Nils Mönkemeyer
Am Rande des Abgrunds
von Barbara Schulz
14. März 2021
Nils Mönkemeyer emanzipiert sich mit seinem italienischen Album von der kalkulierbaren Romantik der Bratsche. Zwischen Lust an der Akrobatik und der Freude am Experimentieren spielt er sich frei. Ein Gespräch über Risiko, Perfektion und die Suche nach der künstlerischen Persönlichkeit.
CRESCENDO: Herr Mönkemeyer, es ist nicht zu überhören: Das Thema Ihres Albums ist Italien.
Nils Mönkemeyer: Die Idee dazu kam über ein Originalwerk von Niccolò Paganini für Bratsche und Orchester: Sonata per la Grand« Viola. Bei der er allerdings geschummelt hatte: Es ist eine Sonate für eine fünfsaitige Bratsche, also mit einer e‑Saite, die er extra hatte anfertigen lassen. Aufgrund der Höhe wirkte das ziemlich beeindruckend. Ich wiederum spiele das auf meiner normalen Bratsche, was natürlich viel schwieriger ist.
Klingt ehrgeizig…
Ja und nein. Ich hatte das Stück bereits während des Studiums gespielt und konnte nie etwas damit anfangen. Bis zu einem Erlebnis mit dem wunderbaren Orchester l’arte del mondo, das die Tradition der so genannten Alten Musik pflegt und zum Teil auch auf alten Instrumenten spielt. Ich hatte ein Projekt mit ihnen, und dabei habe ich diesen Paganini auf Darmsaiten gespielt.
Und das hat etwas verändert?
Und wie! Plötzlich habe ich diese Musik verstanden – Jahre später. Bis dahin dachte ich immer, was soll denn das? Es ist so viel Arbeit, und es ist so schwer. Wofür eigentlich?
Vielleicht der Akrobatik wegen?
Es gab wirklich eine Zeit, da war mir flau aus lauter Angst vor solchen Stücken. Weil ich immer das Gefühl hatte, es geht jetzt nur darum, dass ich dieses Kunststück irgendwie vorführe. Und wenn das nicht klappt, dann ist da nichts mehr. Meine ganze Idee, warum ich spiele, hat nichts damit zu tun. Daran kann ich erkennen, dass mein Show-off-Anteil nicht sehr hoch ist.
Was Sie auch auszeichnet.
Darum geht es mir wirklich nicht. Ohnehin ist das bei uns Bratschern ja eher kein Thema. Vielmehr suchen wir immer die Verbindung mit Hoch und Tief, auch klanglich. Schon deshalb war dieses Stück so ein Alptraumstück für mich.
Speziell dieses eine?
Grundsätzlich bin ich auf der Bühne nicht nervös wegen der Bühne als solcher, sondern wegen der Stücke, die ich spiele. Und bei diesem Stück dachte ich jedes Mal: Ich sterbe! Und es wurde überhaupt nicht besser.
Bis zu jenem Tag …
Plötzlich war es weg, plötzlich hatte ich Spaß an diesen klanglichen Experimenten. Und ich habe verstanden, wie sehr Paganini mit Verfremdungen eigentlich das Klangspektrum erweitert hat.
Inwiefern?
Mit Darmsaiten klingt das sehr rau – gar nicht gefällig, auch nicht so süß. Bis dahin hatte ich es immer so furchtbar kitschig gefunden. All das war plötzlich weg, und ich hatte unglaublich Spaß daran.
Es ist keiner der klassischen Paganini-Gassenhauer…
Nein, die Bratscher spielen das auch nicht gern, weil es so schwer ist. Da werden Töne beispielsweise im Flageolett gegriffen und nur ganz leicht angehaucht…
»Wir haben anders aufgenommen als sonst. Es war eher, als hätten wir live gespielt. Also nur durchspielen, kaum Korrekturen. Das war auch für mich das erste Mal, ich hatte noch nie so aufgenommen. Aber ich wollte, dass die Aufnahme frisch klingt.«
Wenn so ein Stück der Ausgangspunkt ist für das Album, wie sieht der Rest des Programms aus?
