Ricardo Simian

Die Musik­in­stru­mente der Zukunft

von Ricardo Simian

4. November 2020

Plädoyer für eine Weiterentwicklung historischer Musikinstrumente mit neuen Techniken, neuen Materialien und den Möglichkeiten des 3D-Drucks.

„Evolu­tion“ ist ein ganz schön aufge­heiztes Wort! Nicht nur wegen des ewigen Kultur­kampfs darum, seine Bedeu­tung wird auch perma­nent miss­ver­standen. Die meisten verbinden Evolu­tion mit Entwick­lung, implizit also auch mit Über­le­gen­heit und Verbes­se­rung. Dabei ist das Konzept ein anderes: Evolu­tion erklärt einfach nur, wie biolo­gi­sche oder kultu­relle Einheiten sich durch winzige Varia­tionen verän­dern und die geeig­netste über­lebt. Das Geeig­netste muss unter bestimmten Gege­ben­heiten aber nicht das Beste oder Ausge­feil­teste sein. Jeder Homo sapiens darf sich gut und gerne intel­li­genter als ein Krokodil fühlen – eine Spezies, die sich in den letzten 100 Millionen Jahren kaum verän­dert hat. Sperrt man die beiden in einen Käfig, wird trotzdem das Krokodil über­leben, egal wie gebildet der Homo sapiens daher­kommt.

Gewonnen an Tonum­fang, Dynamik und Agilität

Ähnlich hat sich die Evolu­tion von Musik­in­stru­menten voll­zogen, Schritt für Schritt, immer gemessen daran, wie effi­zient sie die ästhe­ti­schen Anfor­de­rungen einer Epoche erfüllten. Grund­sätz­lich haben Musik­in­stru­mente an Tonum­fang, Dynamik und Agilität gewonnen. Ande­rer­seits heißt es, dass sie dadurch an Klang­qua­lität und Charme einge­büßt hätten, dass gerade die Unre­gel­mä­ßig­keiten der frühen Instru­mente beim Spielen chro­ma­ti­scher Passagen kein Makel, sondern eine Berei­che­rung seien, die die Kompo­nisten gezielt einge­setzt hätten. Der Streit zwischen histo­risch infor­mierter gegen­über moderner Auffüh­rungs­praxis ist eine der natür­li­chen Konse­quenzen daraus.

Entwi­ckelt seit dem Mittel­alter

Unab­hängig von Quali­täts­ge­winn oder ‑verlust und ihrer subjek­tiven Wahr­neh­mung, steht fest, dass Musik­in­stru­mente sich seit dem Mittel­alter entwi­ckelt haben. Dieser Prozess lässt sich an den vielen Instru­men­ten­fa­mi­lien und Unter­fa­mi­lien fest­ma­chen, die über­lebt haben oder verschwanden wie die Lebe­wesen in den Stamm­bäumen eines Biolo­gie­lehr­buchs. Trotzdem haben sich die heutigen Musik­in­stru­mente seit Jahr­hun­derten kaum verän­dert. Ihre Evolu­tion scheint wie stehen­ge­blieben. Immerhin konnten sich manche dank der Elek­tri­zität weiter­ent­wi­ckeln, wofür die E‑Gitarre oder das Keyboard promi­nente Beispiele sind. Das Design blieb trotzdem fast unver­än­dert, selbst wenn unter der Ober­fläche Elek­tronik einge­pflanzt wurde. Warum? Gab es keine tech­ni­schen Inno­va­tionen, die eine Weiter­ent­wick­lung erlaubt hätten?

Musikinstrumente aus dem 3D-Drucker
Neue Tech­niken ermög­li­chen es: Blas­in­stru­mente aus dem 3D-Drucker
(Foto © )

Doch! Wir besitzen fast unend­lich viele Mittel, um neue Formen, Ober­flä­chen und Objekte zu kreieren, von denen Stra­di­vari nur träumen konnte. Trotzdem beschränken sich unsere Designs bei Musik­in­stru­menten fast ausschließ­lich auf Formen und Struk­turen, die auch ein Geigen­bauer aus dem Barock hätte fabri­zieren können. Fast jedes Instru­ment hat ausschließ­lich runde, gerade Bohrungen oder Löcher und 90-Grad-Winkel – denn das sind die einzigen Formen, die man mit herkömm­li­chem Zimmer­manns­werk­zeug produ­zieren kann. Sogar die wunderbar schwung­vollen Kurven einer Violine täuschen nur darüber hinweg, dass Decke, Boden und Zargen im 90-Grad-Winkel zuein­ander stehen – genau wie bei einer Schub­lade. Ist das wirk­lich das ulti­ma­tive Design? Haben wir in Bezug auf mögliche Formen von Musik­in­stru­menten schon alles ausge­schöpft und brau­chen keine weitere Evolu­tion? Dann würden Musiker nicht wild darum kämpfen ihre Körper darauf zu drillen, über­haupt über mehrere Stunden spielen zu können. So gut wie jeder Musiker hat schon einmal unter einer Sehnen­schei­den­ent­zün­dung oder anderen Krank­heit gelitten – nur weil er geübt hat.

Musikinstrumente aus dem 3D-Drucker
Streich­in­stru­mente aus neuen Mate­ria­lien und ohne Zwang zum 90-Grad-Winkel
(Foto © Ricardo Simian)

Neue Tech­niken, neues Mate­rial und die Revo­lu­tion des 3D-Drucks geben uns Mittel an die Hand, die für die Musik­in­stru­men­ten­her­stel­lung noch kaum heran­ge­zogen wurden. Das sollten wir schleu­nigst ändern, die Möglich­keiten begrüßen und die nächste Gene­ra­tion von Musik­in­stru­menten erfinden und erkunden – und die bestehenden damit verbes­sern. Die Möglich­keiten sind gren­zenlos! Noch wurden keine syste­ma­ti­schen und reprä­sen­ta­tiven Tests durch­ge­führt zu Bohr­lö­chern, die nicht rund sind, zu geschwun­genen Formen, die rechte Winkel ersetzen oder komplexen Formen, die aus einem Stück gegossen sind. Noch gibt es kein Konzept für perso­na­li­sierte Musik­in­stru­mente, was mit para­me­tri­scher 3D-Model­lie­rung spie­lend möglich wäre.

Neue Wege entde­cken

Im konser­va­tiven Kosmos der Musik pflegen wir Tradi­tion um der Tradi­tion willen. Wir setzen voraus, dass ein „warmer“ Klang nur von natür­li­chem Holz kommen kann, ohne auch nur ein einziges Mal eine der neuen Poly­mere auspro­biert zu haben, die nun auf dem Markt sind und die sich perfekt dafür eignen könnten. So viel wartet darauf, auspro­biert zu werden! Und es gibt nichts zu verlieren: Wenn wir fest­stellen, dass die alten Versionen doch die besseren sind, behalten wir sie einfach, wie wir das seit Jahr­hun­derten tun. Aber wir sollten den Mut, die Offen­heit und auch die Unter­stüt­zung der Insti­tu­tionen haben, um nach einer langen Zeit der Stagna­tion neue Welten zu entde­cken!

(Über­setzt auf dem Engli­schen von Maria Goeth)

Fotos: Ricardo Simian