Nora Gomringer
Goj sein in Deutschland
von Nora Gomringer
5. Februar 2021
Nora Gomringer hat mit dem Schlagzeuger Philipp Scholz Texte von Dorothy Parker vertont und stellt sich der Frage, was jüdisches Leben in Deutschland 2021 bedeuten kann.
„Nice to meet Jew!“ sagt der Satz über der Großbildfläche auf der Startseite der Webpage. Ein Wortspiel, das das Englische in Mitleidenschaft zieht, aber sein Irritationsmoment auf den Punkt genau einsetzt. Wer noch nie wissentlich mit einer Person jüdischen Glaubens den Raum geteilt hat und mal mit Juden statt nur über sie sprechen möchte, der kann beim Projekt „Meet a Jew“ um eine Begegnung anfragen.
Das Konzept dieser Begegnungen ist einfach: Eine Schulklasse kann um jüdischen Besuch bitten und als Folge zwei Menschen empfangen, die Juden sind, Fragen zu jüdischem Leben und jüdischer Religion beantworten können und manchmal auch Gummibärchen mitbringen – wie an anderer Stelle der Webpage augenzwinkernd verraten wird. Seit Monaten wird mir die Aufforderung zur Anmeldung in meinem Facebook-Feed angegeben, so dass ich spüre, hier wird die Werbetrommel gerührt, es gibt Kapazitäten, denn man sieht Bedarf.
Ich frage mich, habe ich Bedarf? Wer in meinem Umfeld ist Jude? Weiß ich wie viele Menschen jüdischer Konfession in meiner Stadt leben, wo die Synagoge steht? War ich in der Schule mit jüdischem Glauben konfrontiert? Ist nicht dann Integration erreicht, wenn man nicht mehr hervorhebt, welche Konfession jemand lebt? Lese ich jüdische Autoren, kenne ich jüdische Künstlerinnen und Künstler? An dieser Frage hake ich ein. Lion Feuchtwanger und Heinrich Heine fallen mir sofort ein, Else Lasker-Schüler, die jüngst verstorbene Ruth Klüger und natürlich Mascha Kaléko. Ich denke an die im KZ Auschwitz ermordete Else Ury, die ganzen Kindergenerationen das „Nesthäckchen“ Annemarie Braun zur besten Freundin werden ließ. Jewiki.de kommt mir in den Sinn, die an Wikipedia angelehnte große online-Enzyklopädie hilft beim Erlangen von Erkenntnissen und Auffinden von Namen zum Beispiel jüdischer Künstler, Wissenschaftler, Politiker.
Natürlich kommen mir der Publizist Michel Friedman und der Dichter-Aktivist Max Czollek in den Sinn, die sich im letzten Chrismon Magazin zu einem Gespräch verabredet hatten, und ich denke an Avitall Gerstetter, Sängerin und lebhafte Gestalt der Sozialen Medien. Ich denke an den Kantor der israelitischen Kultusgemeinde in Bamberg, die Rabbinerin Antje Yael Deusel und an den Hype, den die Miniserie Unorthodox ausgelöst hat, sodass Fans Jiddisch lernen wollten und auch darum herum wieder die Frage auftauchte, wie viele Lehnwörter das Deutsche eigentlich aufweist. Es sind viele. Die Verfilmung von Deborah Feldmans Roman hat ein Bild des chassidischen Judentums vermittelt, das Furcht und Faszination nährt. Goje, so bezeichnen Juden Nichtjuden bisweilen, konnten mit der Serie Spitzen von Voyeurismus befriedigen, schließlich ist der unmittelbare Nachbar ja oft fremder als der unbekannte Australier, mit dem man täglich chattet.