Das habe ich tatsächlich um dieses Stück herum konzipiert. Es fängt an mit Vivaldi-Konzerten – ein Fagott- und ein Cello-Konzert, die ich arrangiert habe. Dann Variationen von Giuseppe Tartini. Er hat 40 geschrieben, jede davon zeigt, was man alles mit dem Bogen anstellen kann. Also im Grunde sind es Bogentechnik-Variationen: springen, kratzen –vorwärts, rückwärts, seitlich. Alles!
Wohin führt die italienische Reise sonst noch?
Es gibt eine Originalkadenz von Vivaldi, eigentlich für Geige, die ich zwischen den Konzerten spiele. Außerdem zwei kleine Stückchen vom Lehrer von Paganini, Alessandro Rolla, der selbst Geige und Bratsche unterrichtet hat. Sie sind Teil einer großen Manuskript-Sammlung, einer Kladde Rollas, und ich habe die schönsten zwei rausgesucht. Sie markieren den Übergang von der Klassik hin zum Belcanto: eine schöne kleine Brücke von Tartini, also spätes Barock, zu Paganini, der sich ja schon in der Romantik befindet.
Sie gehen aber weiter bis in die Moderne …
Um den Bogen von Vivaldi bis heute zu spannen, habe ich einen Teil der Solo-Kadenz bei Paganini selbst geschrieben, eine andere kommt von Salvatore Sciarrino, ein zeitgenössischer Komponist, der noch lebt. Er hat wunderbar virtuose Kapriolen für Bratsche geschrieben. Davon habe ich eine genommen, weil die sich schön einfügt in den Paganini und zugleich einen Ausblick ins Heute gibt. Und damit stand das Programm.
Mit der „überwundenen“ Angst vor einem Stück scheint da durchaus noch mehr passiert zu sein.
Das ist wahr. Wir haben zum Beispiel anders aufgenommen als sonst. Es war eher, als hätten wir live gespielt. Also nur durchspielen, kaum Korrekturen. Das war auch für mich das erste Mal, ich hatte noch nie so aufgenommen. Aber ich wollte, dass die Aufnahme frisch klingt, weil diese Musik nur so Sinn macht – sie ist nicht so sehr auf Perfektion ausgerichtet.
Das heißt, Sie nehmen kleine Unsauberkeiten in Kauf, weil es die Musik nahbar macht?
Ich habe nicht mehr so viel Angst davor, dass irgendwas nicht richtig ist…
Wobei man von „nicht richtig“ ohnehin nicht sprechen kann, oder?
Nein, aber man kann sehr „poliert“ aufnehmen. Diesen Ton, jene Stelle noch mal und noch mal und noch mal… Natürlich ginge manches noch besser, aber so verliert sich auch, was im Konzert da ist. Nehmen wir den dritten Satz: Da kommt eine Kadenz, die ich improvisiert habe. Das hätte ich mich früher nie getraut…
Was meinen Sie?
Nun, so am Rande des Abgrundes zu spielen. So, dass es auch fast nicht mehr klappen könnte, dass man runterfällt sozusagen. Aber genau so wollte ich dieses Album machen: volles Risiko! Ausdruck vor Schönheit!
Am Rand des Abgrunds?
Ein schönes Beispiel dafür ist die Murini-Variation. Man schmeißt den Bogen sozusagen – das ist das Schwerste. Furchtbar, dieses Ricochet! Aber das alles hat so viel Spaß bereitet. Ich habe einfach alles nicht mehr so ernst genommen.
