Barrie Kosky, Josef E. Köpplinger u.a.
Wo stecken die echten Operetten-Fans?
von Roland H. Dippel
2. Dezember 2017
Arroganz gegenüber der Operette gehört immer noch zum guten Ton. Dabei ist, gemessen an der Zahl von Neueinspielungen, das Interesse riesig.
Früher waren sie einfach zu finden: Ehrliche Operettenanhänger saßen meist an Orten mit Stadttheatern, die oft mehrere Reißer im Repertoire hatten, vor allem aufs Kassenklingeln kalkulierte Titel. Aber nach mehr Geistestiefe und dem gewissen Etwas verlangende Liebhaber konnten in Großstädten zu Operettenhassern werden, weil sie dort zu oft eine ebenso spießige Mache mit größerer Opulenz erdulden mussten. Der teils schon im Nationalsozialismus aufoktroyierte Kleinbürgergeist schlug im Wirtschaftswunder erst richtig zu, gipfelte in großen Filmen und Anneliese-Rothenberger-Schallplatten. So paradox es klingt: Erst in den letzten Jahren, als Musicals Operetten von den Spielplänen zu verdrängen drohten, wurde die Gattung exklusiv wie in der Weimarer Republik.
Parallel zielten die Geschwister Pfister mit ihrem Weißen Rössl in der Berliner Bar jeder Vernunft auf jene Gruppen, die heute Barrie Kosky mit Die Perlen der Cleopatra oder Clivia in die Komische Oper Berlin lockt. Das hat Erfolg, denn er sprengt die Operettenkonzeption alter Hochburgen wie des Gärtnerplatztheaters München oder der Volksoper Wien: Bei Barrie Kosky gibt es nicht nur den höchsten Glamour, er richtet Operette auch als eigene frivol-frech-faszinierende Säule auf und reißt sie aus der pauschal beschworenen Vielseitigkeit des gesamten Spielplans. Operette wird wieder zur Explosion sexueller Doppeldeutigkeiten, die zu lange unter Ballroben und Blumensträußen versteckt wurden. Das macht Eindruck und erklärt, warum Initiativen zum Beispiel des Theaters Erfurt mit Kálmáns Bajadere und Leoncavallos La reginetta delle rose schon jetzt fast vergessen sind.
Arroganz gegenüber der Operette gehört aber noch immer zum guten Ton. Dabei ist, gemessen an der Zahl von Neueinspielungen – so viele gab es seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr! – das Interesse an unbekannten Titeln riesig. Doch wer hört und sieht das? Opernenthusiasten prahlen mit entlegenen Funden. Aber echte Operettenliebhaber schweigen, weil sie für diese Schwäche belächelt werden. Das gilt nicht mehr für die Wissenschaft, da gibt es so viele Interessenten wie noch nie. So ging es im Freiburger Zentrum für populäre Kultur und Musik jüngst um Operette im Ostblock. Als Gründer einer Bewegung, die Operette vor 1933 als ewige Riesenparty polysexueller Codes feiert, tritt Kevin Clarke nicht nur in LGBT-Gruppen auf. Diese gewinnt unter pfiffigen Intendanzen und Off-Bühnen neue Anhänger – an der Neuköllner Oper etwa, wo das „Pariser“ ein „Berliner Leben“ war. Doch dem traditionsverbundenen Publikum in Dresden, Leipzig und München ist das egal.
Am Gärtnerplatztheater erfreut eine Lustige Witwe mit Weltuntergangsstimmung, aber sonst wie gehabt. An der Musikalischen Komödie Leipzig wird Eduard Künnekes Die große Sünderin von der Kritik als „Nazi-Operette“ vernichtet. Diese Entdeckung im Spannungsfeld von ungewöhnlicher Musik und ideologisch zweifelhafter Entstehung erhielt also keine Würdigung mit fördernder Objektivität. Das könnte man auch als Signal zur ernsthafteren Aufwertung nehmen: Leichte Muse als „Kriegstreiber“-Fanal … Auch weil Die große Sünderin nicht mit jener geschärften Dialektik vorgestellt wurde, die das Werk für heute erträglich macht, zeigt sich wieder einmal: Operette ist viel schwerer als Oper. Sie wird auch nicht einfacher, wenn Ballettherren in roten Röcken bei den Grisetten vom Maxim mitrocken und die Diva den Tod küsst. Genuss ohne Reue oder mit? Das ist die aktuelle Frage an die Operette, die ganz sicher mehr ist als eine mondäne Fun-Apokalypse. Mit der Neubewertung wandelt sich das Publikum, die Ansätze sind spürbar.