bis zum Deutschen Musikwettbewerb – ein kurzer Blick auf die Gesamtübersicht „Musikpreise, Stipendien, Auszeichnungen“ auf der informativen Webseite www.miz.de (Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats) zeigt eine fast unüberschaubare Anzahl von Fördermöglichkeiten speziell auch für heimische Künstler. Die müssten sich also auf keinen Fall zu kurz gekommen fühlen. Aber wenn es so etwas wie Neid in der Musikszene gibt (und den gibt es natürlich) so richtet sich dieser zunehmend auf Künstler aus anderen Ländern, die in unserem Land arbeiten. Das ist traurig und vor allem vollkommen unnötig, denn je mehr wir Talente nach Deutschland holen desto mehr werden wir alle davon profitieren, das gilt für Kultur wie auch für Wissenschaft, Forschung und Industrie. Es ist eine Situation die sowohl für die „Zugereisten“ wie auch für uns ein Gewinn ist.
Musikunterricht am Limit
Allerdings gibt es für die zunehmenden Abschottungstendenzen in unserem Land auch Gründe. Während sehr viel Geld in Kulturmaßnahmen zur Förderung von Musik geflossen ist, hat man es versäumt, dieselben Anstrengungen in der Bildung zu unternehmen. So ist Musik-und Kunstunterricht an öffentlichen Schulen zunehmend unwichtig, zusammengekürzt oder marginalisiert, öffentliche Musikschulen operieren am Limit was die Gehälter der Unterrichtskräfte angeht und es gibt weite Schichten der Bevölkerung, in denen nicht mehr aktiv gesungen oder musiziert wird, da unsere Leistungsgesellschaft zunehmend andere Aktivitäten als „wichtiger“ erachtet. Sogar für die Studenten an den Musikhochschulen wird das künstlerische Studium seit Einführungen letztlich unklarer internationaler Standards zunehmend zu einem Abhaken von ECTS-Punkten, anstatt dass man eigenständige Künstlerpersönlichkeiten erzieht. Da fühlt sich mancher abgehängt, und reagiert darauf mit Ängsten anstatt sich über den großen Reichtum unserer Kulturlandschaft zu freuen. Wer der Musik also Grenzen setzt, setzt auch der eigenen Entfaltung Grenzen. Und das werden die kommenden Generationen zu spüren bekommen. Und denjenigen, die jetzt neidisch sind, wird es dann keineswegs bessergehen als vorher – sie werden auch weiterhin das Gefühl haben, dass ihnen irgendjemand in die Suppe spuckt, während sie ohnehin schon nur ihr eigenes Süppchen kochen.