Franz Lehár u.a.

Die Operette ist tot!

von Matthias Kauffmann

16. Dezember 2017

Das Diktum vom vermeintlichen Tod der Operette ist so alt wie die Kunstform selbst! Doch wie kann ein Genre, das als Indikator seiner jeweiligen Zeit fungiert, zum Opfer derselben werden?

Die Operette ist ein funk­tio­nales Genre. Sie spie­gelt gewis­sen­haft die Menta­lität derje­nigen Bevöl­ke­rungs­schicht, die sie finan­ziell trägt und für deren Unter­hal­tung sie sorgt. Umso erstaun­li­cher wirkt, dass kaum einer Thea­ter­form öfter der Toten­schein ausge­stellt wurde. Die Operette ist hier einsamer Rekord­halter. Tatsäch­lich ist das Diktum vom vermeint­li­chen „Tod der Operette“ fast so alt wie die Kunst­form selbst! Doch wie kann ein Genre, das als Indi­kator seiner jewei­ligen Zeit fungiert, zum Opfer derselben werden? Der rich­tige Moment für eine morbide Bestands­auf­nahme!

Das Übel beginnt in der Welt der Schwer­me­talle

Konsens besteht in der Annahme einer „authen­ti­schen“ Urform des Genres durch ab 1855 (für wahre Experten kann noch die Ur-ur-Form im Werk Flori­mond „Hervé“ Rongers ins Feld geführt werden; und abso­lute Operetten-Cracks besinnen sich auf die veri­table „klas­si­sche“ Ur-ur-ur-Form ob der Tatsache, dass bereits Mozart seine Entfüh­rung aus dem Serail liebe­voll „Operette“ nannte). Doch das eigent­liche Übel beginnt in der Welt der Schwer­me­talle: So ist die Eintei­lung der Operette in eine „Goldene“ Operette der Ära Johann Strauß (Sohn) mitsamt seiner unüber­troffen frivol-schwung­vollen Fleder­maus (1874), gefolgt von der „Silbernen“ Ära ab Franz Lehárs senti­mental-tänze­ri­scher Lustigen Witwe (1905) bis heute etabliert. Schon hier zanken sich die Gelehrten: weniger über die berech­tigte Frage, ob diese Eintei­lung nicht als altes Propa­ganda-Relikt von den Natio­nal­so­zia­listen stamme – sondern viel­mehr darum, was denn eigent­lich als der konse­quente „bron­zene“ Appendix zu betrachten sei.

Es ist dies höchst­wahr­schein­lich die Operetten(un)kultur im Natio­nal­so­zia­lismus selbst, deren anti­jü­di­sche Säube­rungen der Spiel­pläne gemeinhin als Todes­stoß für das Genre gelten. Doch darf man den Natio­nal­so­zia­listen das Recht zuge­stehen, ein ganzes Genre ermordet zu haben? Das hieße doch, ihnen den „Erfolg“ ihrer Verbre­chen bis zum heutigen Tage zuzu­ge­stehen. Als nüch­terne Tatsache ist aller­dings fest­zu­halten, dass die Operet­ten­kon­junktur nach 1945 zu einem Ende gelangte: Das funk­tio­nale Genre signa­li­sierte Erschöp­fung; die „Stunde Null“ brachte auch das Genre an seinen Null­punkt. Ob man dies als Todes­zeit­punkt fixiert und damit sämt­liche aktive Operet­ten­schaf­fende zu Leichen­schän­dern degra­diert, obliegt dem persön­li­chen Geschmacks­ur­teil.

Bereits seit ihrer Urstunde wurden der Operette die Ster­be­sa­kra­mente gereicht

Tatsäch­lich wurden der Operette bereits seit ihrer Urstunde die Ster­be­sa­kra­mente gereicht. So gebe es laut Diagnose des Wissen­schaft­lers Michael Klügl bereits im Œuvre Offen­bachs eine begin­nende „Disso­zia­tion“ der Operette von der ursprüng­li­chen witzig-sprit­zigen Drama­turgie der „Offen­ba­chiade“ – denn „mit La Vie pari­si­enne (1886) eman­zi­pierte sich das Genre gleichsam von der großen Oper und gab sich ein eigenes Maß. Seit diesem folgen­rei­chen Einschnitt, der sich in zuse­hends häufi­geren Kopf­be­mer­kungen der Libretti – ‚spielt in der Gegen­wart‘ – doku­men­tiert, ist vom Verfall der Operette oder vom goldenen, silbernen oder bron­zenen Zeit­alter des Genres die Rede“. Dieser Stand­punkt mag das kurz­at­migste Todes­ur­teil darstellen – und das gefähr­lichste dazu: Denn die Voll­endung eines kultu­rellen Prozesses bereits an seine vermeint­lich perfekte Geburts­stunde zu binden, verun­glimpft pauschal jedwede Entwick­lungs­mög­lich­keit.