»Ich hatte diese Lust, klanglich zu experimentieren. Nicht schon wieder das zu wiederholen, was ich immer mache – Melancholie, Melodie. Dunkel, samtig kann die Bratsche immer. Auf diesem Album ist alles hell. Ich wollte mich von Traditionen befreien, an die Wände klopfen, sie runterreißen und schauen, was dahinter ist.«
Vielleicht ist das ja auch eine Frage des Wachsens mit seinem Beruf – die Befreiung aus der Gefälligkeit…
Was mich nervt, ist dieses immer Schöne, die ewige Melancholie. Natürlich hat diese Musik das auch. Aber anders. Es sollte mal nicht das Samtige, die schöne Liedbearbeitung sein. Ich wollte einmal nicht zuerst vom Hörer ausgehen, sondern nur von mir. Und ich hatte diese Lust, klanglich zu experimentieren. Nicht schon wieder das zu wiederholen, was ich immer mache – Melancholie, Melodie… Das mit einem schönen Ton aus der Ecke hervorzuholen, ist kein Problem. Dunkel, samtig, das kann die Bratsche immer. Hier ist alles sehr hell. Ich wollte mich von Traditionen befreien, an die Wände klopfen, sie runterreißen und schauen, was dahinter ist.
Liebt das Publikum die Bratsche nicht gerade für ihren Schmelz? Und da kommt jetzt einer und tanzt auf dem… Nein, galoppiert über den Vulkan!
Vivaldi spricht auch viele an, die nicht nur die Romantik mögen oder nur gefällige Melodien hören wollen. Die gern etwas Rockigeres, Ungewöhnlicheres haben wollen. Bei Paganini erwarten natürlich viele Akrobatik auf dem Instrument, und die liefere ich ja. Daneben ist es aber auch rau. Und das ist dann für ein Publikum, das sich über ein bisschen Rockmusik freut.
In jedem Fall Musik, die hinsichtlich der Technik mehr oder weniger sprachlos macht. Wie viel üben Sie?
Ich könnte schon mehr üben. Aber natürlich habe ich vor dieser Aufnahme geübt, weil ich ja die Idee hatte, nicht Stück für Stück aufzunehmen, sondern alles im Ganzen durchzuspielen und nur da nachzuarbeiten, wo ich nicht mit dem Orchester zusammen bin oder so. Das muss man sich aber erst einmal trauen. Denn so ein Album bleibt. Und das ist schon ein komisches Gefühl.
Es hat natürlich auch mit Selbstbewusstsein und Gelassenheit zu tun – eine Altersfrage?
Ich denke tatsächlich, ich komme in die Jahre, da ich so spiele, wie ich immer wollte. Jetzt kommt die beste Zeit! Die nächsten zehn, 15 Jahre vielleicht. Weil der Körper noch geschmeidig ist und der Kopf besser wird.
Stellen Sie damit nicht die Vergangenheit infrage?
Nein, ich will das, was es an Schönheit gibt, gar nicht negieren. Aber ich habe früher viel zu sehr versucht, alles richtig zu machen. Es gibt ja Musiker, die – quasi im Schwung ihrer Jugend und ohne sich bewertet zu fühlen – einfach so auf den Putz hauen können. Bei mir war das nicht so. Ich war nicht das Wunderkind, das mit 12 in New York, mit 18 hier und mit 25 dort gespielt hat. Bei mir hat es einfach ein bisschen gedauert, bis ich meinen Weg gefunden hatte.
Klingt nach Irrungen, Wirrungen…
Ein wenig. Ich dachte, ich gehe ins Orchester – eine traditionelle Bratscher-Laufbahn. Mit 18 hatte ich nach dem Vorspiel beim NDR in Hannover auch eine Stelle. Ich gab sie nach einem Jahr auf, weil es einfach zu früh war. Ich wollte noch woanders hin. Schließlich spielte ich in München für die Solo-Bratsche vor. Ich kam auch in die letzte Runde, habe die Stelle aber nicht bekommen. Es hieß, mein Spiel sei zu ausgefallen. Zu solistisch, zu persönlich. Es würde sich nicht reinmischen. Ich hingegen fand, dass ich ziemlich gut gespielt hatte. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass das vielleicht gar nicht mein Weg war. Da erst fing ich an zu überlegen.