Jüdisches Leben in Deutschland 2021 bedeutet auch, Angst zu haben um jüdische Mitmenschen, Polizeipräsenz vor Synagogen und Altenheimen wie etwa im Frankfurter Osten als gegeben hinzunehmen. Es bedeutet, lesen zu müssen, dass Familien auf dem Gelände von Buchenwald im ersten Schnee des Januars Schlitten fahren. Es bedeutet, einen Edding bei sich zu führen, um Nazi-Symbole in U‑Bahnen und auf Plakaten eigenhändig umzumalen und am 9. November und 27. Januar Stolpersteine zu polieren. Es bedeutet, als Kind der 80er Ephraim Kishon als ersten jüdischen Schriftsteller wahrzunehmen und später im Leben immer noch milde zu lächeln, wenn er erwähnt wird.
Es bedeutet, die eigenen Eltern und Großeltern im Umgang mit dem Thema Vergangenheit zu begleiten. Meine Mutter machte es zu ihrem Lebensthema, ihrem Vater nachzuforschen, der SS-Offizier war und einer der ersten entnazifizierten Ärzte seiner Heimat wurde. Unbeantwortete Fragen danach, was er von der Judenvernichtung im Krieg wusste, was er verschwieg oder was er – der Christ – dann doch nicht mit seinem Gewissen vereinen konnte, quälten meine Mutter und machten sie zu einer versierten Kennerin der Exilliteratur. Sie wollte forschen, wen und was Deutschland verloren hatte durch Mord oder Flucht, und sie war überzeugt, dass aller Esprit und Witz, alle intellektuelle Schärfe und Tradition durch die Judenvernichtung Deutschland abhandengekommen waren und nie mehr ersetzt werden konnten, die Kulturlandschaft von heute nur wie ein krudes Echo einer besseren, reicheren Zeit erscheint.
Von meiner Mutter habe ich die New Yorker Autorin Dorothy Parker ans Herz gelegt bekommen, als ich einen schlimmen Fall von Herzbruch erlitten hatte. Mama verteilte Literatur als Vademecum. Der bissige, lakonische Ton der Parker inspirierte mich früh, härtete mich für manche Lebenslage ab und führte mich immer wieder zu ihrem Werk zurück. Seit sie von Ulrich Blumenbach brillant ins Deutsche übersetzt worden ist, haben mein Duopartner, der Schlagzeuger Philipp Scholz, und ich sie vertont und reisen mit dieser musikalischen Hommage durch die Lande. Witz und Welthaltigkeit ihrer Texte begeistern das Publikum, und sie wird gelesen und geliebt in Deutschland 2021.
Der Zentralrat der Juden wurde in anderer Weise aktiv, als er im Verbund mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Idee zum eingangs erwähnten jüdischen Hausbesuch „Meet a Jew“ entwarf. Es sollten damit Schulen, Bildungseinrichtungen, 2020–2022 vor allem Sportvereine und Universitäten in ihrer Kontaktaufnahme zu jüdischen Menschen unterstützt werden. Denn jüdisches Leben in Deutschland ist nicht ständige Reminiszenz, ist deutsches Leben, ist Alltagsauseinandersetzung und Nachbarschaft, ist Ringparabel, Verletzung, Ignoranz, Hass und Scheitern, um in einem koscheren Restaurant das Ende des Sabbats zu begehen, in der Hoffnung, doch oder einfach immer wieder zueinanderzufinden.
Die Begeisterung für die Amazon Prime-Serie Marvellous Mrs Maisel ließ die beste Freundin meiner Mutter mitteilen, meine Mutter solle sich am Humor und den wunderbaren 50er-Jahre-Kleidern unbedingt erfreuen. Leider starb meine Mutter kurze Zeit nach dieser Nachricht, und ich hatte ihr nicht mehr gezeigt, wie man die App installiert. In den Notizen ihres Handys allerdings fand ich ein Zitat, das sie zeitlebens von einem Kalender in den nächsten übertrug. Es sind Heinrich Heines Anfangszeilen seiner Nachtgedanken: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht (…)“. Gleich darunter steht in ihrer Sammlung von Gedanken ein jüdischer Witz: „Ein glatzköpfiger Mann kann sehr gut aussehen. Mit dem richtigen Hut!“
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