Doch ist die Diagnose des „post-Offen­bach­schen“ Dauer­ver­falls – die Frère Jacques wohl als Aller­letzter unter­schrieben hätte – erst einmal etabliert, so rollt sie munter durch die Operetten-Puszta: Großer Beliebt­heit erfreut sich die Theorie, dass die Verla­ge­rung der Operet­ten­szene vom rauschenden Paris ins kaiser­lich gedie­gene ihre Ster­be­stunde beför­dert habe. Gemeinhin ist in Wien nur das – oder der – Tote gut. Mithin erweist sich laut Volker Klotz, dem Doyen moderner Operet­ten­for­schung, der beliebte Zigeu­ner­baron (1885) als toxisch: Könne noch Strau­ßens Fleder­maus aner­ken­nend eine große Nähe zur Offen­ba­chiade attes­tiert werden, so sei das zuvor genannte Werk der „kardi­nale Sünden­fall der Gattung“, welcher zu ihrem Nieder­gang beigetragen habe: Der Zigeu­ner­baron expo­niere „vater­län­di­sches Blut­ver­spritzen und trut­ziges Pa­tricharchat, Heimat­kult und Tracht­en­glück“ und fungiere mithin „als bedenk­liche Wegscheide für spätere Fehl­ent­wick­lungen der Gattung Operette“.

Im Natio­nal­so­zia­lismus zeigt sich die gefähr­liche Ideo­logie von Nost­algie

Damit wären bereits die Grund­vor­aus­set­zungen der „Silbernen Ära“ vergiftet: Pessi­mis­tisch betrachtet erscheint diese als nost­al­gi­sche Zeit­kapsel in der dahin­sie­chenden Monar­chie, um dem Publikum eine kultu­relle Ster­be­be­glei­tung für ein poli­ti­sches System zu bieten, das sich sukzes­sive von der Bild­fläche verab­schiedet hatte. So weit ein weiteres gängiges Erklä­rungs­mo­dell: Anhand der „silbernen“ Operette sei eine thea­tral über­mit­telte Vergan­gen­heit verspottet worden. Gerne wird die Hinwen­dung nament­lich Franz Lehárs und Emme­rich Kálmáns zu tragi­schen Operet­ten­hand­lungen und schwer­mü­tigen Melo­dien mit dem Nieder­gang des Genres asso­zi­iert, erscheinen sie doch in ekla­tantem Wider­spruch zur Offen­bach­schen Urform.

Neben solchen inneren Auflö­sungs­er­schei­nungen drohte spätes­tens in den „Goldenen Zwan­zi­ger­jahren“ das Garaus von außen: Moderne Medien, nament­lich das Kino mit seiner rasanten Filmschnitt­ästhetik sowie güns­tigen Eintritts­preisen für die gesamte Bevöl­ke­rung, wurden für den „Premi­um­ar­tikel Operette“ lebens­be­droh­lich. Doch was tat das funk­tio­nale Genre? Es passte sich an! Flugs geboren war die moderne, cine­as­ti­sche Revue­ope­rette, die von den Vertei­di­gern der Offen­ba­chiade als endgül­tiger Selbst­mord des Genres geschmäht wurde – von den Natio­nal­so­zia­listen aus rassen­ideo­lo­gi­schen Gründen erst recht. Hier zeigt sich die gefähr­liche Ideo­logie von Nost­algie: Die NS-Kultur­po­li­tiker prokla­mierten nun die „goldene“ Operet­tenära als vermeint­lich bewah­rens­werte Urform des Genres, salbten Johann Strauß (Sohn) zu ihrem Messias – und Franz von Suppé als Ersatz-Offen­bach zu einer Art Johannes dem Täufer. Tödlich, das alles!

Wann starb sie nun also wirk­lich, die Operette? Man suche sich nach Belieben eines der genannten Zeit­fenster aus, sofern nicht dazu tendiert wird, sie in Gänze als Totge­burt zu verdammen – oder doch als unsterb­lich zu feiern. Wie das Sprich­wort weiß: Totge­sagte leben länger! So darf es nicht verwun­dern, dass die Operette als quick­le­ben­dige Kunst­form noch immer die inter­na­tio­nale Thea­ter­land­schaft berei­chert und durch ihr Tempo, sublime bis deftige Erotik und gera­dezu anachro­nis­ti­schen Schwung das neue Jahr­tau­send aus dem Hinter­halt über­rascht.

Fotos: Seefestspiele Mörbisch / Ali Schafler