»Nikolaus Harnoncourt schreibt, wir sollen lernen und lesen und hören, um dann im Moment des Konzerts das alles zu vergessen und uns vom Instinkt leiten zu lassen, der durch diese Ausbildung gewachsen ist. Das ist eine schöne Lebensphilosophie, alles zu tun, um sich weiterzuentwickeln und zugleich auf den Instinkt zu vertrauen.«
War es fehlendes Selbstvertrauen oder hatten Sie gar kein Interesse an einer Solo-Karriere?
Vertrauen in das, was ich musikalisch sagen wollte, hatte ich immer. Auch dass meine musikalische Botschaft wichtig ist, war mir zu jeder Zeit klar. Ich wusste, dass ich auf der Bühne etwas zu erzählen habe, dass mir zugehört wird und dass mir das auch ein Anliegen ist. Bis dahin hatte ich aber immer gedacht, es sei vermessen zu glauben, ich könne Solist werden. Zumal das mit der Bratsche ohnehin selten ist. Damals gab es Antoine Tamestit noch nicht. Es waren nur Tabea Zimmermann, dann Kim Kashkashian und Yuri Bashmed. Kaum jemand spielte solistisch mit der Bratsche. Mir erschien das in meinem Alter so weit weg, dass ich dachte, damit hätte ich nichts zu tun.
Nach dieser Einsicht ging alles aber ziemlich rasant…
Ich habe eher das Gefühl, dass es von diesem Punkt bis heute ein weiter Weg war.
In Jahren gemessen eher nicht. Manche ackern länger an ihrer Karriere…
Natürlich weiß ich, dass mich die Sonne öfter mal beschienen hat. Das alles hängt ja auch an sehr viel Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Dazu kommt Sympathie. Zunächst aber war ich gar nicht gewöhnt, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen und fand es irritierend. Wenn niemand etwas von einem erwartet, ist das Gefühl ein anderes. Erst ist man ein Niemand. Dann geht man irgendwo hin und spielt vor. Läuft es schlecht, hat es jeder bald vergessen. Läuft es gut, ist man eine Überraschung und wird plötzlich angekündigt als der neue Bratschen-Superstar. Das muss man dann auch einlösen. Damit war ich damals erst einmal beschäftigt.
Heute sind Sie 42 und stellen sich selbstbewusst an den Abgrund. Heißt das, Sie sind angekommen?
Ach, es gibt noch so viel zu tun…
Was haben Sie vor?
Ich habe gerade mit William Youn ein Album mit und von der Komponistin Konstantia Gourzi aufgenommen. Es war großartig, weil wir mit ihr im Studio waren und direkt zusammenarbeiten konnten. Auch da gab es wieder eine Situation, in der ich plötzlich dachte: Ach, wir sind ja in der Aufnahme! Ich hatte es völlig vergessen, weil ich so sehr in der Sache war. Und genau das ist es, worum es mir im Moment geht. Mich reinzuwerfen und alles beiseite zu lassen, was mich bremst und rausholt aus diesem Flow. Das kenne ich noch nicht so lange. Ich hatte sonst eher noch eine zweite Bewertungsebene.
Den Kopf?
Genau. Es gibt eine schöne These von Nikolaus Harnoncourt in seinem Buch Musik als Klangrede. Er schreibt, wir sollen lernen und lesen und hören, um dann im Moment des Konzerts das alles zu vergessen und uns vom Instinkt leiten zu lassen, der durch diese Ausbildung gewachsen ist. Das ist doch eine schöne Lebensphilosophie, alles zu tun, um sich weiterzuentwickeln und zugleich auf den Instinkt zu vertrauen.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Nils Mönkemeyer unter: www.nilsmoenkemeyer.com